Zitate zu "Veränderung(en)"
-
Ernst Ferstl
Es ist endlich soweit: Wenn alles beim alten bleibt, stehen uns radikale Veränderungen ins Haus.
-
Ernst Ferstl
Ohne den Mut zu weitreichenden Veränderungen wird jeder Weiterentwicklung das Wasser abgegraben.
-
Iring Fetscher
Die stärksten seelischen Motive für eine Veränderung der Welt stammen heute nicht - wie Marx annahm - aus der Unfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise, bis zur Befriedigung aller Bedürfnisse zu expandieren, sondern aus ihrer Unfähigkeit, befriedigende Formen der Produktion und glückverheißende Formen der zwischenmenschlichen Beziehungen zuzulassen.
-
Michael Fleischhacker
Wir arbeiten nach den in erster Linie optischen Veränderungen des vergangenen Jahres an einer Weiterentwicklung der "Presse" zu einem "Erklärungsmedium".
-
Henry Ford
Versagen ist eine Gelegenheit, noch einmal intelligenter anzufangen.
-
Dr. Viktor Emil Frankl
Mensch sein heißt, sich verändern zu können.
-
Milton Friedman
Als Geld noch vorwiegend aus konkreten Rohstoffen wie Gold und Silber bestand, waren neue Funde und Fortschritte in der Technik Hauptursache für Veränderungen der Geldmenge.
-
Max Frisch
Fragwürdig wie alles, was wir treiben, ist auch die Selbstkritik. Ihre Wonne besteht darin, daß ich mich scheinbar über meine Mängel erhebe, indem ich sie ausspreche und ihnen dadurch das Entsetzliche nehme, das zur Veränderung zwingen würde.
-
Mohandas "Mahatma" Karamchand Gandhi
Der Wandel, den du in der Welt sehen willst, der musst du selber sein.
-
Mohandas "Mahatma" Karamchand Gandhi
Wir müssen die Veränderung sein, die wir in der Welt sehen möchten.
-
Joachim Gauck
"Alles bleibt in Bewegung." Diesen Satz habe ich in der Ankündigung zum diesjährigen Zeitungskongress gefunden und dachte mir: Ach, das passt! Besser kann man kaum auf das Thema Transformation der Medienwelt hinweisen. Wenn alles in Bewegung bleibt, dann darf vielleicht auch Ihr Abschlussredner ein wenig weiterdenken und weiterfragen, statt künstlich so etwas wie einen Endpunkt zu setzen. Offen für den Wandel zu sein, das heißt ja auch: Offenheit aushalten, keine fertigen Antworten erzwingen. Und deshalb bin ich dankbar, dass Sie mich eingeladen haben, hier bei Ihnen zu sprechen. // Um im Bild zu bleiben: Zeitungsverleger zu sein, das ist im Jahr 2013 tatsächlich für einige ein ergebnisoffenes Geschäft. Wenn ich ins Programm schaue, dann ahne ich, dass Sie gerade ausführlich eine Reihe von Schwierigkeiten, Problemen diskutiert haben: den scharfen Wettbewerb am Medienmarkt, die Einbrüche bei den Anzeigen, die Schließung von Redaktionen oder ganzen Zeitungen, die Klippen der Digitalisierung und vieles mehr. // Allerdings: Im aktuellen Jahresbericht Ihres Verbandes sind zugleich Fakten nachzulesen, die auch zuversichtlich stimmen können, die schwarze Zahlen und keine schwarze Zukunft verheißen. Welchen Überschriften darf ich also glauben? - allen, so habe ich es mir sagen lassen. Denn was die einen als existentielle Krise erleben, ist für die anderen eine hochrentable Phase. Hier schließt ein Hauptstadtbüro, dort wächst die "Landlust". Hier verliert eine Zeitung Papierliebhaber, dort geht ein anderes Blatt erfolgreich online. Parallelwelten, so empfinden wir es, tun sich auf. Das Wort Zeitungskrise beschreibt eben nur eine Realität. Deshalb bin ich gern gekommen zu Ihrem Kongress, der einen zweiten, einen genaueren Blick auf die viel zitierte Krise wirft und vor allem: der auch einen Blick nach vorn wagt. // Wie ich gehört habe, stand bislang trotz aller Schwierigkeiten öfter das halbvolle Glas als das halbleere Glas vor den Diskutanten. Das ist gut so, denn apokalyptische Debatten um das Zeitungssterben bringen weder die Verlage, noch die Redaktionen, noch die Leserschaft voran. Im Gegenteil: Wer vom Sterben spricht, der hat ja den Weg in die Zukunft aufgegeben. Stattdessen auf Transformation zu setzen, auf neue Geschäftsmodelle, das ist in meinen Augen nicht romantisch oder weltfremd, sondern eben realistisch. Allerdings werden Sie alle dazu sicherlich Mut brauchen. // Ich wage heute den Satz: Die Zeitung hat eine Zukunft. Ihre Form mag veränderlich sein, vielleicht auch in Frage stehen. Aber ihre wichtigste Rolle für ein tieferes Verständnis und die Weiterentwicklung unserer Demokratie kann und sollte konstant bleiben. Ich meine und ich spreche vom Qualitätsjournalismus. // Qualitätsjournalismus ist nicht an eine bestimmte Form gebunden - etwa an das Papier -, sondern natürlich an Inhalte, an eine Methode, die journalistische Methode. Der Journalismus der Zukunft mag ganz oder auch teilweise anders aussehen und anders funktionieren als heute. Das mag sein. Aber ich bin ganz zuversichtlich: Es wird ihn geben! Denn vieles verändert sich um uns herum, eines jedoch bleibt: Es gibt nicht nur das Bedürfnis nach Unterhaltung, sondern auch das Bedürfnis nach Information. Unser Bedürfnis nach Klarheit und Orientierung, nach verlässlichen Fakten und verständlicher Deutung, das wird fortbestehen, auch weil mehr und mehr Nachrichten ungefiltert auf uns einströmen. // Eine gute Zeitung wird uns deshalb die Zeit, unsere Zeit, erklären. Qualitätsjournalismus ist etwas anderes als eine mit Fotos aufgehübschte Sammlung von Agenturmeldungen oder PR-Texten. Eine gute Zeitung wählt Nachrichten nach Kriterien der Relevanz aus, ordnet sie in Zusammenhänge ein, interpretiert und bewertet sodann das Geschehen. Eine gute Zeitung leistet also genau das, was wir angesichts der Informationsflut dringend brauchen: Sie zeichnet große Linien und vermittelt verschiedene Standpunkte. // Meine Damen und Herren, ich danke jedem Einzelnen von Ihnen, der sich für Qualitätsjournalismus in unserem Land stark macht! Bitte betrachten Sie diesen Dank - neben wenigen kritischen Anmerkungen, die ich Ihnen heute vielleicht zumute - als meine wichtigste Botschaft. Danke für alles, was Ihre Zeitungen unserer Demokratie an Erkenntnis, an Meinungsvielfalt und an Debattenreichtum schenken! // Sie merken, einem Zeitungspessimismus kann ich nicht das Wort reden. Allerdings möchte ich auch nicht in das Gegenteil verfallen, in einen naiven, schönfärberischen Blick auf die Lage. Es stellt sich durchaus die Frage: Ist die wichtige Funktion der Zeitungen für unsere Demokratie durch die Veränderungen am Markt gefährdet? // Ich habe den Eindruck: Die Risiken existieren, sind unübersehbar, weil die Transformation am Zeitungsmarkt die Rolle des Journalismus für unsere Demokratie im Kern berührt. Und mit diesem Kern meine ich genau den Teil von Qualität, der sich nicht in Papiermengen oder Pixeln messen lässt, sondern eine Konstante bei allem Wandel bleiben muss: die Glaubwürdigkeit einer Zeitung. Glaubwürdigkeit, das ist für mich genau das, was eine gute Zeitung ausmacht. Glaubwürdigkeit muss guten Journalismus auch künftig prägen, wenn wir einmal alle Äußerlichkeiten - alle Form- und Formatfragen - beiseitelassen. // Gestatten Sie mir an dieser Stelle einen kleinen Exkurs. Das Miteinander - oder sagen wir: Nebeneinander - von analogen und digitalen Zeitungen ist weit mehr als eine Formfrage, das habe ich jedenfalls so gelernt. Viele Stunden dieser Konferenz waren diesem Thema gewidmet. Gestern Abend habe ich noch überlegt, ob ich mich auf die Debatte um "Pixel versus Papier" als Laie überhaupt einlassen sollte. Kulturpessimismus gehört bekanntlich nicht zu meiner Arbeitsplatzbeschreibung. Jetzt, wo ich in einem Saal voller Experten stehe, möchte ich am liebsten behelfsmäßig ein paar Vergleiche heranziehen, wie Sie es auch in Ihrem Konferenzprogramm getan haben. Unter dem Motto: Die totgesagte Musikindustrie? Es gibt sie noch! Der totgesagte Ladenhandel? Es gibt ihn noch! Was gilt also für die totgesagte Papierzeitung? - Ich gebe zu, mir gefällt der Gedanke, dass auch in vielen Jahren große Leserschaften eine Zeitung anfassen und darin blättern, vielleicht sogar einen klugen Kommentar ausschneiden, wie ich es öfter mache, aufbewahren und bei Gelegenheit daraus zitieren. // Allerdings wäre es töricht, die Technik von morgen mit dem Erfahrungshorizont von gestern zu begrüßen. Gerade das Internet, eine Kulturrevolution im Range des Buchdrucks oder der Dampfmaschine, wird unser Leben weiter verändern und vielleicht viel stärker, als wir es derzeit prognostizieren können. Und: Mit dem Siegeszug des Internets haben die klassischen Medien ihr Informations- und Deutungsmonopol ja offenkundig verloren. Schon jetzt ist die traditionelle Rollenaufteilung zwischen Absender und Empfänger einer Nachricht, zwischen Produzent und Konsument, wie wir sie von der Papierzeitung kennen, online aufgehoben. Schon jetzt werden Nachrichten aller Art in Windeseile verbreitet und zwar weltweit. Schon jetzt fühlen sich Millionen Menschen von der Informationsflut, die so entsteht, fast hinweggespült. Professionelle Kommunikatoren - auch Politiker - investieren viel Kraft, um ihre Botschaft trotzdem an den Mann oder an die Frau zu bringen. Und schon jetzt gibt es Augenblicke, in denen kurze Tweets große Umwälzungen vorantreiben, denken wir nur an den Arabischen Frühling. // Freilich: Wie stark das Internet die Verbreitung und den Stellenwert von Nachrichten beeinflussen wird, können selbst die klügsten Zukunftsforscher nicht vorhersagen, jedenfalls nur bruchstückhaft erahnen. Das Ausmaß des Wandels ist für kaum jemanden absehbar. Manches unterschätzen, aber anderes überschätzen wir wohl auch. Umso mehr lohnt es sich, den Spielraum für Qualitätsjournalismus immer neu auszuloten. // Bei genauem Hinsehen ist ja manche neue Kommunikationsform auch nicht unbedingt eine Konkurrenz für die Zeitung. Es hat sich nämlich herumgesprochen, dass man mit 140 Zeichen keine Grundsatzdiskussion führen, aber gut auf Orte der Debatte - etwa auf Online-Zeitungen - verweisen kann. Außerdem setzt sich die Erkenntnis durch, dass anonyme Schwarmintelligenz zwar mitreißt, aber so manchen Blogger eben auch reinreißt, weil Quellen unklar bleiben und Fakten und Meinungen verschwimmen. Und der Verlust von Klarheit wird in aller Regel auch als Verlust von Wahrheit empfunden. Technisch gesehen kann heutzutage jeder mit wenig Aufwand Nachrichtenmacher sein. Aber was bedeutet das für den professionellen Journalismus? Und was bedeutet es darüber hinaus für unsere Demokratie? // Zumindest mittelfristig kann die ungefilterte, oft emotional getriebene Massenkommunikation im Netz die Zeitung als Quelle nicht ersetzen. Wir werden weiterhin angewiesen sein auf Kommunikation mit Spielregeln, auf Nachrichten, die mit professionellem Ethos gesammelt und erstellt und im Bewusstsein ihrer Qualität rezipiert werden. Eine funktionierende Demokratie braucht verlässliche Berichterstattung. Sie braucht seriöse Einordnung und sachkundige Interpretation des Geschehens. // Glaubwürdigkeit, das ist dabei für mich immer ein Schlüsselbegriff, weil sie unseren Blick von den vielen Veränderungen auf das Wesentliche lenkt. Glaubwürdigkeit, das ist freilich ein Prädikat, das in Sekunden verspielt, aber nur durch Beständigkeit erworben werden kann. Zeitungen, viele Zeitungen jedenfalls, haben es sich über Jahrzehnte, einige sogar über Jahrhunderte erarbeitet. Ich freue mich über jeden Teil dieser gewachsenen Kultur, der heute noch am Leben ist. Im August konnte ich der Hersfelder Zeitung zum 250. Jubiläum gratulieren. Das muss man sich einmal vorstellen. Das hat mich einmal mehr daran erinnert, wie eng die Geschichte der veröffentlichten Meinung mit der Geschichte unserer Demokratie verknüpft ist. Die Zeitungen sind Spiegel unseres Gemeinwesens, in guten wie in schlechten Zeiten. Für mich sind solche Jubiläen auch immer wieder ein Grund zur Freude, weil unser föderal geprägtes Land nicht zuletzt dank seiner traditionsreichen Lokalausgaben die größte Zeitungsvielfalt in Europa aufweist. Einigen Blättern ist es gelungen, ihr größtes Pfund - die Glaubwürdigkeit - erfolgreich auch in der digitalen Welt zu platzieren. Andere suchen noch nach neuen Vermarktungswegen. // Auch ich kann natürlich heute kein fertiges Modell anbieten, aber ich nenne gern einige Mindestanforderungen für die Bürgergesellschaft der Zukunft: "Wir müssen eine freie, unabhängige, vielfältige und qualitätsvolle Presse erhalten. Wir müssen sie uns leisten wollen." So habe ich es vor einem Jahr bei der Verleihung des Theodor-Wolff-Preises formuliert. Und ich glaube, bei diesem Ziel sind wir uns alle hier in diesem Saal einig. Allerdings hat wohl niemand eine Blaupause, wie genau aus dem Sich-Leisten-Wollen ein Sich-Leisten-Können, wie eins aus dem anderen wird. // An dieser Stelle will ich mir eine These erlauben, sehr geehrte Verlegerinnen und Verleger: Wer glaubwürdig ist, der wird Anhänger und Mitstreiter finden auf seinem Weg. Zuerst fallen mir dabei diejenigen ein, die man früher Leserinnen und Leser nannte, die inzwischen User, Friends und Follower sind. Entscheidend ist: Die Mehrheit dieser Rezipienten verhält sich doch kritisch und anspruchsvoll. Darauf setze ich in einer aufgeklärten, bildungsbetonten Bürgergesellschaft. Präzise Informationen und Argumente werden dann immer ihr Publikum finden. // Allerdings will ich nicht verschweigen, dass ich auch heute schon ganz andere Stimmen höre. Wenn ich Menschen frage, warum sie sich für das Zeitunglesen nicht begeistern können, dann antworten viele, dass sie einfach nicht das darin finden, was sie gern lesen würden. Immer mehr junge Leute haben zum Beispiel den Eindruck, dass die Zeitungswelt eine ganz andere Realität beschreibt als die, in der sie leben. Wie könnten Zeitungen solche Gruppen für sich gewinnen? Eine einfache Antwort darauf erkenne ich nicht. Simplifizierung wäre für eine pluralistische Demokratie ohnehin keine oder eine äußerst schwache Lösung. Je vielfältiger die Lebensstile und damit die Erwartungen an den Journalismus werden, desto differenziertere Antworten brauchen wir auf die Kernfrage: Wann lohnt es für beide Seiten - Leserschaft wie Eigentümer - sich eine Zeitung zu halten? // Die Frage, wie genau sich guter, glaubwürdiger Journalismus lohnt und was er für wen wert sein kann, stellt sich gerade für Sie immer wieder neu. Ihre zweite große Gruppe von Verbündeten müssen deshalb auch künftig die Redakteurinnen und Redakteure sein. // Glaubwürdige Journalisten sind das größte Kapital einer Zeitung - mit ihrem Intellekt, mit ihrer Empathie, mit ihrer Neugier oder mit ihrer Diskussionsfreude, manchmal auch einfach nur mit ihrem Namen, der im Laufe der Jahre zu einer ganz eigenen Marke avanciert ist. Gute Journalisten fühlen sich nicht allein dem Eigentümer ihres Mediums verpflichtet, sondern auch dem Gemeinwohl. Sie beleuchten unsere Gegenwart, sie decken Missstände auf und riskieren ja in manchen Ländern der Welt dabei unter Umständen ihre Freiheit oder gar ihr Leben. Wenn sie einem Skandal nachjagen, suchen sie nicht bloß Erregung, sondern letztlich Wahrhaftigkeit. Deshalb prüfen sie die Fakten und hören die Gegenseite. Sie verstehen Erfolg nicht nur als flüchtigen, spektakulären Augenblick. Sie setzen auf langfristigen Erfolg durch Präsenz und Profil, durch Haltung und Hingabe. In diesem Sinne dienen sie der Demokratie. Das sage ich nicht nur als Bundespräsident. Ich sage es vor allem als Leser, der sich lange danach gesehnt hat, dass es diese Art von Journalismus nicht nur in Hamburg oder München, sondern auch in Rostock oder Dresden geben darf. // Deshalb gehört zur Debatte über die Zukunft des Qualitätsjournalismus für mich auch ein Wort über die Beschäftigungssituation von Journalisten. Überall lässt sich beobachten, wie feste Stellen in den Redaktionen mehr und mehr verschwinden, wie freie Mitarbeiter für Zeilenhonorare schuften, wie Volontäre als Redakteure arbeiten, aber dabei Azubilöhne verdienen. Prekäre Arbeit aber, das ist keine stabile Basis für verlässliche Inhalte. Selbst die Festangestellten haben offenbar Anlass, sich wehmütig an die gute alte Zeit zu erinnern. Viele von ihnen würden gern gründlicher recherchieren, öfter nachfragen und präziser texten. Sie sträuben sich dagegen, Masse statt Klasse zu produzieren. Der Zeit- und Kostendruck in den Redaktionen lässt immer weniger Spielraum für aufwendigen oder investigativen Journalismus. Die Streichung der Auslandskorrespondentenstellen ist ein Beispiel dafür. // Immerhin, nach und nach wächst die Erkenntnis: Google kann weder Geist noch Gespür eines Reporters vor Ort ersetzen. Und ich hoffe, dass mit dieser Einsicht ein Gegentrend greifen kann. Denn wo zu kräftig gespart wird, stellt sich oft heraus: Personelle Auszehrung schlägt früher oder später auf die Qualität durch. Und das merken dann die Leser. Es ist also kein Gutmenschengerede zu konstatieren: Langfristig ist eine solide Personalausstattung in den Redaktionen inhaltlich wie auch ökonomisch sinnvoll. // Qualitätsjournalismus und Gewinnorientierung, sie sollen doch bitte keine Gegensätze sein. Hier im Saal klingt das wie eine Selbstverständlichkeit, aber draußen muss man es manchmal erklären. Am besten gelingt das wohl durch Beispiele aus der Praxis, Beispiele, bei denen klar wird: Qualität setzt sich durch. Ein überzeugendes Medienprodukt - sei es eine klassische oder digitale Zeitung - findet auch eine Leserschaft. Ich denke an die vielen renommierten Blätter, die Sie herausgeben. Ich denke an die vielen Preise und Auszeichnungen für gelungenen Journalismus, die Ihre Häuser jedes Jahr als Bestätigung der Verlagsarbeit entgegennehmen können. Ob Hochkultur oder Mühen der Ebene: So vieles, was in Deutschland produziert wird, kann sich sehen, kann sich lesen lassen. // Ich denke auch an Erfolgsgeschichten, die ganz im Stillen wachsen. Regional und lokal passiert das tausendfach, wie wir wissen. Diese journalistische Arbeit an der Basis beobachte ich mit großem Interesse, weil sie all dem so ähnlich ist, was sich Demokraten von lokalen Politikern wünschen: nah bei den Menschen sein, zuhören ohne Überheblichkeit und ohne vorgefestigte Meinungen, dann weitertragen, was die Region bewegt und zum Mittun einladen und Missstände klar benennen. Dabei gilt gleichwohl die alte Journalistenweisheit: In der Kommune fällt es manchmal leichter, den Papst zu kritisieren als den eigenen Bürgermeister. // Es ist und bleibt die hohe Kunst, aus dem Alltag heraus die großen Lebensfragen zu stellen und zu beantworten - im Kleinen das Bedeutende für die Gesellschaft zu erkennen. Denken wir dabei nur an den oft zitierten Kaninchenzüchterverein, der meist despektierlich als Beispiel für erste Reportagen eines Volontärs genannt wird. Derlei Vereine und Initiativen sind es aber, in denen das Leben der Menschen und in denen zum Teil Basisdemokratie stattfindet. Auch dort wird ausgefochten, wer am Sonntag die Wahl gewinnt und ob es wohl hilfreich wäre, nicht nur dem eigenen Garten, sondern auch der Wahlkabine einen Besuch abzustatten. // Welches neue Bild könnte das Klischee vom Kaninchenzüchterverein ersetzen? Ist es vielleicht die multimediale, womöglich international vernetzte Lokalredaktion? Ich gebe zu, für einige Neuerungen fehlt mir noch die Vorstellungskraft. Neulich hörte ich von sogenannten News-Games, Spielen, mit denen zeitungsferne Menschen an Nachrichten herangeführt werden sollen. Kann das funktionieren? Ich weiß es nicht. Wer weiß, vielleicht werde ich im Laufe meiner Amtszeit für ein solches Novum sogar einmal einen Orden verleihen dürfen. // Was das Internet betrifft, so ist schwer vorherzusagen, welche Innovationen uns in zehn Jahren herausfordern werden. Werden wir mehr über die Gefahren und den Missbrauch reden oder über weitere Vertriebskanäle? Die intelligente Verknüpfung von Wort und Bild, von Animation und Moderation kann uns in eine Medienzukunft führen, in der noch mehr Menschen als bisher mit noch besseren Informationen erreicht werden. Das wäre gut für die Medienhäuser - und es wäre gut für die Demokratie." // "Alles bleibt in Bewegung." Zwischen Hoffnung und harter Arbeit ist dieser schöne Satz heute Analyse, Prognose und zugleich Appell: Wenn alles in Bewegung bleibt, dann bin auch ich, dann sind wir alle aufgefordert, uns mutig auf den Weg zu machen!
-
Joachim Gauck
Auf einem Historikertag darf man doch sicher mit einem Kaiser beginnen. Ich beginne mit dem letzten deutschen Kaiser, Franz Beckenbauer. Er erzählt gelegentlich von einem Ereignis, bei dem er selber ausnahmsweise einmal Verlierer war. Es handelt sich um das Vorrundenspiel der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland 1974, genauer gesagt in der Bundesrepublik Deutschland, bei dem die Auswahl der DDR gegen die der Bundesrepublik 1:0 gewann. // Franz Beckenbauer soll dann, wie auch andere Akteure damals, immer sinngemäß gesagt haben: "Ohne die Niederlage gegen die DDR wären wir '74 nie Weltmeister geworden. Denn nur dadurch wurden wir radikal mit unseren Schwächen konfrontiert, die wir dann in der Folge abstellen konnten". Also: Eine schmähliche Niederlage, ausgerechnet gegen die DDR, bereitete für die Mannschaft der Bundesrepublik den großen Triumph, die Weltmeisterschaft vor. // Ich erzähle diese deutsch-deutsche Sportanekdote natürlich, weil sie auf direkte und einschlägige Weise zum Thema passt, das Sie sich gegeben haben, wenn Sie hier auf dem 50. Deutschen Historikertag über Gewinner und Verlierer sprechen wollen. Ich gestehe, dass mich dieses Thema naturgemäß sehr fasziniert, und mich interessiert daran besonders der immer wieder - nicht nur im Sport - zu beobachtende dialektische Umschlag zwischen Sieg und Niederlage. // Bevor ich näher darauf zu sprechen komme, zunächst ein Wort zum heutigen Anlass und zum heutigen Ort: Göttingen. // "In Göttingen schien die Sonne." So beginnt Walter Kempowski in seinem Roman "Herzlich Willkommen" die Kapitel, die von der Studentenzeit des Erzählers handeln. // "In Göttingen schien die Sonne": Dieser oberflächlich so schlichte Satz ist die Überschrift über ein ganz neues Leben für jenen nicht mehr so ganz jungen Erzähler. Als Kind hatte er den Krieg und die Nazizeit erlebt und die Zerstörung seiner - und übrigens auch meiner - Heimatstadt Rostock, er hatte den Verlust allen Familienbesitzes erlitten, und war dann selber von der sowjetischen Besatzungsmacht aus politischen Gründen gefangen und gequält worden, hatte acht Jahre Zuchthaus in Bautzen erlebt, mit Einzelhaft. All das hatte er hinter sich. Und zudem musste er mit der Schuld leben, dass durch ihn auch seine Mutter und sein Bruder in Haft gekommen waren. Kurz: Er hatte selber schon genügend Geschichte, ja, sogar Weltgeschichte am eigenen Leib erlebt und erlitten. // Der kommt nun, Mitte der 1950er Jahre, hierher ins sonnenbeschienene Göttingen, in die bemüht heile Welt der westlich-westdeutschen Nachkriegszeit, um an der Pädagogischen Hochschule zu studieren, unter anderem Geschichte - dort ausgerechnet, wo die Geschichte nicht nur stillzustehen, sondern, wie er findet, gar nicht stattgefunden zu haben scheint: "Göttingen, das war eine Stadt, als wenn nichts gewesen wäre, eine Stadt, so wie man sie in älteren Fotobänden abgebildet sieht, in Brauntönen, Fachwerkgassen im Gegenlicht." // Nun wissen wir heute, dass auch in Göttingen die Zeit nie stehen geblieben ist. Auch das ehemals so beschauliche Städtchen beherbergt heute eine Universität mit bald 30.000 Studentinnen und Studenten. Das wollen wir in diesem Zusammenhang gern erwähnen, und die Universität und die Stadt sind stolz darauf, diesen Historikertag hier mit all den Gästen zu begehen. Ein fast unüberschaubares Programm wartet auf Sie, die rund 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Und dass auch die deutsche und internationale Geschichtswissenschaft gigantische Fabrikationsstätten historischen Wissens und historischer Publikation geworden sind, wird uns bei einem solchen Anlass recht deutlich bewusst. Das alles ist beeindruckend, und ich freue mich, bei Ihnen zu sein und wünsche Ihnen viel Erfolg. // Alles auf Erden ist Geschichte, alles hat Geschichte. Aber was gewinnen wir eigentlich, wenn wir uns damit befassen? Ist es nicht belastend oder gar kränkend, wenn wir uns vor Augen führen, dass nichts denkbar ist ohne ein Vorher, und dieses Vorher, das haben nicht wir, sondern andere gemacht? Lange vor uns sind Entscheidungen getroffen worden, die auch uns binden, obwohl wir nicht dazu gehört wurden. Dazu zählt auch Schuld, die wir nicht selber auf uns geladen haben, an der wir aber heute noch zu tragen haben. // Aber was vor uns geschah, ist oft ja auch Wohltat und Gewinn: Lange vor uns sind die Kämpfe ausgetragen worden, die uns auch heute noch Freiheiten schenken, für die wir selber nicht streiten mussten. Lange vor uns sind die Leistungen erbracht worden, aufgrund derer wir heute Wohlstand, Frieden und Sicherheit genießen. // Es gibt also, auch in den Zeiten der scheinbar generellen Machbarkeit und des Anspruchs auf unbedingte individuelle Autonomie, so etwas wie ein Schicksal, etwas Unverfügbares, von dem sich niemand voll und ganz emanzipieren kann. // Aber genau hier erscheint dann die wirkliche Aufgabe. Zwar sind wir für unsere Vergangenheit nicht verantwortlich, für den Umgang mit ihr aber allemal. Und ist es nicht dieser Umgang, der oftmals darüber entscheidet, wie wir unsere Gegenwart und Zukunft zu gestalten vermögen? // Wir haben zwar unsere Vorgeschichte nicht gemacht, wir können nichts dafür, wie sie verlaufen ist, dafür glauben wir aber, dass wir besser als unsere Vorfahren wissen, was zum Beispiel an ihren Entscheidungen falsch und was richtig gewesen ist. Wir haben - wie wir denken, und sicher oft zu recht - bessere und tiefere Einsichten. Und wir können oft nur den Kopf schütteln über die Einstellungen, Urteile und eben auch über die Entscheidungen von früher. Wir sind sozusagen kognitive Geschichtsgewinner oder vielmehr: Wir könnten es sein, wenn wir bereit sind zu lernen und genau hinzuschauen. // Nehmen wir nur die Beispiele, die die großen Gedenktage des laufenden Jahres bieten, allen voran der 100 Jahre zurückliegende Beginn des Ersten Weltkrieges. In aller Deutlichkeit sehen wir heute, dass damals auf allen Seiten weitgehende Wahrnehmungsverweigerungen geherrscht haben müssen, die bis zu partieller Blindheit gingen. // Heute sehen wir eine Unfähigkeit, Folgen bestimmter Entscheidungen in den Blick zu nehmen. Oder wir erkennen auch heute eine zynische Einstellung der Herrschenden oder Befehlenden gegenüber dem Leid der Untertanen. // Auch erblicken wir eine maßlose Selbstüberschätzung und eine unbedachte Bereitwilligkeit, die Katastrophe in Kauf zu nehmen und das alte Europa eine "Welt von gestern" werden, also untergehen zu lassen. // Extrem unverständlich erscheint es uns heute, dass die Eliten von 1914 den Krieg als reinigendes Feuer empfinden konnten, dass ihr Unbehagen oder ihr Überdruss gegenüber der Moderne positive Untergangsphantasien hervorbringen konnte, ohne dass Einigkeit auch nur über die Konturen einer "neuen" Welt geherrscht hätte. // Ebenso sehen wir heute, um nur ein Beispiel aus einem anderen Zeitabschnitt zu nennen, welche Fehler zum Beispiel die Westmächte vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges gemacht haben: Genannt wird dann oft das Münchner Abkommen mit Hitler. // Aber wissen wir es wirklich besser als die Akteure von damals? Oder wissen wir lediglich mehr, nämlich wie die Geschichte weiterging? Im Augenblick des Geschehens kann niemand die Geschichte des Geschehens selber erzählen. Robert Musil, der im Ersten Weltkrieg Teilnehmer an den so absurden wie barbarischen Dolomitenschlachten war, hielt sarkastisch fest: "So also sieht Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts." // Nur weil wir später dran sind, können wir heute die Geschichte erzählen. Und erzählen heißt ja, einen sinnvollen, plausiblen Zusammenhang zwischen den Fakten und den Ereignissen herzustellen. // Beides ist übrigens wichtig: Wenn die Historiker einerseits penibel und klar Fakten ermitteln und erforschen, Quellen aufsuchen und präsentieren, und wenn sie andererseits Geschichte in Geschichten zu erzählen wissen, die uns Sinn erschließen können durch eine bestimmte Perspektive der Erzählung. Gerade dieses Erzählen kann die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen und auf diese Weise auch ethische und politische Fragen an uns heute stellen. // Dass wir heute vieles genauer sehen können, weil wir später dran sind, das darf uns nicht zu Besserwisserei und Hochmut verleiten. Im Gegenteil: Als kognitive Geschichtsgewinner lernen wir Skepsis und gewinnen die ständige Bereitschaft zur Überprüfung unseres eigenen gegenwärtigen Handelns. Wenn zum Beispiel, wie wir immer wieder feststellen, unsere Vorfahren von Vorurteilen geleitet wurden oder intellektuellen Moden folgten: Mit welchem Recht und mit welcher Sicherheit können wir eigentlich glauben, dass wir nicht selber zeitgeistigen Plausibilitäten oder schlichten Fehlurteilen aufsitzen? Es besteht aber genauso die Gefahr, dass Geschichte ideologisch missbraucht oder instrumentalisiert wird. // Mir ist zum Beispiel in Erinnerung, dass nicht nur Teile der Medien, sondern auch Lehre und Forschung im Westen die Erfahrungen mit der konkreten kommunistischen Herrschaft, die Konstruktion von der Ohnmacht der Vielen und der Übermacht der Wenigen nur unzureichend darzustellen vermochten. // Das gewinnen wir in der Beschäftigung mit der Geschichte: Skepsis und kritisches Bewusstsein. Wenn die Geschichte auch nur selten eindeutige Handlungsoptionen für die Gegenwart bereitstellen kann, die sich aus historischer Erfahrung gleichsam von selber ergeben, so kann sie uns doch vor Selbstgefälligkeit und Unbelehrbarkeit warnen. // Historisch gebildet zu sein, das heißt doch eigentlich: seiner Endlichkeit, seiner Fehlbarkeit und der Offenheit der Geschichte eingedenk zu sein. Wer so historisch reflektiert lebt, der denkt zweimal nach, bevor er handelt, und er bemüht sich, mit Einsicht in das Notwendige zu handeln, mit Rücksicht auf die anderen und mit Hinsicht auf die denkbaren Folgen, auch die sogenannten unwahrscheinlichen. // Eines lernen wir aus der Geschichte auf jeden Fall: Es gibt, und damit sind wir wieder hier, bei Ihrem Thema, es gibt meistens Gewinner und Verlierer. Wir sollten uns nicht lange mit Klagen darüber aufhalten, dass das so ist, sondern fragen: Wie geht der Verlierer mit dem Verlieren, der Gewinner mit dem Gewinnen um? Und auch: Wie verhält sich der Verlierer zum Gewinner und der Gewinner zum Verlierer? // Kommen wir zunächst auf den jungen Mann zurück, der, ohne Zweifel ein Verlierer, schwer geprüft nach Göttingen kommt, wo für ihn, nach all der erlebten Lebensfinsternis, die Sonne scheint. Was macht er hier? Hadert er endlos mit dem unverdienten Schicksal? Sinnt er auf Rache? Reicht es ihm aus, alle Welt seine Verletzungen spüren zu lassen? Nein, so ist es nicht. Er lässt sich ganz auf Neues ein, er ist sehnsüchtig nach neuer Erfahrung, nach Leben, nach Lernen, nach Liebe. Er - und man darf und soll in dem Erzähler Kempowski selber erkennen - er bleibt nicht der Gefangene seiner Vergangenheit. Indem er sie gestaltet, wird er zum Gewinner: Er schreibt die Erinnerungen an seine Gefangenschaft auf, er führt Interviews mit seiner Mutter und mit Verwandten, er sammelt die verlorenen Bücher seiner Kindheit. Er, der schuldlos acht Jahre seines Lebens im Zuchthaus verloren hat, wird später zu einem unermüdlichen Sammler, zum Historiker und Erzähler, zuerst seiner selbst, dann seiner Familiengeschichte, dann der Geschichte der Deutschen in diesem Jahrhundert. // Aus dem Verlierer, aus dem Opfer wird aus eigener innerer Kraft der Schriftsteller Walter Kempowski, der mit dem "Echolot" und der "Deutschen Chronik" ein Werk schafft, das auch international seinesgleichen sucht. Der unter die Räder der Geschichte geraten war, zum Objekt der Mächtigen, hat sich selber zum Schöpfer und zum Subjekt seiner Geschichte und der seines Volkes geschrieben. Sieht so ein Verlierer aus oder - ob zwar gezeichnet und unter die "gebrannten Kinder" zu rechnen - nicht eben doch ein Gewinner? // Was am Beispiel dieses Einzelnen zu zeigen ist, das gilt auch für Nationen, für Völker oder Völkergruppen. Wo steht denn geschrieben, dass Verlierer Verlierer bleiben müssen? Und kommt es nicht tatsächlich alles darauf an, wie im Nachhinein mit der Niederlage umgegangen wird - wie im Übrigen auch mit dem Sieg? // Achten wir beim Nachdenken darüber nicht nur auf bewaffnete Konflikte, sondern auch auf andere Entwicklungen, die von Siegern und Verlierern sprechen lassen. // Da ist zum Beispiel die Geschichte der Industrialisierung. Uns steht einerseits die Rasanz des Fortschritts vor Augen, mit den Eisenbahnen, den großen Fabriken, die allüberall entstehen, den Erfindungen des Funks zum Beispiel, dem Verlegen der ersten Seekabel, und so weiter - und andererseits wissen wir doch alle um die Berichte über das erbärmliche soziale Elend, ob sie nun geschrieben waren von Friedrich Engels über "die Lage der arbeitenden Klasse in England" oder ob es die Protokolle des evangelischen Theologen Johann Hinrich Wichern sind, der über die himmelschreiende Not der Ärmsten in Hamburg berichtete. // Da gab es ohne jeden Zweifel echte Verlierer, und es gab Verlorene und Mühselige und Beladene, Erniedrigte und Beleidigte. Und doch war diese Entwicklungsphase auf lange Sicht ein wichtiger Ausgangspunkt für eine unglaubliche Verbesserung der Lebensumstände für alle, an der viele mitwirkten und die weltgeschichtlich ohne Beispiel ist. Zugespitzt gefragt: Hat ein König um 1800 so leben können wie der durchschnittliche Europäer im Jahre 2014? Nie hat es sich - in diesem Teil der Erde, in dem wir leben dürfen - leichter und angenehmer leben lassen, nie konnten vor allem Krankheit und Armut besser bekämpft werden als heute. Und - schauen wir wieder zurück - durch die sozialistische Arbeiterbewegung, durch christliche Gesellschaftslehre, durch demokratische Parteien und Gewerkschaften haben der Arbeiter und der sogenannte "kleine Mann" Recht, Würde und Stimme bekommen. Ob das Wissen darum, dass das passieren würde, ein Trost gewesen wäre für die damaligen Verlierer der Geschichte, das steht auf einem anderen Blatt, einem Blatt, das ich etwas später gesondert aufschlagen werde. // Gewinner und Verlierer: Manchmal changiert das Bild, der Verlierer sieht wie der Sieger aus oder umgekehrt. // Wir sprechen zum Beispiel in Westeuropa vom Ersten Weltkrieg als der "Urkatastrophe" des Jahrhunderts - und zwar unabhängig davon, ob wir in England oder Frankreich zu den Siegern oder ob wir in Deutschland zu den Verlierern des Krieges gehören. Bei anderen Kriegsteilnehmern aber denkt man ganz anders. // Ich hatte vor kurzem acht Historiker aus acht europäischen Ländern zu einer Diskussionsveranstaltung ins Schloss Bellevue eingeladen. Es ging um die Frage, wie in den verschiedenen Ländern heute an den Ersten Weltkrieg erinnert wird. Dabei wurde vollkommen klar, dass die Polen oder die Tschechen und Slowaken oder auch Serben oder Kroaten, Esten, Letten und Litauer keineswegs von einer Urkatastrophe sprechen, da doch ihre Staaten oder Staatenbünde erst durch den Ersten Weltkrieg und nach dem Zerfall der Großreiche gegründet oder wiedergegründet werden konnten. Die neuen Nationen sind also Gewinner, obwohl die aus ihnen stammenden Soldaten zum Teil oft auf Seiten der Verlierer-Imperien gekämpft hatten. // Und wie geht man mit dem Verlieren um? Nehmen wir unser Land, Deutschland. Der erste Blick nach 1918: Auf der einen Seite spüren die Deutschen damals so etwas wie ein Aufatmen, als mit der Niederlage im November endlich die Republik und die Demokratie kommen. Aber nicht alle haben dieselben Gefühle. Alle aber drücken schwer die Reparationen, die der Versailler Vertrag, der auch von Ressentiment und Rache geprägt war, dem Land auferlegt hat. Und es drückt schwer die als ungerecht empfundene Behauptung, der Alleinschuldige am Krieg gewesen zu sein. Und man glaubt nicht an die Realität der militärischen Niederlage. Man lügt sich das Gegenteil vor und behauptet und tröstet sich mit der Legende: der vom Dolchstoß. // Diese Hypothek, so wissen wir es alle, lastet schwer auf der jungen Republik, bei allem guten Willen und aller aufrichtigen Anstrengung besonnener und überzeugter Demokraten. Zu viele bleiben damals abseits. Trotz "roaring twenties" und großer Aufschwünge in den goldenen Zeiten vergraben sich viele in Gram und hadern verstockt mit dem Schicksal. Andere sind einfach nur verelendet. Die soziale Not der Wirtschaftskrise tut ein Übriges. Rachephantasien wachsen, andere Schuldige werden gesucht und gefunden: mal sind es Juden oder Bolschewisten, für manchen schlicht die Demokratie, die einige Verächter schlicht "das System" schimpfen. Eine Selbstvergewisserung mit klarem Blick für die tatsächlichen Gegebenheiten bleibt größtenteils aus. Von rechts und links wird die schwache Republik angegriffen und verraten. So erobern Hitler und die Nazis ein Land, das nicht mit sich ins Reine gekommen war. // Wie anders geht das Land nach 1945 mit der Niederlage um! Da blieb kein Raum für Lebenslügen wie 1918. Und die, die es versucht haben, sind mit diesem Versuch gescheitert. Militärisch war Deutschland eindeutig besiegt und moralisch, auch nach eigener schmerzhafter Einsicht einiger, später dann vieler seiner Bürger, zutiefst diskreditiert. Weder der Verlust von Gebieten noch Reparationszahlungen führten zu so bedeutenden revanchistischen Kräften, dass sie dauerhaft politisch durchsetzungsfähig gewesen wären. Aber das Land konnte mit der Niederlage auch deshalb anders umgehen, weil es von den Siegern anders behandelt wurde, also schon bald wieder in den Kreis der möglichen, dann der tatsächlichen Partner aufgenommen wurde. Zwar stellen der beginnende Kalte Krieg und die Aufteilung des Landes in zwei Blöcke eine besondere Situation dar, aber zumindest im Westen wurden Chancen geboten, gesehen und ergriffen. // Eine entschiedene Haltung der ausgestreckten Hand seitens der Sieger hat - zunächst für einen Teil unseres Landes - zu einer glücklichen neuen Geschichte geführt. Schon 1944 hatte das Britische Foreign Office für die britischen Soldaten, die nach Deutschland gehen sollten, in diesem Geist einen Leitfaden geschrieben, der noch heute lesenswert ist. Die Haltung lässt sich zusammenfassen in der Aufforderung: Be smart, be firm, be fair. Oder ausführlicher: "Es ist gut für die Deutschen, wenn sie sehen, dass Soldaten der britischen Demokratie gelassen und selbstbewusst sind, dass sie im Umgang mit einer besiegten Nation streng, aber zugleich auch fair und anständig sein können. Die Deutschen müssen selber fair und anständig werden, wenn wir später mit ihnen in Frieden leben wollen." // Ich versage mir an dieser Stelle einen Exkurs darüber, dass die Besiegten der sowjetischen Besatzungszone weder freundliche Sieger noch eine erfreuliche Zukunftsperspektive hatten. Das muss ich auslassen, denn in diesem Falle würde ja der größte Gegner der Historikerzunft, nämlich der Zeitzeuge, auf der Bühne stehen. // Umso größer ist mein Respekt für eine Haltung, die den gegenwärtigen Feind schon als künftigen Partner sieht. Sie verhindert die Perpetuierung von Sieg und Niederlage, von Rache und Vergeltung, und sie wird so einem neuem Krieg oder der Bereitschaft, ihn zu führen, vorbeugen. // Von ähnlicher Art waren im Übrigen die Friedensschlüsse von Münster und Osnabrück, die 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendeten und auch die Friedensordnung des Wiener Kongresses 1815, also vor bald genau 200 Jahren. Man ersparte sich das Aufrechnen, auch die moralische Verurteilung des Feindes. So schuf man, im Gegensatz zu Versailles, eine Friedensordnung, die fast 100 Jahre hielt. Allerdings gab es auch hier neue Verlierer, nun waren sie im Innern der Staaten. Denn die neue Internationale der Fürstenhäuser, die in weiten Teilen die alte geblieben war, sicherte ihren Frieden auch gegen die freiheitlichen Bestrebungen ihrer eigenen Bürger. Ich bin dankbar, dass vorhin die Göttinger Sieben erwähnt wurden - anderer Zeitzusammenhang, aber dasselbe Problem. // Ein anderes Beispiel: Nach 1945 konnte eine Gruppe aus unserer Bevölkerung, die sich nach dem jüngsten Krieg ganz besonders als Verlierer fühlen musste, die Chance ergreifen, zu Gewinnern zu werden. Ich spreche von den Flüchtlingen und Vertriebenen, die zu Millionen ihre Heimat, Haus und Hof, also praktisch alles verloren hatten. Sie hatten eine fundamentale Erfahrung gemacht: Was ihnen blieb, war nur ihr Können, ihre handwerklichen Fähigkeiten, ihr Fleiß, ihr Glaube, ihre Bildung. "Was du gelernt hast, kann dir keiner nehmen!" Diese Erfahrung wurde damals in vielen Familien weitergegeben. Und überdurchschnittlich viele von ihnen haben in der Nachkriegszeit weit überdurchschnittliche Bildungsabschlüsse erzielt. Vieltausendfach sind hier Aufstiegsgeschichten zu erzählen, führte die persönliche Entfaltung sozusagen auf die Gewinnerstraße. // Dennoch, wir wissen es, konnten oder wollten manche den unwiederbringlichen Verlust ihrer Heimat und das erlittene Unrecht nicht akzeptieren. Andere, viele aber, fühlten sich einer besseren Zukunft in neuer Heimat verpflichtet und wurden so zu Wegbereitern der Verständigung mit unseren östlichen Nachbarn - und so noch einmal zu Gewinnern für unser Land. // Von Gewinnern und Verlierern hat man auch im Zuge der deutschen Wiedervereinigung gesprochen. Ich kann das nur sehr bedingt nachvollziehen. Wo für alle Freiheit anbricht, wo für alle Freizügigkeit, Recht und demokratische Mitwirkung ermöglicht werden, wo für alle die Chancen eröffnet werden, sich frei zu entfalten, da kann doch vom Verlieren eigentlich nur reden, wer Privilegien eines Unrechtsstaates genossen hat. // Aber schauen wir genauer hin: Es existieren zweierlei Verlusterfahrungen. Neben der politisch gewollten Ablösung der politischen Eliten und ihres sehr kleinen Herrschaftszentrums musste eine sehr große Zahl Beschäftigter in Funktionseliten der öffentlichen Verwaltungen, des Parteiapparates, von Polizei, Militär und Geheimpolizei in eine unsichere Zukunft überwechseln. Dabei ist weniger der Verlust an materieller Sicherheit als der Verlust einer sich über zwei Generationen herausgebildeten Rollensicherheit von Bedeutung für die Lebensgefühle der Betroffenen. // Und auch wer sich als unpolitischer Zeitgenosse an die Defizite mit der Zeit gewöhnt hatte - und es gab eine ganze Sammlung von Defiziten -, wer sich privat in den berühmten "Nischen" ein lebbares Leben errichtet hatte, war dann, als sich alles änderte, häufig überfordert vom neuen System, reagierte also, wenn nicht mit Ablehnung des Neuen, so doch mit starken Fremdheitsgefühlen - und das besonders natürlich, wenn man seine Arbeit verloren hatte und das Gefühl hatte, nicht mehr wirklich gebraucht zu werden. Aber alles in allem sind die Deutschen und insbesondere die Ostdeutschen insgesamt Gewinner der Vereinigung. // In der Dialektik der Gewinner- und Verlierergeschichte werden immer wieder, wenn wir genauer hinschauen und etwas tiefer blicken, zwei Muster offenbar, die zu den grundlegenden abendländischen Erlebnis- und Erzählmustern gehören und die bis heute prägend sind. Sie haben beide eine religiöse, genauer, eine christliche Wurzel. // Da ist einmal die Geschichte des absoluten Verlierers, der, selber gewaltlos und friedlich, unschuldig verhaftet und sogar hingerichtet wird. Von den religiösen und staatlichen Autoritäten vernichtet. Seine Anhänger verzagt, verstreut, verloren. Doch wenig später entsteht in ihrem Kreis die Botschaft, er sei von den Toten auferweckt worden, also von Gott selber gerechtfertigt, von der höchsten Instanz. In dieser mythosgleichen Geschichte des Jesus aus Nazareth findet der denkbar größte Umschlag von Niederlage in Sieg statt. // Und diese Geschichte, sie trat nun selber einen Siegeszug an: erzählt zunächst von einer kleinen, verfolgten Verlierersekte, erobert sie Schritt für Schritt das römische Weltreich. Es war diese Geschichte und die mit ihr begründete Praxis der Nächstenliebe zu den Verlierern und Verlorenen, die ohne Gewalt, ohne politische Tricks, ohne strategische Planung plötzlich gegen alle anderen Geschichten gewann. Dass das unschuldige Leiden nicht vergeblich erlitten wurde, dass es einen Sinn hat und Rechtfertigung erfährt, das war eine Hoffnung, der sich Menschen seither gerne hingaben und hingeben. // Das andere, korrespondierende Muster der Geschichte vom Verlieren und doch Gewinnen, handelt vom selbst verschuldeten Leid. Diese individuelle Schuld- und Leidenserfahrung kann zu Einsicht, Reifung, dann zu Versöhnung und zu neuem Anfang führen - auch für sie gibt es eine Geschichte in der Bibel, etwa die, die vom verlorenen Sohn handelt. // Ob selbstverschuldet oder schuldlos erlitten: Leid muss nicht sinnlos sein, es kann zu Läuterung, Besinnung, neuem Selbstvertrauen führen. Bis heute lieben wir deshalb Geschichten, ob in Büchern oder Filmen, ob in der Oper oder im Theater, in denen die Helden ein schweres Schicksal erleiden, daran fast endgültig zu zerbrechen drohen und zu scheitern drohen, dann aber, vielleicht geläutert, vielleicht mit neuer Kraft und Stärke, alle Widrigkeiten besiegen und gleichsam wieder auferstehen, aufstehen. // An diese Erzähl- und Erlebnismuster muss ich denken, wenn ich mir und uns die Frage stelle: Was ist nun mit den Opfern, die keine neue Zukunft mehr hatten, was ist mit den wirklichen und endgültigen Verlierern, den Verlierern der Geschichte, die nicht erhöht wurden, die keine Chance zu einer Läuterung bekamen und denen jeder Triumph versagt blieb? Mit den Opfern von Völkermord und Holocaust, von Krieg, was ist mit den Opfern von Naturkatastrophen, Hungersnöten, Epidemien? Mit den unschuldig leidenden Kindern? Was ist mit denen, die ein metaphysischer Trost nicht erreicht, denen die gerade zitierten Geschichten von Tod und Auferstehung fremd oder unglaubwürdig, jedenfalls nicht zugänglich sind? // Hierauf, das weiß ich, können Historiker, aus ihrem Beruf heraus jedenfalls, keine Antwort geben. Die Frage nach dem Sinn von Leid, nach dem Sinn oder der Rechtfertigung von jedem einzelnen Leidenden, jedem einzelnen Opfer, sie kann nicht historisch beantwortet werden. // Aber diese Frage könnte nach meinem Verständnis doch die Geschichtsschreibung durchaus begleiten. Auch wenn die Geschichte, wie man sagt, von den Siegern geschrieben wird, ist doch immer auch die Geschichte der Marginalisierten zu erzählen, der Unterdrückten, der Geschlagenen. Und das geschieht doch auch schon. Es gibt doch schon einen erprobten Perspektivenwechsel. // Geschichtsschreibung kann ihnen keinen Sinn zusprechen, aber Geschichtsschreibung kann ihnen ihre Würde lassen, diesen Opfern, über die wir eben gesprochen haben. Sie kann ihnen ihre Würde lassen oder wiedergeben, wenn sie ihre Stimmen zu Wort kommen lässt oder wenn sie die zum Schweigen Gebrachten in Forschung und Lehre in die Erinnerung einbringt - und in der Schule. // Hier, im Gedächtnis des Leids, liegt jene "gefährliche Erinnerung", wie der Theologe Johann Baptist Metz es nannte und von der er oft so eindringlich gesprochen hat, die wir wieder brauchen, damit sie uns immer wieder beunruhigt und aus jeder Selbstgenügsamkeit aufrüttelt. Er, Metz, formulierte vor nun 40 Jahren für die Synode der deutschen Katholiken die folgenden bewegenden Sätze: "Die vergangenen Leiden zu vergessen und zu verdrängen, hieße uns der Sinnlosigkeit dieser Leiden widerspruchslos zu ergeben. Schließlich macht auch kein Glück der Enkel das Leid der Väter wieder gut, und kein sozialer Fortschritt versöhnt die Ungerechtigkeit, die den Toten widerfahren ist. Wenn wir uns zu lange der Sinnlosigkeit des Todes und der Gleichgültigkeit gegenüber den Toten unterwerfen, werden wir am Ende auch für die Lebenden nur noch banale Versprechen parat haben." // Erinnerung in diesem starken Sinne ist die Erinnerung daran, dass auch unsere Existenz sich dem Opfer anderer, vor uns Lebender verdankt, das nicht vergeblich gewesen sein soll und nicht vergeblich gewesen sein darf. Und dass wir in unserem Leben dazu aufgerufen sind, Leid nach Möglichkeit zu verhindern, Menschen, so es an uns liegt, nicht zu Opfern werden zu lassen. Das kann durch Unterlassen des Bösen geschehen oder durch Tun des Guten. // Etwas liegt mir zum Schluss noch am Herzen, es hat auch mit Gewinnen und Verlieren zu tun. Manchmal frage ich mich, ob die Geschichte nicht dabei ist, über die Gegenwart und über die Zukunft zu siegen. Hat man noch vor nicht allzu langer Zeit anklagend von der" Geschichtslosigkeit" und "Geschichtsvergessenheit" der Gegenwart gesprochen, so scheint mir heute geradezu das Gegenteil zuzutreffen. Unaufhörlich, so sieht es aus, sind wir mit der Geschichte, mit Jubiläen, Gedenktagen, Erinnerungen, Denkmälern oder Denkmalplanungen konfrontiert. Wo ist nur die Zukunft hin? // Oft haben wir den Eindruck, die Zukunft, sie käme sozusagen von allein, und zwar mit rasender Geschwindigkeit, sie sei im Grunde das Werk einiger weniger Ingenieure, Softwarefirmen, Investoren und vielleicht auch noch von Politikern. Dazu kommt das Gefühl: Die Welt ist heute so komplex geworden, dass die Folgen vieler Entscheidungen nicht mehr abzusehen sind. Die gegenwärtigen Krisen tun ein Übriges, um uns ratlos zu machen und viele von uns zu lähmen. // Aber die Zukunft, sie kommt nicht von selbst, früher nicht und heute nicht. Wenn wir uns auch daraufhin einmal die Geschichte anschauen, dann sehen wir, dass - jenseits aller Zufälle und unbeabsichtigten Wechselwirkungen - das meiste bewusst von Menschen gemacht, von Menschen bewirkt worden ist - oder auch von Menschen verhindert. Wer die Hand in den Schoß legt und glaubt, die Zukunft würden schon andere für ihn gestalten, der macht sich selber schnell zum Opfer und wird sehr schnell auf eine ungute Verliererstraße geraten. // Alles, was wir heute so intensiv genießen, Frieden, Freiheit, unseren Wohlstand - was Menschen in so vielen Teilen der Welt so bitter fehlt - ist das mühsam genug erreichte Werk von Menschen. Und es ist zerbrechlich und endlich, wie alles Menschenwerk. Es muss verteidigt, erneuert, wo nötig, neu errungen werden. Es gibt kein Ende der Geschichte. // Wenn die Geschichte keinen Schluss kennt, dann gilt aber auch, dass es nie zu spät ist, gegenwärtiges Leid und Unglück zu wenden. Dann ist Hoffnung sinnvoll, dann kann uns Hoffnung zu entschiedenem Handeln motivieren. // Wir haben es zu einem großen Teil selber in der Hand, ob wir uns im Spiel dieser Welt als Gewinner oder als Verlierer beschreiben können. Wenn die Geschichte auch oft als Lehrmeisterin wenig brauchbar ist: Gute und ermutigende Beispiele, wie aus vermeintlichen Verlierern durch eigenen Mut und eigene Tatkraft, aber auch durch solidarisches Handeln, Gewinner werden können, die gibt es in Fülle. // Meine eigene Lebenserfahrung - und nun meldet sich doch der Zeitzeuge - sie lehrt mich, dass es nicht umsonst ist, sich stark zu machen für eine andere, bessere Zukunft, für eine Veränderung der Verhältnisse. Sicher, so etwas wie die Friedliche Revolution 1989 in Mittelosteuropa und der DDR - so etwas geschieht nicht alle Tage. Aber was wir dort erlebt haben, das bleibt ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass Geschichte selbst in Situationen, die unabänderlich erscheinen, beeinflussbar und gestaltbar ist. // Wir haben es, zu einem Teil wenigstens, auch in der Hand, dass das Spiel dieser Welt weniger Verlierer und mehr Gewinner haben kann. Es liegt auch an uns, ob wir auf Kosten anderer siegen wollen oder ob wir dafür sorgen, dass möglichst viele zu Gewinnern werden. Es liegt auch an uns, dass Verlierer eine neue und gerechte Chance bekommen. Es gehört zu der Verantwortung, zu der unser Land sich in Wort und Tat bekennen muss und bekannt hat, dass Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, in welch mühsamen und kleinen Schritten auch immer, auch und gerade durch unseren Beitrag wachsen mögen. // Die Geschichte gibt uns kein unfehlbares Wissen darüber, was in einer gegebenen Situation richtig ist. Aber wir können aus der historischen Erfahrung ganz gewiss eine Überzeugung gewinnen: Wer sich für Freiheit und Menschenwürde eingesetzt hat, für das Recht und die Gerechtigkeit, für Anstand, für Menschlichkeit, der mag vielleicht eine Zeit lang auf der verlorenen Seite gewesen sein - auf der falschen war er nicht.
-
Joachim Gauck
Der Tag der Deutschen Einheit. Das ist für unser Land seit 25 Jahren ein Datum der starken Erinnerungen, ein Anlass für dankbaren Rückblick auf mutige Menschen. Auf Menschen, deren Freiheitswille Diktaturen ins Wanken brachte, in Danzig, Prag und Budapest. Auf Menschen auch in Leipzig, Plauen und so vielen anderen Orten der DDR, die mit der Friedlichen Revolution die Vereinigung beider deutscher Staaten überhaupt erst vorstellbar werden ließen. Ich begrüße mit besonderer Freude diejenigen unter uns, die damals dabei waren. Wir wären heute nicht hier, wenn Sie damals nicht aufgestanden wären! // Am 3. Oktober denken viele von uns an den Klang der Freiheitsglocke, an die Freudentränen nicht nur vor dem Reichstag, an die Aufbruchsstimmung, die uns beherrschte, ja: an großes Glück. // Aber in diesem Jahr ist doch manches anders. So mancher fragt: Warum zurückblicken? Hat die Bundesrepublik momentan nicht drängendere Probleme, drängendere Themen als dieses Jubiläum? Was können wir feiern in einer Zeit, in der hunderttausende Männer, Frauen und Kinder bei uns Zuflucht suchen? Einer Zeit, in der wir vor so immensen Aufgaben für unsere Gesellschaft stehen? // Meine Antwort darauf lautet, ganz einfach: Es gibt etwas zu feiern. Die Einheit ist aus der Friedlichen Revolution erwachsen. Damit haben die Ostdeutschen den Westdeutschen und der ganzen Nation ein großes Geschenk gemacht. Sie hatten ihre Ängste überwunden und in einer kraftvollen Volksbewegung ihre Unterdrücker besiegt. Sie hatten Freiheit errungen. Das erste Mal in der deutschen Nationalgeschichte war das Aufbegehren der Unterdrückten wirklich von Erfolg gekrönt. Die Friedliche Revolution zeigt: Wir Deutsche können Freiheit. // Und so feiern wir heute den Mut und das Selbstvertrauen von damals. Nutzen wir diese Erinnerung als Brücke. Sie verbindet uns mit einem Erfahrungsschatz, der uns gerade jetzt bestärken kann. Innere Einheit, so machen wir uns klar, innere Einheit entsteht, wo wir sie wirklich wollen und uns dann ganz bewusst darum bemühen. Innere Einheit entsteht, wenn wir uns auf das Machbare konzentrieren, statt uns von Zweifeln oder Phantastereien treiben zu lassen. Und innere Einheit lebt davon, dass wir im Gespräch darüber bleiben, was uns verbindet und was uns verbinden soll. // Auch 1990 gab es die berechtigte Frage: Sind wir der Herausforderung gewachsen? Auch damals gab es - wir haben es schon gehört - kein historisches Vorbild, an dem wir uns orientieren konnten. Und trotzdem haben Millionen Menschen die große nationale Aufgabe der Vereinigung angenommen und Deutschland zu einem Land gemacht, das mehr wurde als die Summe seiner Teile. // Für mich steht die positive Bilanz im 25. Jahr der Deutschen Einheit außer Frage. Auch wenn es zuweilen Enttäuschungen gab, wenn Wirtschaftskraft und Löhne nicht so schnell gewachsen sind, wie die meisten Menschen in Ostdeutschland hofften, und wenn die finanzielle Förderung länger währt, als die meisten Westdeutschen wünschen, so ist doch gewiss: Die große Mehrheit der Deutschen, gleichgültig woher sie stammen, fühlt sich in diesem vereinten Land angekommen und zuhause. Die Unterschiede sind kleiner geworden und besonders in der jungen Generation, da sind sie doch eigentlich gänzlich verschwunden. Deutschland hat in Freiheit zur Einheit gefunden - politisch, gesellschaftlich, langsamer auch wirtschaftlich und mit verständlicher Verzögerung auch mental. // Es ist wieder zusammengewachsen, was zusammengehörte - Willy Brandt hat Recht behalten. Allerdings war der Prozess der Vereinigung deutlich schwieriger, als die meisten in der Euphorie vor 1989/90 glaubten. Beide Seiten hatten sich ihre Eindrücke vom "Drüben" ja lange nur aus der Ferne gemacht. Als wir einander schließlich direkt in Augenschein nehmen konnten, da waren viele Menschen überrascht, einige auch erschrocken. "Alles marode", sagten die einen. "Alles Show", fanden die anderen. // Eins stimmt natürlich: Noch hat der Osten das wirtschaftliche Niveau des Westens nicht erreicht. Gleichwohl, das Bild vom maroden Osten ist inzwischen Vergangenheit. Der äußere Wandel ist überdeutlich in Vorher-Nachher-Bildern darstellbar: hunderttausende von Eigenheimen, sanierte Straßen, Dörfer, Städte, gerettete Baudenkmäler und Kulturstätten, saubere Flüsse und Seen. All die runderneuerten Landstriche, sie geben Anlass zur Freude. Sie sind Zeugnisse einer großen gemeinsamen Anstrengung und Belege dafür, dass auch die Westdeutschen die Einheit als gesamtdeutsche Aufgabe angenommen haben, zeigten sie sich doch von Anfang an solidarisch mit jenen, von denen sie über Jahrzehnte getrennt worden waren. // Ich kann und will dies am heutigen Festtag nicht für selbstverständlich nehmen, sondern ich will es würdigen, ausdrücklich und dankbar. // In diesem Zusammenhang sollten wir uns außerdem bewusst machen, dass auch die Westdeutschen den Ostdeutschen ein Geschenk gemacht haben: mit dem Grundgesetz, das die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt, die Grundrechte sichert, mit einer funktionierenden Demokratie, einer unabhängigen Justiz und einem sozialen System, das die Schwachen auffängt. // Allerdings hat die Einheit den meisten Westdeutschen im täglichen Leben wenig abverlangt, den Ostdeutschen dagegen mit einem enormen Transformationsdruck sehr viel. Das neue Leben im Osten brachte ja nicht nur volle Einkaufsregale, schnelle Autos und bunte Reisekataloge. Es brachte auch die massenhafte "Abwicklung" sogenannter volkseigener Betriebe, brachte damit Massenarbeitslosigkeit und Massenabwanderung. Leere Werksgelände, leere Plattenbauten, leere Schulklassen - all das hinterließ seelische Spuren. Selbst für die Jüngsten von damals, die sich heute als "Wendekinder" bezeichnen, sind dies prägende Erinnerungen, sie sind in ihrem Gedächtnis geblieben. // Für 16 Millionen Menschen änderte sich in kürzester Zeit fast alles. Aber manches - gemessen an den großen Hoffnungen - eben nicht schnell genug. Erst allmählich wurde klar, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse und Mentalitäten in Ost und West eine Aufgabe, ein Prozess von Generationen - ja: Plural! - sein würde. // Schmerzlich mussten wir im Osten erfahren, dass wir Demokratie 1989/90 zwar über Nacht erkämpfen, nicht aber über Nacht auch erlernen konnten. Gestern Untertan, heute Citoyen: was für ein Irrtum! Ohnmacht hatte sich in vielen Köpfen eingenistet. Ohnmacht nach Jahrzehnten totalitärer Diktatur, in denen die Grundrechte der Menschen beschnitten und das eigenverantwortliche Tun gelähmt war, in denen freie Wahlen ein ferner Traum bleiben mussten. So erklärt sich die wohl größte Herausforderung der Ostdeutschen im vereinten Land. Es galt, jahrzehntelange Selbstentfremdung zu überwinden, möglichst im Zeitraffer. Es galt, genau das zu tun, was vorher alles andere als erwünscht war: selbständig zu denken, selbständig zu handeln. Von Freiheit nicht nur zu träumen, sondern Freiheit in der Freiheit tatsächlich zu gestalten. // Trotz aller Schwierigkeiten: Millionen Ostdeutsche haben den persönlichen Neuanfang gewagt und bewältigt, unter neuen Prämissen, in neuen Berufen oder an neuen Orten. Millionen haben die Brüche ihrer Biographien in Zukunft verwandeln können, haben Unternehmen gegründet und Verwaltungen demokratisiert, haben an Universitäten die freie Lehre und Forschung eingeführt, haben Vereine ins Leben gerufen, wo sich vorher der Staat für zuständig hielt. Millionen Menschen haben sich der fundamentalen Einsicht geöffnet: Neue Freiheit bietet neue Möglichkeiten, aber sie verlangt eben gleichzeitig die Übernahme neuer Verantwortung, auch Selbstverantwortung. Besonders diese Veränderungsleistung der Ostdeutschen war enorm. Sie wirkt bis heute nach. // Und genau an dieser Stelle möchte ich einmal Dank sagen all denen, die angepackt haben, die das gemacht haben, was sie vorher nie gelernt hatten: als ehren- oder hauptamtlicher Bürgermeister, als Abgeordneter, als Sekretär einer freien Gewerkschaft, als Verantwortlicher einer demokratischen Partei, als Minister, als Ministerpräsident, gar als Bundeskanzlerin - sie alle hatten niemals erwartet, zu tun, was sie dann taten. Wir schauen heute einmal auf sie alle - und sagen einfach "Danke". // Zu denen, die ich eben aufgezählt habe, gehört auch mancher unserer Gäste. Ich sehe in der dritten Reihe jemanden aus der polnischen Nachbarschaft, Bogdan Borusewicz, heute Senatspräsident der Republik Polen. Damals aber, in der Zeit, über die ich eben gesprochen habe, als wir alle ganz woanders waren, da war er ein unbekannter Mann aus der Mitte des Volkes, der mutiger und früher angefangen hat als wir und der uns zusammen mit seinen Landsleuten motiviert hat, auch etwas zu wagen. Danke! // Meine Damen und Herren, die innere Einheit Deutschlands konnte vor allem wachsen, weil wir uns als zusammengehörig empfanden und weil wir in Respekt vor denselben politischen Werten gemeinsam leben wollten. Doch nun, da viele Flüchtlinge angesichts von Kriegen, von autoritären Regimen und zerfallenden Staaten nach Europa, nach Deutschland getrieben werden, nun stellt sich doch die Aufgabe der inneren Einheit neu. Wir spüren: Wir müssen Zusammenhalt wahren zwischen denen, die hier sind, aber auch Zusammenhalt herstellen mit denen, die hinzukommen. Es gilt, wiederum und neu, die innere Einheit zu erringen. // Diese Entwicklung hat vor 25 Jahren niemand ahnen können. Damals, nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime und dem Ende des Ost-West-Konflikts, sahen wir sehr optimistisch in die Zukunft. Wir wähnten uns sogar am Beginn einer neuen Epoche. Die Überlegenheit der Demokratie schien schlagend bewiesen, ihr weltweiter Siegeszug nur noch eine Frage der Zeit. Wir erinnern uns an Francis Fukuyama, den amerikanischen Politologen, der das "Ende der Geschichte" verkündete. Mit ihm glaubten viele - auch ich - an eine gerechtere, friedliche und demokratische Zukunft. // Die Hoffnung auf eine solche Veränderung weltweit, sie ist jedoch zerstoben. Statt weiterer Siege von Freiheit und Demokratie erleben wir vielerorts das Vordringen autoritärer Regime und islamistischer Fundamentalisten. Statt mit größerer Friedfertigkeit sind wir konfrontiert mit Terrorismus, mit Bürgerkriegen, imperialen Landnahmen und einer Renaissance von Geopolitik. Und die Gemeinschaft der Europäer, die vor 25 Jahren begann, Ost- und Westeuropa zusammenzuführen, sie findet sich nun mit der Euro-Rettung, auch hier und da mit Austrittsdiskussionen und vor allem mit der Bewältigung der Fluchtbewegungen mitten in einer Zerreißprobe. // Aber was heißt es nun, die innere Einheit wieder und neu zu erringen, wenn sich die Zusammensetzung der Bevölkerungen in kurzer Zeit so erheblich verändert? Wie schaffen es Staaten, wie schaffen es Gesellschaften, ein inneres Band zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen herzustellen? Und wie kann die Europäische Union Einvernehmen erreichen, wenn die Haltungen gegenüber Flüchtlingen noch so unterschiedlich sind? // Noch führt der Druck die europäischen Staaten nicht völlig zusammen. Allerdings zeigen die jüngsten Entscheidungen der Europäischen Union, dass die Einsicht wächst: Es kann keine Lösung in der Flüchtlingsfrage geben - es sei denn, sie ist europäisch. Wir werden den Zustrom von Flüchtlingen nicht verringern können - es sein denn, wir erhöhen unsere gemeinsamen Anstrengungen zur Unterstützung von Flüchtlingen in den Krisenregionen, sowie vor allem zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Und auch das müssen wir uns klar machen: Wir werden unsere heutige Offenheit nicht erhalten können - es sei denn, wir entschließen uns alle gemeinsam zu einer besseren Sicherung der europäischen Außengrenzen. // Die Gewissheit über diese gemeinsamen Aufgaben hebt jedoch die Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten nicht automatisch auf. In den aktuellen Debatten offenbaren sich unterschiedliche Haltungen aufgrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen. Wir erleben das ja schon bei uns, im wiedervereinigten Land, der Bundesrepublik Deutschland. Westdeutschland konnte sich über mehrere Jahrzehnte daran gewöhnen, ein Einwanderungsland zu werden - und das war mühsam genug: ein Land mit Gastarbeitern, die später Einwanderer wurden, mit politischen Flüchtlingen, Bürgerkriegsflüchtlingen und Spätaussiedlern. Für die Menschen im Osten war es doch ganz anders. Viele von ihnen hatten bis 1990 kaum Berührung mit Zuwanderern. Wir haben erlebt: Die Veränderung von Haltungen gegenüber Flüchtlingen und Zuwanderern kann immer nur das Ergebnis von langwierigen - auch konfliktreichen - Lernprozessen sein. Diese Einsicht sollte uns nun auch Respekt vor den Erfahrungen anderer Nationen ermöglichen. // Wenn wir Deutsche uns an die "Das Boot ist voll"-Debatten vor zwanzig Jahren erinnern, dann erkennen wir, wie stark sich das Denken der meisten Bürger in diesem Land inzwischen verändert hat. Der Empfang der Flüchtlinge im Sommer dieses Jahres war und ist ein starkes Signal gegen Fremdenfeindlichkeit, Ressentiments, Hassreden und Gewalt. Und was mich besonders freut: Ein ist ein ganz neues, ganz wunderbares Netzwerk entstanden - zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen, zwischen Zivilgesellschaft und Staat. Es haben sich auch jene engagiert, die selbst einmal fremd in Deutschland waren oder aus Einwandererfamilien stammen. Auf Kommunal-, Landes- wie Bundesebene wurde und wird Außerordentliches geleistet. Darauf kann dieses Land zu Recht stolz sein und sich freuen. Und ich sage heute: Danke Deutschland! // Und dennoch spürt wohl fast jeder, wie sich in diese Freude Sorge einschleicht, wie das menschliche Bedürfnis, Bedrängten zu helfen, von der Angst vor der Größe der Aufgabe begleitet wird. Das ist unser Dilemma: Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich. // Tatsache ist: Wir tun viel, sehr viel, um die augenblickliche Notlage zu überwinden. Aber wir werden weiter darüber diskutieren müssen: Was wird in Zukunft? Wie wollen wir den Zuzug von Flüchtlingen, wie weitere Formen der Einwanderung steuern - nächstes Jahr, in zwei, drei, in zehn Jahren? Wie wollen wir die Integration von Neuankömmlingen in unsere Gesellschaft verbessern? // Wie 1990 erwartet uns alle eine Herausforderung, die Generationen beschäftigen wird. Doch anders als damals soll nun zusammenwachsen, was bisher nicht zusammengehörte. Ost- und Westdeutsche hatten ja dieselbe Sprache, blickten auf dieselbe Kultur zurück, auf dieselbe Geschichte. Ost- und Westdeutsche standen selbst in Zeiten der Mauer durch Kirchengemeinden, Verwandte oder Freunde in direktem Kontakt miteinander und wussten über die Medien voneinander Bescheid. Wie viel größere Distanzen dagegen sind zu überwinden in einem Land, das zu einem Einwanderungsland geworden ist. Zu diesem Land gehören heute Menschen verschiedener Herkunftsländer, Religionen, Hautfarben, Kulturen - Menschen, die vor Jahrzehnten eingewandert sind, und zunehmend auch jene, die augenblicklich und in Zukunft kommen, hier leben wollen und hier eine Bleibeperspektive haben. // Ähnlich wie bei den Zuwanderern seit den 1960er Jahren, aber wohl in größerem Ausmaß werden wir erleben: Es braucht Zeit, bis Einheimische sich an ein Land gewöhnen, in dem Vertrautes zuweilen verloren geht. Es braucht Zeit, bis Neuankömmlinge sich an eine Gesellschaftsordnung gewöhnen, die sie nicht selten in Konflikt mit ihren traditionellen Normen bringt. Und es braucht Zeit, bis alte und neue Bürger Verantwortung in einem Staat übernehmen, den alle gemeinsam als ihren Staat begreifen. // Wir befinden uns aktuell in einem großen Verständigungsprozess über das Ziel und das Ausmaß dieser neuen Integrationsaufgabe. So etwas ist in Demokratien auch verbunden mit Kontroversen - das ist normal. Aber meine dringende Bitte an alle, die mitdebattieren, ist: Lassen Sie aus Kontroversen keine Feindschaften entstehen. Jeder soll merken, wir debattieren, weil es uns um Zusammenhalt geht, um ein Miteinander, auch in der Zukunft. // Und wir nehmen aus unserer jüngeren Geschichte etwas mit, das wir niemals aufgeben dürfen: den Geist der Zuversicht. Wir haben nicht nur davon geträumt, unser Leben selbstbestimmt gestalten zu können, nein, wir haben es getan! Wir sind die, die sich etwas zutrauen. // Und so gestimmt fragen wir uns jetzt: Was ist denn das innere Band, das ein Einwanderungsland zusammenhält? Was ist es, das uns verbindet und verbinden soll? // In einer offenen Gesellschaft kommt es nicht darauf an, ob diese Gesellschaft ethnisch homogen ist, sondern ob sie eine gemeinsame Wertegrundlage hat. Es kommt nicht darauf an, woher jemand stammt, sondern wohin er gehen will und mit welcher politischen Ordnung er sich identifiziert. // Gerade weil in Deutschland unterschiedliche Kulturen, Religionen und Lebensstile zuhause sind, gerade weil Deutschland immer mehr ein Land der Verschiedenen wird, braucht es eine Rückbindung aller an unumstößliche Werte - einen Kodex, der allgemein als gültig akzeptiert wird. // Ich erinnere mich noch gut, welche Ausstrahlung die westlichen Werte bei uns in der DDR und in anderen Staaten des ehemaligen Sowjetblocks besaßen. Wir sehnten uns nach Freiheit und Menschenrechten, nach Rechtsstaat und Demokratie. Diese Werte, obwohl im Westen entstanden, sind zur Hoffnung für Unterdrückte und Benachteiligte auf allen Kontinenten geworden. Die Demokratie hat zwar seit 1990 keinen weltweiten Siegeszug angetreten, aber ihre Werte sind weltweit präsent, werden zunehmend nicht mehr als westlich, sondern als universell bezeichnet und verstanden. Und das ist richtig so. // Doch nicht immer und nicht überall vermögen sie jeden zu überzeugen, übrigens auch nicht bei uns. Wir wissen, dass selbst im Westen die eigenen Werte verletzt wurden und gelegentlich auch werden. Aber damit sind doch nicht die Werte diskreditiert, sondern diejenigen, die sie verraten. // Und diese, unsere Werte, sie stehen nicht zur Disposition! Sie sind es, die uns verbinden und verbinden sollen, hier in unserem Land. Hier ist die Würde des Menschen unantastbar. Hier hindern religiöse Bindungen und Prägungen die Menschen nicht daran, die Gesetze des säkularen Staates zu befolgen. Hier werden Errungenschaften wie die Gleichberechtigung der Frau oder homosexueller Menschen nicht in Frage gestellt und die unveräußerlichen Rechte des Individuums nicht durch Kollektivnormen eingeschränkt - nicht der Familie, nicht der Volksgruppe, nicht der Religionsgemeinschaft. Und vor diesem Hintergrund gewinnt der Satz, den wir alle kennen - Toleranz für Intoleranz darf es nicht geben - seine humane Basis. Und noch etwas: Es gibt in unserem Land politische Grundentscheidungen, neben den eben angesprochenen, die ebenfalls unumstößlich sind. Dazu zählt unsere entschiedene Absage an jede Form von Antisemitismus und unser Bekenntnis zum Existenzrecht von Israel. // Wir kennen keine andere Gesellschaftsordnung, die dem Individuum so viel Freiheit, so viele Entfaltungsmöglichkeiten, so viele Rechte einräumt wie die Demokratie. Sie mag mangelhaft sein, aber wir kennen keine andere Gesellschaftsordnung, die im Widerstreit von Lebensstilen, Meinungen und Interessen zu so weitgehender Selbstkorrektur fähig ist. Wir kennen auch keine Gesellschaftsordnung, die sich so schnell neuen Bedingungen anzupassen und zu reformieren vermag, weil sie - wie Karl Popper einmal sagte - auf einen Menschen baut, "dem mehr daran liegt zu lernen, als recht zu behalten". // Für eben diese Werte und für diese Gesellschaftsordnung steht die Bundesrepublik Deutschland. Dafür wollen wir auch unter den Neuankömmlingen werben - nicht selbstgefällig, aber selbstbewusst, weil wir überzeugt sind: Dieses Verständnis, kodifiziert im Grundgesetz, ist und bleibt die beste Voraussetzung für das Leben, nach dem gerade auch Menschen auf der Flucht streben. Ein Leben - wie es in unserer Nationalhymne heißt - in Einigkeit und Recht und Freiheit.
-
Joachim Gauck
Ein ungewöhnlicher, ein stolzer Anlass führt uns heute zusammen: Die deutsche Sozialdemokratie feiert ihren 150. Geburtstag. Keine andere Partei konnte so lange überdauern, weil ihre Kernforderungen auf immer neue Weise aktuell blieben und bleiben: Freiheitsrechte, soziale Gerechtigkeit und politische Teilhabe. // Dies ist ein Feiertag für die älteste Partei in Deutschland. Es ist auch ein Feiertag des europäischen Ringens um Freiheit und Demokratie. Es ist auch eine Geschichte voller Siege und Niederlagen, mit schrecklichen und abgründigen Kriegen, mit Aufstand und Widerstand, vor allem mit der Erkenntnis: Gesellschaften sind veränderbar, Demokratie ist möglich, wenn wir wissen, welche Werte wir mit ihr anstreben, verteidigen oder erkämpfen und wenn wir mutig genug sind, die Widerstände zu überwinden. // Immer lag und liegt es an uns, den Ohnmachtsgefühlen zu trotzen, für uns selbst und für andere Partei zu ergreifen und neue Entwicklungen anzustoßen. So viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben das in der bewegten Vergangenheit ihrer Partei mit unerschütterlicher Konsequenz getan, haben für ihre Überzeugungen viel riskiert: ihren Aufstieg, ihre gesellschaftliche Anerkennung, ihre Existenz und einige - viele - haben sogar ihr Leben hingegeben. // Es ist das Vermächtnis dieser mutigen Menschen, das Jubiläum nicht nur als "Ort der Erinnerung" zu betrachten. Wir fragen heute auch nach unseren Aufgaben in der Zukunft, fragen: Was bedeutet in der Perspektive von heute das alte "Vorwärts"? // Aber lassen Sie mich im Jahr 1863 beginnen, bei Armut und Ausbeutung, bei Arbeitsbedingungen, wie wir sie derzeit nur aus manchen Entwicklungsländern kennen und kritisieren und die damals für Millionen Deutsche bedrückender Alltag waren. Wie konnte die Reaktion derer aussehen, die die Kraft aufbrachten, sich zur Wehr zu setzen: Sollte es Aufruhr sein und dann Revolution und Errichtung einer neuen Herrschaft der zuvor Unterdrückten? Das wäre ja eine naheliegende Option gewesen. Aber Ferdinand Lassalle, der die Revolution von 1848 in der Rheinprovinz miterlebt hatte, fand eine andere Antwort auf Not und Unfreiheit. Wir hören sein Credo - Veränderung der Gesellschaft durch emanzipatorische Politik, die Massenteilhabe ermöglichen sollte. Dazu gehörte nun von Anfang an Bildung, Schulpflicht für alle, aber auch die Arbeiterbildungsvereine, die dem Einzelnen Aufstieg durch Wissen ermöglichten. Emanzipation gelang also durch Teilhabe an verbrieften Rechten, aber immer wieder auch durch Selbst-Ermächtigung. Dieser Ansatz war vor 150 Jahren revolutionär, modern ist er auch heute noch. // In der Gründungszeit der Sozialdemokratie stand selbstverständlich der Kampf für gleiche Rechte der unterdrückten Arbeiterschaft im Vordergrund. Das Eisenacher Programm von 1869 nennt zentral freie, allgemeine und gleiche Wahlen ungeachtet der Herkunft der Wählenden, das Verbot von Kinderarbeit und nicht zuletzt die Unabhängigkeit der Gerichte. // Im langen, innerparteilichen Kampf setzte sich die Haltung durch, keine neuen Klassenprivilegien zu errichten, Ungleichheit nicht durch neue Ungleichheit zu beantworten. Eduard Bernstein, der bedeutende und lange bekämpfte Theoretiker der SPD, bezeichnete die Demokratie dreieinhalb Jahrzehnte nach der Parteigründung durch Lassalle als "Mittel und Zweck zugleich". In diesem neuen Politikverständnis liegt für mich eines der wirklich größten historischen Verdienste seiner Partei. Es war die SPD, die bedeutende Teile der Arbeiterschaft und der sozialistischen Bewegung in Deutschland frühzeitig und intensiv und stark mit der Demokratie verband. Es war die SPD, die auf Reform statt auf Revolution setzte. Und es war die SPD, die den mühsamen und schließlich mehrheitsfähigen Weg beschritt, das Leben der Menschen konkret Stück für Stück zu verbessern, anstatt utopische Fernziele zu proklamieren. // Die kommunistische Weltbewegung entschied sich anders - allerdings mit durchgängig fatalen Folgen. Sie schuf eine neue Klasse der Machtbesitzenden und ersetzte die alte durch eine neue Ohnmacht. Auf Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Wohlstand warteten die Arbeiter vergeblich. // Umso mehr wissen wir heute den reformerischen Ansatz der Sozialdemokratie zu würdigen. Ihm verdanken wir unter anderem die ersten Arbeitsschutzgesetze und das Frauenwahlrecht. Die erste deutsche Demokratie, die Republik von Weimar, wäre wohl nicht zustande gekommen, wenn nicht die Sozialdemokraten, an ihrer Spitze Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, den Mut gehabt hätten, sich für die politische Zusammenarbeit mit den gemäßigten Kräften der bürgerlichen Parteien einzusetzen. Vor allem haben die Sozialdemokraten diese Demokratie länger und tapferer verteidigt als die meisten anderen Demokraten. Sie haben die Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität hoch gehalten und aufbegehrt gegen jene, die Unfreiheit und Krieg entfesselten. // Unvergessen ist die Rede von Otto Wels am 23. März 1933, als die Nazis bereits viele Oppositionelle inhaftiert und in die Emigration getrieben hatten. "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht": Es war - wie Peter Struck es einmal beschrieben hat - "die mutigste Rede, die je in einem deutschen Parlament gehalten wurde". // Das wollen wir uns merken. Damals haben 94 SPD-Abgeordnete mit ihrem Nein zum sogenannten Ermächtigungsgesetz nicht nur die eigene Ehre gerettet, sondern die der ersten deutschen Demokratie. Sie haben uns - nämlich allen Deutschen - ein Stück aufrechter Demokratiegeschichte geschenkt, ein Gegenstück zu Schuld und Scham, die kostbare Erfahrung, dass Menschen auch dann zu ihren Werten stehen können, wenn sie verhöhnt, gedemütigt und verfolgt sind. Dankbar würdigen wir heute ihren Mut. // Zu diesen Menschen gehörte Kurt Schumacher, einer der Abgeordneten, die das sogenannte "Ermächtigungsgesetz" ablehnten. Nach zehn Jahren KZ-Haft widerstand er nach dem Krieg der Versuchung, aus Sozialdemokraten und Kommunisten eine gemeinsame Arbeiterpartei zu schaffen. Denn er erkannte, dass die Kommunistische Partei Deutschlands - so seine Worte - "nicht eine deutsche Klassen-, sondern eine fremde Staatspartei" war. Im Osten Deutschlands konnte eine eigenständige SPD tatsächlich erst nach 1989 wieder entstehen. Auch dafür bin ich tief dankbar. // Im Westen Deutschlands hingegen hatte die SPD gemeinsam mit Konservativen und Liberalen entscheidenden Anteil daran, dass die Bundesrepublik ein funktionierender, breit legitimierter "demokratischer und sozialer Bundesstaat" werden konnte - so wie es unser Grundgesetz vorsieht, ein Dokument, das übrigens auch, wie wir alle wissen, an einem 23. Mai verabschiedet worden ist. // An Tagen wie heute wird uns bewusst, dass unsere Demokratie so stabil, bisweilen so anfällig war wie ihr jeweiliges Parteiengefüge. Die SPD kann nicht nur auf die längste Tradition der Parteien in Deutschland zurückblicken. Sie hat wohl auch den tiefgreifendsten inneren Wandel vollziehen müssen. Denn die SPD von heute ist ja keine Klassenpartei mehr. Sie hat sich im Zuge eines langen und schwierigen Lernprozesses zu einer Volkspartei entwickelt. Das Godesberger Programm von 1959 hat diesen Wandel dokumentiert, gefestigt und befördert. // Die Verdienste der SPD in der Bundesrepublik stehen den meisten von uns vor Augen. Ich nenne die gesellschaftlichen und sozialen Reformen der 70er Jahre unter Willy Brandt, ich nenne die erste, die innovative Phase der Ostpolitik, die eine Öffnung gegenüber der DDR und anderen osteuropäischen Nachbarn ermöglichte und den Eisernen Vorhang durchlässiger machte. // Der Film hat uns auch das Wirken der Bundeskanzler Helmut Schmidt und Gerhard Schröder in Erinnerung gerufen, die heute beide unter uns sind. Auch mit ihrer Kanzlerschaft sind bleibende Verdienste der SPD für die Bundesrepublik verbunden. // Das Kernthema der Sozialdemokratie ist in 150 Jahren geblieben: die solidarische Gesellschaft, die sich beständig verbessernde Demokratie. Aber in der veränderten Welt von heute stellen sich für die SPD wie für alle anderen Parteien auch neue Herausforderungen. Dazu gehört zentral, dass Parteien immer auch Teil einer sich selbst ermächtigenden Bürgergesellschaft sein müssen und erst dann belastbare Bindungen herstellen können für ein umfassendes politisches Programm. // Keine leichte Aufgabe, denn in den letzten Jahren haben wir viele Protestbewegungen erlebt, die oftmals radikaler waren als die Volksparteien und sich - oft in der Konzentration auf nur ein Thema - auch als ihre Gegenspieler darstellen konnten. Sie zeigten den Willen vieler Bürger zur Mitsprache. Das begrüße ich und unterstütze ich. Die Parteien sollten sich davor nicht fürchten, sondern umgekehrt derartige Formen der Beteiligung als so etwas wie ein Frühwarnsystem verstehen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Zugleich brauchen neue Partizipationsformen aber auch umgekehrt die Parteien, damit deren Impulse auf dem Weg der parlamentarischen Demokratie ihren Weg in unseren Alltag finden. Kurz: Neue Beteiligungsformen sind eine wichtige Ergänzung, aber sie sind kein Ersatz für die repräsentative Demokratie. // Schauen wir uns das noch einmal an - in einer Frage wird dies besonders deutlich: Bürgerinitiativen vertreten - zumeist berechtigte - Partikularinteressen, Parteien hingegen müssen stärker allgemein ausgerichtet sein, das Ganze im Blick behalten. Manchmal gelingt es Parteien sogar, gerade den eigenen Wählern Zumutungen aufzuerlegen, mit Entscheidungen, die bisherigen Linien oder kurzfristigen Parteiinteressen widersprechen. Ich weiß, so etwas ist innerhalb einer Partei nicht populär. Aber wir haben erlebt: Gerade solche Entscheidungen waren oftmals verantwortungsbewusste Entscheidungen für das ganze Land! // Heute gratuliere ich der SPD zu 150 Jahren ihres Bestehens. Ich sage Dank und Anerkennung all jenen, die in 150 Jahren für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gekämpft haben und damit das Leben von Millionen Menschen verbessert haben. // Ich verbinde diesen Dank an die SPD mit meiner Anerkennung für alle, die in allen demokratischen Parteien für unser Gemeinwohl arbeiten - ob im Ortsverein oder in der Europapolitik, ob ehrenamtlich oder hauptamtlich. Ihr Wirken trägt zum Gelingen unserer Demokratie bei. Deshalb gratuliere ich auch uns allen - dazu, dass wir unsere demokratischen Parteien haben. Sie sind wie alle menschlichen Geschöpfe mangelhaft und unvollkommen und tun deshalb gut daran, offen für Kritik und Selbstkritik, also lernfähig, zu sein. Unsere demokratischen Parteien waren immer notwendig für das Leben unserer Demokratie und sie werden auch in Zukunft unentbehrlich sein. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
-
Joachim Gauck
Es ist schön, hier zu sein. Viele Menschen sind zusammengekommen, um miteinander "Ja" zu sagen zum Alter. Ich gehöre dazu. Ich stehe heute vor Ihnen als Verbündeter: Als einer, der hoffentlich bald zum dritten Mal Urgroßvater wird und der jetzt, mit 72 Jahren, eine neue, schöne und ehrenvolle Aufgabe übernehmen durfte und als einer, der Hoffnungen hat und Pläne und so das Motto dieses Seniorentages auf seine ganz eigene Gaucksche Weise mit Leben erfüllt. // Ihr Motto "Ja zum Alter!" gefällt mir. Aber je älter ich werde, desto mehr frage ich mich: Muss das eigentlich extra betont oder gar eingefordert werden? // Dass wir altern, ist ja nicht neu. Seit Menschengedenken fragen wir uns, was das Alter uns bringen wird. Die großen Philosophen und Denker haben sich mit diesem Thema befasst. Platon in seiner "Politeia", Cicero in seinem fiktiven Dialog "Cato der Ältere über das Alter", Jacob Grimm in seiner "Rede über das Alter" oder Ernst Bloch im "Prinzip Hoffnung": Sie alle und noch viele andere haben sich mit dem Alter beschäftigt. // Neu ist, dass so viele von uns um so viel älter werden - eine rasante Veränderung, die seit etwas mehr als einem Jahrhundert in Gange ist. Welch ein Segen für die, die nicht nur die Kinder, sondern auch die Enkel und sogar Urenkel aufwachsen sehen dürfen! Das war ja in anderen Generationen meistens anders. Historisch neu ist, dass ein materiell abgesicherter Lebensabend heute nicht nur Privileg von ganz wenigen ist. Welch ein Glück, wenn man mit seinem Leben etwas anzufangen weiß! Und welch ein Gewinn, wenn wir mit den geschenkten Jahren auch in der Gesellschaft gut miteinander umzugehen lernen! // Das "wenn" ist wichtig. Denn mit dem Altern verbinden sich auch viele Befürchtungen. Landauf, landab werden sie debattiert: Da ist die Sorge, dass unserer Gesellschaft die Ideen ausgehen, dass die Netze der sozialen Sicherung zerreißen könnten, dass die Kosten für Pflege und Gesundheit explodieren könnten. Da ist auch die Angst vor Armut im Alter, vor Einsamkeit und davor, ein "Pflegefall" zu werden - was für ein schreckliches und eigentlich auch verräterisches Wort - ist das, was einst ein Mensch war, ist das dann nur noch ein "Fall", Pflegefall eben? // So berechtigt die Befürchtungen im Einzelnen sind - wir dürfen uns von ihnen nicht überwältigen und vor allem nicht einschüchtern und nicht ängstigen lassen. Wir sollten sie als Anstoß nehmen, die Dinge anders und besser zu gestalten. Die höhere Lebenserwartung ist uns schließlich auch nicht einfach in den Schoß gefallen, sie ist erarbeitet und manchmal auch erkämpft worden, von Ihnen, von unseren Vorgängern. Sie ist eine Leistung unserer Zivilisation, unserer Gesellschaft und jedes Einzelnen. Wir leben gesünder, wir bekämpfen erfolgreich viele Krankheiten, wir arbeiten sicherer. Und so liegt es jetzt auch in unserer Verantwortung, das längere Leben zu einem Gewinn für alle zu machen. Und dort, wo aus Krankheitsgründen von Gewinn nun wahrlich keine Rede mehr sein kann, soll es jedenfalls darum gehen, vom Wert und von der Würde derer zu sprechen, die dieses für sich selbst nicht mehr zu reklamieren vermögen. // Die gewonnenen Lebensjahre, meine Damen und Herren, schenken uns Freizeit und Freiheit: die Freiheit, entlastet von vielen äußeren Zwängen, unsere Fähigkeiten nun weiter zu erproben und vielleicht auch weiterzugeben. Sie geben uns zugleich eine Verantwortung auf: die Verantwortung, unser Leben, solange irgend möglich, selbst zu gestalten und - was besonders schön und erfüllend ist - unsere Fähigkeiten so einzusetzen, dass das individuelle Glück des längeren Lebens auch ein Glück für unser Gemeinwohl bleibt oder wird. "Ja zum Alter!" heißt also für mich: "Ja" zum eigenverantwortlich gestalteten Leben, und "Ja" zu den Veränderungen, die wir dafür als Einzelne und als Gesellschaft anstoßen, manchmal auch ertragen müssen. // So setzen wir uns in Beziehung zur Lebenswelt unserer Enkel und Urenkel. Was wird sie erwarten, wenn sie erwachsen sind? Wie wird es aussehen, ihr Land - wird es ein Land sein, in dem alle Lebensalter menschenwürdig und verantwortlich miteinander zusammenleben? // Eines sollten wir auf jeden Fall begriffen haben: Das Alter gibt es nicht, ebenso wenig wie die Alten. Den einen versagen schon mit Mitte 60 die geistigen oder körperlichen Kräfte, die anderen können noch mit über 90 völlig klar denken und sich selbst versorgen. Wir altern so individuell, wie wir unser Leben führen, und so gut, wie es unser Schicksal und die Umstände im Lande es erlauben. Ebenso wenig gibt es den Rentner oder die Rentnerin. Manche sind kinderlos, andere haben Enkel oder gar Urenkel, die einen sind lebensfroh, die anderen frustriert. Manche können ihren Lebensabend in Wohlstand genießen, andere beziehen Renten, die kaum zum Leben reichen. Manche übrigens trotz eines Lebens voll harter Arbeit. Derartiges dürfte es ja eigentlich in diesem reichen Land gar nicht geben, nicht wahr? Aber schauen wir auf die Gesamtheit. Und da sieht es so aus, dass die heutige ältere Generation die wohlhabendste und gesündeste ist, die es in Deutschland jemals gegeben hat. Und während ich diesen Satz spreche, frage ich mich zugleich: Ist es eigentlich auch die dankbarste Generation, die es jemals gegeben hat? // Es gilt Anspruch und Wirklichkeit aneinander anzupassen. Unsere Ansprüche an den Ruhestand, unsere Vorstellungen davon, wann er beginnt und was wir mit dieser Zeit anfangen, mit der Wirklichkeit der neuen, hinzugewonnenen Jahre. Das ist unter anderem auch ein Gebot der volkswirtschaftlichen Vernunft, nicht nur, aber auch. Es ist nötig, um die Errungenschaft des Ruhestandes auch kommenden Generationen zu erhalten. Aber es ist auch in unserem eigenen Interesse. // Wir wissen doch, wie glücklich es macht, wenn wir unsere Fähigkeiten einsetzen und etwas erreichen können. Wenn wir herausholen, was in uns liegt an Kraft, an Potenz, an Verantwortungsfähigkeit. Ich bin überzeugt, dass wir gestalten können und müssen, damit es uns gut geht. Und ich glaube fest daran, dass wir Menschen lern- und begeisterungsfähig sind bis ins hohe Alter hinein - da weiß ich auch die Wissenschaft auf meiner Seite, unter dem Stichwort "Plastizität des Gehirns". Hannah Arendt hat einmal gesagt: "Verstehen beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod." Das ist die Haltung, mit der wir durchs Leben gehen sollten! // Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die von uns Älteren erwartet, veränderungsbereit zu sein, die uns die Möglichkeit zum lebenslangen Lernen auch gibt, und damit die Grundlage, lebenslang tätig zu sein. "Tätig zu sein ist des Menschen erste Bestimmung", so heißt es schon in Goethes "Wilhelm Meister". Das mag manchem Bild vom Ruhestand konterkarieren. Aber ist es nicht im Grunde viel kraftraubender, wenn man sein Leben nur auf seine Tätigkeit ausrichtet, und mit der dann plötzlich schlagartig aufhört, auf Kosten der Vielfalt an Fähigkeiten, die doch immer noch in uns stecken? Viele geraten dann in eine regelrechte Krise, wenn plötzlich Anerkennung durch Arbeit und Leistung und damit auch durch das soziale Umfeld wegbrechen. // Ich wünsche mir, dass jene, die es wollen, länger im Beruf bleiben können - unter besseren Bedingungen täten das bestimmt heute schon viele. Dazu gehört auch, dass ich mir wünsche, dass wir individuelle Übergänge ermöglichen: zwischen den Lebensphasen und zwischen unterschiedlichen Arten des Tätigseins. Ich wünsche mir, dass wir Älteren eine Chance geben, sich weiter zu entwickeln, ihnen Achtung und Wertschätzung entgegenbringen und ihren Bedürfnissen pragmatisch entgegenkommen. // Gewiss ist es nicht jedem vergönnt, bis ins hohe Alter tätig zu bleiben. Es gibt Krankheiten, Schicksalsschläge. Mancher ist früh ausgelaugt, von lebenslanger harter Arbeit und lebenslangen Strapazen. Deshalb wünsche ich mir auch: Niemandem soll Unzumutbares zugemutet werden. Aber das Zumutbare schon, denn wir alle wissen doch, wir tun einander auch nichts Gutes, wenn wir nichts von uns erwarten. Ich tue mir nichts Gutes, wenn ich nichts von mir erwarte. Ich rede in diesem Zusammenhang ganz bewusst nicht nur vom Broterwerb, sondern ich rede von Tätigkeit. // Warum, so werden mich meine Urenkelkinder vielleicht später fragen, hattet Ihr früher Euer Zusammenleben eigentlich so eingerichtet, dass den Jüngeren oft die Zeit gefehlt hat - und vielen Alten die Decke auf den Kopf gefallen ist? Und wenn sie so fragen, hätten sie recht. Warum teilen wir all diese Tätigkeiten, ohne die unsere Gesellschaft nicht funktionieren würde, nicht besser auf zwischen den Generationen und Geschlechtern - die Sorge um Kinder, die Sorge um ältere Angehörige, die Arbeit im Haushalt, das Engagement in der Nachbarschaft, in der Zivilgesellschaft und in den Ehrenämtern? Je selbstverständlicher wir schon in unseren jungen Jahren zwischen all diesen Sphären wechseln, desto selbstverständlicher wird das auch im Alter sein, nicht nur für uns, sondern auch für andere tätig zu bleiben. Es fasziniert mich immer wieder, dass es dieses abrupte Ausscheiden, wie wir es aus dem Berufsleben kennen, bei denen selten gibt, die ehrenamtlich über lange, lange Jahre aktiv gewesen sind in ihren verschiedenen sozialen Bereichen. Sei es im kirchlichen, im kulturellen, im sportlichen Bereich. Da gibt es diesen Abbruch zwischen tätig und aktiv sein und dann Ruhekissen überhaupt nicht so. Das ist ein guter Hinweis auf die Art und Weise, wie wir aktiv in dieser Lebensphase uns selber finden und unserer Gesellschaft nützen können. // Es gibt im Übrigen viele gute Ansätze für diese Art von Aktivität, von Einbezogensein in das Leben in der Gesellschaft. Immer mehr Bürgerstiftungen organisieren Gemeinsinn und bieten die Plattform, mit seinem Geld und seiner Zeit etwas Sinnvolles für das Allgemeinwohl zu leisten. Es gibt Leihomas oder -opas. Ich weiß nicht, ob die eine Antwort auf jedes Problem sind, aber immerhin will ich mich freuen, dass es sie gibt. Denn vielfach ist es so, dass es gar keine Großeltern an dem Ort gibt, wo die jungen Menschen leben und schaffen. Manche haben auch gar keine Enkelkinder und wünschten sich, gerade einmal dieser Generation begegnen zu können. Wir haben die Senior Experten. Sie teilen ihr Wissen mit den Jüngeren, bringen Erfahrungen ein aus dem weiten Feld ihres Berufslebens, helfen in Gründungsphasen von Unternehmungen oder geben Rat in Krisensituationen einer Firma oder einer beruflichen Karriere. Immer öfter ziehen Ältere und Jüngere, Familien und Singles bewusst zusammen, weil sie einander helfen und ergänzen wollen. In Seniorengenossenschaften - wie der im baden-württembergischen Riedlingen, die es seit über 20 Jahren gibt - helfen die, die noch können und rüstig sind, denen, die nicht mehr so gut auf den Beinen sind, gegen ein kleines Entgelt oder nur gegen das Versprechen, dass ihnen selbst später von anderen geholfen wird. Und es spricht vieles dafür, dass wir im mittleren Alter anderen das geben, was wir uns selbst fürs hohe Alter selber dringlich wünschen - Zuwendung, liebevolle Pflege bei weitestgehender Autonomie. // Selbstverantwortung ist in unserer Gesellschaft ein hoher Wert. Wir wissen aber natürlich auch, dass ein Moment kommen kann, in dem wir nur noch sehr bedingt selbst steuern können, was mit uns passiert. Diese Lebensphase zu akzeptieren als eine, in der die gewohnten Kategorien von Selbstverantwortung, Leistung und Nützlichkeit gar nicht mehr zählen - ja nicht mehr zählen dürfen -, ist eine der großen Herausforderungen, der wir uns zu stellen haben. Hier wird sich die Menschlichkeit unserer alternden Gesellschaft erweisen. // Wir alle werden hier sehr viel neu oder wieder neu lernen müssen, denn es wird nicht gehen ohne die Haltung von Barmherzigkeit - oder nennen Sie es einfach Solidarität miteinander. Und vielen Menschen sind solche Werte in ihren beruflichen Lebensläufen ja leider abhanden gekommen. So müssen wir zum Teil wieder erlernen, was wir eventuell früher einmal gewusst, aber dann verlernt haben bei unseren mannigfachen Formen von Egotrips oder unsozialen Arbeitsverhältnissen. // Eine weitere Herausforderung ist, zukunftsfähig zu bleiben. Früher hieß es, wir müssten die Alten fürchten, weil sie keine Angst vor der Zukunft haben. Heute fürchten viele eher die Angst der Alten vor dem Neuen. Doch der Unmut der Älteren muss uns nur dann Sorgen machen, wenn er sich aus einer generellen Abneigung jeglicher Veränderungen speist oder, was es auch gibt, aus rein egoistischen Motiven. Die meisten Älteren sind aber nicht einfach nur "Wutbürger". Sie nehmen eine ganz andere und wichtige Verantwortung wahr: kommenden Generationen ein funktionierendes Gemeinwesen zu hinterlassen. Es ist wichtig, ihre Stimme zu hören und abzuwägen: Was ist es wert, bewahrt zu werden gegen den Furor des Fortschritts - und was muss sich wirklich ändern? Und es ist gut, wenn möglichst viele der Älteren interessiert sind und bleiben. Denn wer interessiert ist, ist dazwischen, mittendrin, bringt er sich ein. // Wie gut es gelingt, dieses Interesse wach zu halten, wird auch die Zukunft unserer Demokratie mit beeinflussen. Franz Müntefering, den ich hier vorne sehe, übrigens genau acht Tage älter als ich, hat einmal den schönen Satz gesagt: "Demokratie kennt keinen Schaukelstuhl. Solange der Kopf klar ist, ist man mitverantwortlich." Und damit, meine Damen und Herren, meint er doch sicher, nicht nur für das, was uns jeweils ganz persönlich betrifft, sondern auch für das sind wir verantwortlich, was nach uns kommt, was wir weitergeben an unsere Kinder und Enkel. Ich bin sicher, Sie, meine Damen und Herren, leben genau diese Verantwortung, deshalb sind Sie hier, und deshalb danke ich Ihnen, all den Aktiven in ihrem Verband, Frau Professorin Lehr, und allen, die sich hier so engagiert einbringen. Was wäre unsere Gesellschaft ohne Ihr aktives Mittun. // Mir ist darum nicht bang, meinen Urenkeln sagen zu können: Wir werden das schaffen. Wir werden den Gewinn an Lebenszeit besser teilen - zum Vorteil von Alten und Jungen, zum Vorteil der Gesellschaft wie des Einzelnen. Wir werden das Alter als eine besondere Phase unseres Lebens schätzen und diese verantwortlich gestalten. Wir werden erkennen, dass die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen einer Gesellschaft des langen Lebens nur dann bedrohlich sind, wenn zu starr an bisherigen Systemen, Vorgaben und Eckpunkten festgehalten wird. // Wenn wir viele sind, die so denken, dann wird auch das Loslassen einst, wenn die Kräfte schwinden, uns keine Angst machen. Ich bin dankbar für die Begegnung mit Menschen, die von dem Geschenk des Alters sprechen können. Ich gebe ehrlich zu, ich muss das noch lernen, so zu sprechen. Vor etwas über 100 Jahren schrieb Rainer Maria Rilke an einen Freund: "Ich glaube an das Alter, lieber Freund, Arbeiten und Altwerden, das ist es, was das Leben von uns erwartet. Und dann eines Tages alt sein und noch lange nicht alles verstehen, nein, aber anfangen, aber lieben, aber ahnen, aber zusammenhängen mit Fernem und Unsagbarem, bis in die Sterne hinein." Welch eine Eloge auf die Möglichkeiten des Alters! // Wir alle haben nicht die poetischen Gaben eines Rainer Maria Rilke. Aber wir alle hatten und haben einen Schatz an Erfahrungen und Wissen, haben erworbene Geduld und erhaltene Ungeduld, wir haben nicht die alte, aber die uns jetzt mögliche Fähigkeit, Verantwortung zu leben. Und mit alledem kann es uns doch gelingen, unser "Ja zum Alter" zu sprechen, zu leben.
-
Joachim Gauck
Fast 40 Jahre ist es jetzt her, dass Willy Brandt Bundeskanzler war, mehr als 20 Jahre ist er nun nicht mehr unter uns. // Und doch fällt es mir schwer, in der Vergangenheitsform über ihn zu reden. Ich spreche sicher vielen aus dem Herzen, wenn ich sage: Willy Brandt ist noch immer gegenwärtig - mit allem, was er verkörpert: mit seiner Liebe zur Freiheit, mit seinem Streben nach Frieden und Gerechtigkeit, mit seiner Überzeugung, dass jede Zeit eigene Antworten will und dass wir selbst die Welt verändern müssen. // Wie sehr wirkt er damit nach, wie sehr fordert er uns alle damit heute heraus! // Die eine große Sehnsucht seines Politikerlebens, für die er so lange gekämpft hatte, als Berliner Bürgermeister, als Außenminister und Bundeskanzler - die Sehnsucht, es möge zusammenwachsen, was zusammengehört. Sie nahm noch zu seinen Lebzeiten reale Gestalt an. Gerechter Dank der Geschichte für einen, der furchtlos, geschickt und pragmatisch nach Wegen gesucht hat, wo andere nur Mauern sahen! Vor kurzem habe ich in alten Unterlagen vier handgeschriebene Blätter gefunden: meine Begrüßungsrede für Willy Brandt, der am 6. Dezember 1989 zu uns in die Marienkirche nach Rostock kam. Da war Willy Brandt schon viele Jahre ohne Staatsamt - und doch derjenige, auf den sich ganz selbstverständlich unsere Blicke richteten, weil er verkörperte, wonach wir uns sehnten. "Da begegnen wir uns nun: wir, das Volk, und Sie, der große Politiker", habe ich damals gesagt. Und: "Ihr Wort ist uns wichtig". So ist es auch heute noch - im Präsens! // Darum ist Willy Brandts 100. Geburtstag Gelegenheit zur Rückschau auf ein Jahrhundert voller Schrecken und Aufbrüche und auf das, was sich - auch ihm sei Dank - zum Guten gewandelt hat. Es ist zugleich eine gute Gelegenheit, vorauszuschauen auf das, was vor uns liegt und was Willy Brandt uns für die Zukunft aufgetragen oder doch nahegelegt hat. // So manches, was Willy Brandt in früheren Zeiten entgegenschlug, ist heute jungen Leuten kaum noch verständlich zu machen: dass einer, der den nationalsozialistischen Ungeist bekämpfen half, noch Jahrzehnte nach dem Ende des Hitlerregimes bei vielen als "Vaterlandsverräter" galt und sich fragen lassen musste, was er im Exil eigentlich gemacht habe. Unglaublich, heute, dass sein Kniefall in Warschau - diese Geste der Trauer und der Überwältigung, die auch kommende Generationen noch kennen werden - dass diese Geste vielen seiner Landsleute damals übertrieben erschien. Und später, viel später dann die Pfiffe von Unbelehrbaren vor dem Schöneberger Rathaus, als Willy Brandt mit Helmut Kohl und anderen am 10. November 1989 die Maueröffnung feierte - wie unverständlich, von heute aus betrachtet! // Heute können wir wieder ohne Nationalismusverdacht unsere Nationalhymne singen - auch das ist ein wenig Willy Brandts Verdienst. Viele konnten dank seiner wieder "ja" sagen zu unserem Land. 1972 hieß ein SPD-Wahlslogan: "Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land." So schlecht konnte dieses Land doch gar nicht sein, wenn einer wie er es trotz allem liebte! Vor allem aber hat er, der "andere Deutsche", der Europäer und Weltbürger, im Ausland glaubwürdig und zugleich selbstbewusst für neues Vertrauen geworben. // Inzwischen sind wir wieder ein "Volk der guten Nachbarn". Wir wissen um die Abgründe der deutschen Geschichte. Verantwortung für diese Geschichte zu übernehmen - so hatte es Willy Brandt schon früh gesehen - bedeutet nicht, Enthaltsamkeit zu üben in gegenwärtigen Konflikten. Im Gegenteil: Aus der Einsicht in das Vergangene erwuchs für ihn die Verantwortung für die Probleme und die Chancen der Gegenwart. 1973 erklärte er als erster deutscher Bundeskanzler vor der UN-Generalversammlung: "Wir sind [ ] gekommen, um - auf der Grundlage unserer Überzeugungen und im Rahmen unserer Möglichkeiten - weltpolitische Verantwortung zu übernehmen." Vor 40 Jahren war das, wohlgemerkt! Heute ist unserem vereinten Deutschland ungleich größere Verantwortung zugewachsen. Wir sind gut beraten, sie unseren Überzeugungen und Möglichkeiten entsprechend anzunehmen. // Von Willy Brandts Haltung in Konflikten lernen heißt: geduldig sein, Vertrauen schaffen und scheinbar unerbittliche Gegner einander schrittweise annähern. Wir sind ja manchmal geneigt zu vergessen, wie aktuell etwa die Bedrohung durch Nuklearwaffen ist, auch weit nach dem Ende des Kalten Krieges. Den gemeinsamen Aktionsplan zwischen Iran, den fünf UN-Vetomächten und Deutschland könnte man - bei aller gebotenen Vorsicht - als einen der hoffnungsvollsten Anfänge der vergangenen Jahre bezeichnen. // In vielem, was Willy Brandt sehr früh schon bewegte, sind wir auch heute noch lange nicht angekommen. Beispiel Entwicklungspolitik: Tatsächlich lebt nach wie vor ein größerer Teil der Weltbevölkerung in Armut. Beispiel Klimawandel und Umweltverschmutzung: Sie abzubremsen ist dringlicher denn je - die Folgen gerade für die Verletzlichsten erkannte Brandt als einer der ersten. Beispiel Zusammenleben der Verschiedenen: Schon früh sprach er vom "Recht der Ebenbürtigkeit, der Gleichheit und der guten Nachbarschaft" als Grundlage des Miteinanders. Ich bin mir sicher, Willy Brandt hätte auch heute viel zu sagen über das, was wir so sperrig "Integration" nennen und was doch so viel mit der Anerkennung von Unterschieden und dem Streben nach dem Gemeinsamen zu tun hat. Und er, der politische Emigrant, würde gewiss auch Partei ergreifen für die, die heute fliehen vor Unterdrückung und Gewalt. Wir wollen nicht vergessen, dass Willy Brandt, der von den Nationalsozialisten Ausgebürgerte, damals in Norwegen aufgenommen und eingebürgert wurde! Tusen takk! Ich bin gespannt, was Sie, sehr geehrter Herr Gahr Støre, und Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, uns gleich über Willy Brandts Wirken berichten werden. // Ich kann nur jedem, der es noch nicht getan hat, wärmstens empfehlen, in den Briefen, Notizen, Tagebuchaufzeichnungen, Redemanuskripten und Memoranden der "Berliner Ausgabe" zu blättern - ich habe das Glück, die zehn Bände griffbereit in meinem Amtszimmer stehen zu haben. Willy Brandt hat immer wieder Worte gefunden für das, was andere bewegte. Und er hat andere mit seinen Worten bewegt. Als Berliner Bürgermeister in den Tagen des Mauerbaus: "Wir fürchten uns nicht!" Als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler: "Wir wollen mehr Demokratie wagen!". Oder, am Ende seines Lebens: "Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum - besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll." // So soll Willy Brandt uns noch heute prägen und ermutigen: mit seiner Haltung zu seinem Land, über das er weiter hinausblickte als die allermeisten, das er liebte mit all seinen Schwächen und zugleich verbessern wollte, und zwar durch praktische Politik, die sich im Alltag bewähren sollte, um das Leben der Menschen besser zu machen. Er hatte Träume. Aber er gab nicht vor, das Ziel der Politik ein für alle Mal zu kennen. Er sah das Offene, das Unfertige. Manchmal, so meinte er, gebe es keine Lösung. Doch handlungsfähig sind wir nicht erst dann, wenn wir das Ende einer Entwicklung benennen können. Wir sind es bereits, wenn wir darum ringen, das zu verändern, was in unserer Macht und unseren Möglichkeiten liegt, auch wenn es sich nur um das etwas Bessere handelt. Immer warb er dafür, dass sich heute für Veränderungen einsetzen muss, wer morgen besser leben will. // Wir ehren Willy Brandt darum nicht allein für das, was er getan hat, sondern auch für das, wozu er andere motiviert hat. Sein ganzes politisches Leben war eine Einladung zum Mitgestalten und Weiterdenken - übrigens auch dazu, sich nicht zufrieden zu geben mit einer alles andere ausschließenden Wahrheit, an die er, Willy Brandt, nicht mehr glauben konnte, wie er sagte: "Ich glaube an die Vielfalt und also an den Zweifel". Den produktiven Zweifel auszuhalten, ohne ihn als dominierende Lebensform zu kultivieren, auch dazu kann uns Willy Brandt motivieren. // In einer der vielen Fernsehrunden rund um den Geburtstag hat eine junge SPD-Genossin bekannt, sie fühle sich Willy Brandt zwar nicht als Person nahe, wohl aber in dem, was sie tue. Das hätte ihn gefreut. // Es hätte ihn auch gefreut zu sehen, wie viele hier zusammengekommen sind, um "danke" zu sagen, aus allen Teilen unserer Gesellschaft, aus seiner zweiten Heimat Norwegen und anderen Ländern, denen er verbunden war. Er hätte den Dank vielleicht mit dem bescheidenen Satz quittiert, den er sich angeblich einmal - mit feiner Selbstironie - als Inschrift auf seinem Grabstein wünschte: "Man hat sich bemüht". Nehmen wir sein Vermächtnis an. Es heißt: Seid nicht gleichgültig! Setzt Euch auseinander und ringt um die bessere, nicht die nächstbeste Lösung! Erkennt, was Ihr verändern und verbessern könnt. Sagt "ja" zu unserem Land, zu unseren Aufgaben und Möglichkeiten! Und habt Mut, Geduld und Zuversicht.
-
Joachim Gauck
Wenn der Bundespräsident den Deutschen Bankentag eröffnet, im siebten Jahr nach dem Ausbruch der weltweiten Finanz- und Schuldenkrise, dann steht er ganz unterschiedlichen Erwartungen gegenüber. Viele Bürger wünschen sich, dass den Banken wieder einmal die Leviten gelesen werden, dass noch einmal abgerechnet wird mit Gier, Größenwahn, Fehlverhalten und Kontrollverlust. Viele Bankmanager, vielleicht auch manche von Ihnen hier im Saal, wünschen sich dagegen eine Würdigung der Reformen, auch einer neuen Geschäftskultur, um die sich die Politik und die Branche jeweils bemühen. // Beide Erwartungen sind selbstverständlich. // Es stimmt ja: Einige Banken und einige Mitarbeiter haben sich eine Menge zu Schulden kommen lassen. Die Justiz ermittelt noch immer in mehreren Fällen wegen des Verdachts auf Untreue, Bilanzfälschung oder Marktmanipulation. Und erst vor wenigen Tagen wurden weitere Vorwürfe öffentlich: Die Finanzbehörden untersuchen, ob durch einige besonders trickreiche Anlagemodelle der Banken und der Geldanlagefonds Steuern in Milliardenhöhe hinterzogen wurden. Auch dort, wo nicht gegen Recht und Gesetz verstoßen wurde, war manches Geschäft ethisch fragwürdig, manches Risiko auch unvertretbar hoch. Falsche Anreize im Bonussystem, übersteigerte Gewinnansprüche, verantwortungsloses Verhalten zu Lasten Dritter - da war viel fehlgeleitete Kreativität im Spiel. // Hinzu kamen Mängel in der staatlichen Aufsicht und Regulierung, eine Politik des billigen Geldes und eine hohe Verschuldung bei Staaten, Unternehmen und Bürgern. Das alles trug dazu bei, dass die Stabilität des ohnehin extrem komplexen Finanzsystems unterminiert wurde. Einzelne Banken mussten, weil too big to fail, von der Politik gerettet werden, natürlich auf Kosten der Steuerzahler. So wurde ein zentrales Prinzip der Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt: Wer Risiken eingeht, muss für Verluste haften. // Das alles ist oft und völlig zu Recht kritisiert worden - auch ich habe mich gelegentlich kritisch dazu geäußert. // Andererseits ist aber auch richtig: Es hat sich inzwischen viel getan. Banken müssen heute mehr Eigenkapital vorhalten als vor der Krise. Neue Regeln sollen riskante Geschäfte kontrollierbarer, durchschaubarer machen. Mit Stresstests wird die Überlebensfähigkeit der Banken im Krisenfall überprüft. Und nicht zuletzt haben viele Institute Fehler eingestanden, sie haben neue Geschäftsmodelle entwickelt und sie haben sich ethischen Fragen gestellt. Kein Zweifel: Die Branche befindet sich im Wandel. // Ein Zwischenfazit fast sieben Jahre nach Beginn der Krise fällt also gemischt aus: Fehler sind erkannt, politische und unternehmerische Reformen auf dem Weg. Dieser Prozess ist in vollem Gang, aber er ist noch lange nicht abgeschlossen. // So will ich heute weder Bankenbeschimpfung betreiben noch kann ich eine heile Bankenwelt besingen. // Vielmehr möchte ich einen Schritt zurücktreten und mit etwas Grundlegendem beginnen: Ich möchte über Geld sprechen. // Nun wird mancher denken: nicht die originellste Idee auf einem Deutschen Bankentag. Aber ganz so naheliegend ist das Thema eben doch nicht. Denn es ist in unserer Gesellschaft ja keineswegs selbstverständlich, über Geld zu sprechen. Ganz im Gegenteil, es heißt doch oft: Über Geld spricht man nicht! Das gilt als anstößig, als unmanierlich. Es mag im Privatleben durchaus Gründe für diese Meinung geben. Im öffentlichen Leben aber, in der Sozialen Marktwirtschaft, wäre eine solche Haltung fatal. So, als ob sich die Bürger in unserer Demokratie auf die Maxime einigten: "Über Politik spricht man nicht!" // Geld verleiht Einfluss, aber es erzeugt auch Abhängigkeiten. Man kann es verdienen, sparen und anlegen - und dann darauf vertrauen, dass andere es vermehren. Man kann es sich leihen und muss es anschließend zurückzahlen. Banken sind Mittler zwischen Schuldnern und Gläubigern, und sie selbst sind beides: Schuldner und Gläubiger. Geld und Kredit, Forderungen und Verbindlichkeiten erzeugen Abhängigkeiten. Und wo Abhängigkeiten entstehen, da wird auch Macht ausgeübt. // Welche Macht heute von Banken und Finanzmärkten ausgeht, lässt eine einzige Zahl erahnen: 30 Billionen Euro - das ist die Summe der Bankbilanzen im Euroraum. Seit der Finanzkrise hat sich der Wert der weltweit zirkulierenden Schuldtitel noch einmal erhöht. Noch nie gab es so viele Schulden, und noch nie gab es so viel Vermögen wie heute. Nie war also die Rolle der Vermittler zwischen Gläubigern und Schuldnern wichtiger. // Die Finanz- und Schuldenkrise hat uns vor Augen geführt, welche Konsequenzen es haben kann, wenn Akteure versagen und die Kontrolle lückenhaft ist oder gar ausbleibt. Gerade weil die Wirkungsmacht der Finanzwirtschaft so groß ist und so weit in die Lebenswirklichkeit der Menschen hineinreicht, gerade deshalb ist unser Wirtschaftssystem zwingend darauf angewiesen, dass alle Akteure informiert und verantwortungsbewusst handeln. Alle Akteure, was heißt das? Für mich erstens: die Banken, also ihre Mitarbeiter und Manager. Zweitens die Bürger, die als Anleger nicht nur nach Renditeverheißungen schielen dürfen, sondern auch nach dem Risiko fragen sollten, das ihnen allerdings nicht verborgen bleiben darf. Und drittens die Politik, die vor der Herausforderung steht, die Marktordnung fortzuentwickeln und kluge Regeln zu formulieren, die helfen, die Kräfte des Marktes freizusetzen und gleichzeitig Missbrauch zu verhindern. // Lassen Sie mich mit der besonderen Verantwortung der Banken beginnen. // Es lohnt sich, einen Blick auf die Geschichte Europas zu werfen, um zu verstehen, welche Rolle Banken und Geldwirtschaft beim Weg in die Neuzeit spielten. Damals, als Markt- und Münzrechte verliehen wurden, als die Städte aufblühten, als das Geldwesen sich ausbreitete und das Bankenwesen entstand, da löste sich Europa aus dem Mittelalter. Der Raum des Handels und Austausches wuchs. Und das war gut für die Bürger der damaligen Zeit. Und als sich das Bürgertum im 19. Jahrhundert zunehmend emanzipierte, da öffnete sich das Bankwesen für Handwerker, Kleinunternehmer und Bauern - und für ihre Ideen. Zur gleichen Zeit entstanden damals die Genossenschaftsbanken, die vom Gedanken der gemeinschaftlichen Selbsthilfe geprägt waren. Diese Bankenwelt, die aus großen Universalbanken und Spezialinstituten, aus Sparkassen und Privatbanken besteht, sie ist heute ein Spiegel der deutschen Wirtschaft in ihrer ganzen Vielfalt - vom Mittelstand bis zu den international aktiven Großunternehmen. // Bei dieser Gelegenheit möchte ich sagen, dass es sich lohnt, an diesem Neben- und Miteinander von Privat- und Genossenschaftsbanken sowie öffentlich-rechtlichen Sparkassen festzuhalten! So viel muss sein auf einem Bankentag. // Heute ist fast jeder Bundesbürger ein Bankkunde, dem Girokonto, Sparbuch, Kreditkarte, Privatdarlehen und manchmal auch ein Wertpapierdepot zur Verfügung stehen. Weil so viele Menschen so einfach so viele Finanzprodukte kaufen können - übrigens durchaus ermutigt von der Politik -, weil in der Branche so vieles neu, schnell und unübersichtlich ist, wächst ihren Managern und Mitarbeitern eine besondere Verantwortung zu - für ihre Kunden und für das Funktionieren unserer Sozialen Marktwirtschaft und damit letztlich für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Staat und Gesellschaft. // Worauf kommt es also an? Auch wenn es ein wenig altmodisch klingt: Mitarbeiter von Banken dürfen sich durchaus am Ideal des ehrbaren Bankiers orientieren, gerade in Zeiten, da die Geschäfte so komplex sind wie nie zuvor. Sie müssen durch Seriosität und Sachkenntnis überzeugen, müssen ihr Handeln erklären können, Chancen und Risiken offenlegen. Und zwar nicht nur im Kleingedruckten, sondern im Klartext. Nicht nur zur eigenen rechtlichen Absicherung, sondern zur bestmöglichen Aufklärung der Kunden. So wird vermieden, dass sich das Risiko, für das sich ein Kunde bewusst entscheidet, in eine Gefahr verwandelt, der er hilflos ausgeliefert ist. // Meine Damen und Herren, an diesem Punkt sehe ich Sie in der Bringschuld! // Ich weiß sehr wohl: Die meisten Akteure des Bankgewerbes in unserem Land halten sich an diese Regeln. Sie haben nichts gemein mit dem Finanzjongleur, der in manchem Hollywoodfilm eine Hauptrolle spielt, sondern sie vergeben Firmen- und Hypothekenkredite, informieren über Spareinlagen und Altersvorsorge - und leisten dabei gute Arbeit. Sie tragen bei zu Wachstum und Dynamik, Beschäftigung und Innovation. // Vertrauen zu erwerben und zu erhalten liegt im eigenen Interesse der Banken. Denn sonst entziehen sie sich selbst und dem Markt die Geschäftsgrundlage. Nichts illustriert dies besser als der Zusammenbruch des Geldmarktes zu Beginn der Finanzkrise, damals haben sich nicht einmal die Banken untereinander vertraut. // Damals zeigte sich, was ich einmal die "Fratze der ungezügelten Freiheit" genannt habe. Es ist die Freiheit, man könnte sagen, der Pubertierenden, die sich nur als Freiheit von etwas definiert, von Regeln, von Zwängen, und die zu wenig nach den Folgen des eigenen Handelns fragt. Dagegen ist die "Freiheit, die ich meine", und nach der wir gemeinsam streben sollten, eine Freiheit zu etwas, zu Gestaltung und Mitgestaltung. Es ist Freiheit in Verantwortung, die die Bindungen und Beziehungen zu anderen Menschen und zum Gemeinwesen respektiert und fördert. // Das ist die Freiheit der Sozialen Marktwirtschaft - nicht der grenzenlose Übermut. Diese Freiheit steht für eine Kultur der Verantwortung, die über den Bilanzgewinn hinausgeht. In unserer Wirtschaftsordnung können Privatleute und Unternehmer gutes Geld verdienen, und sie sollen es sogar. Gewinnstreben ist keinesfalls verwerflich, sondern Voraussetzung für Investitionen und Innovationen. Und wer Geschäfte macht, geht auch immer das Risiko ein zu scheitern. Zur Verantwortung aber gehört es, Verluste dann auch selbst zu tragen. Wer besonders hohe Risiken eingeht, weil er weiß, dass im Notfall ein anderer die Kosten schultern wird, der handelt diesem Prinzip zuwider. // Die Abkehr von Tugenden der Sozialen Marktwirtschaft hat das Vertrauen der Bürger in die Banken erschüttert. Und, ehrlich gesagt: Angesichts mancher Exzesse verstehe ich das auch. Zugleich habe ich den Eindruck, dass auch die Kritik an diesen Zuständen manchmal das Kind mit dem Bade ausschüttet. Sie schlägt bisweilen um in eine ganz allgemeine Skepsis gegenüber der Marktwirtschaft. Da werden Wettbewerb und Freiheit für das Problem gehalten, und nicht deren Missbrauch. Das halte ich für fatal, denn Soziale Marktwirtschaft braucht informierte Bürger, die selbstbewusst am Wirtschaftsleben teilnehmen. Und damit bin ich bei meinem zweiten Punkt angelangt, bei der Rolle der Bürger. // Henry Ford, dem amerikanischen Industriellen, wird folgende Feststellung zugeschrieben: "Es ist gut, dass die Menschen das Bank- und Geldsystem nicht verstehen, sonst hätten wir eine Revolution noch morgen früh." In einem Punkt muss ich da widersprechen: Es ist ganz und gar nicht gut, wenn Bürger einen wichtigen Wirtschaftssektor nicht hinreichend verstehen oder verstehen können. Es ist nicht gut, wenn es vielen schwerfallen muss, Sachverhalte zu durchdringen, weil ganze Teilbereiche der Gesellschaft auf kaum durchschaubare Art miteinander verflochten sind. Selbst Experten haben nach eigenem Bekunden oft nicht nachvollziehen können, was auf den Finanzmärkten tatsächlich vor sich ging. // Banken, ich habe es eben erwähnt, haben hier eine Bringschuld. Aber der Bürger, er hat durchaus auch eine Holschuld. Wer die Quellen unseres Wohlstands verstehen, wer persönliche Chancen nutzen und Risiken einschätzen will, der muss sich informieren und in Finanzfragen kompetenter werden. Er darf sich nicht auf den Standpunkt zurückziehen, dass man über Geld nicht spricht. // Zum informierten Bürger gehört doch eigentlich eine ökonomische Grundbildung. Studien belegen, dass viele Deutsche hier Nachholbedarf haben. Ich weiß, dass einiges getan wird, um ökonomisches Wissen kreativ zu vermitteln. Da gibt es Beispiele, bei denen junge Menschen in der Schule schon eigene Firmen gründen oder an der Börse handeln. Sie lernen dabei wie Unternehmer zu agieren, von der Produktentwicklung bis hin zu Marketing und Vertrieb. Auch der Bankenverband leistet auf diesem Gebiet einen guten Beitrag. Trotzdem, ich frage mich: Wird die ökonomische Bildung in unseren Schulen und Berufsschulen ausreichend berücksichtigt? Hat das Wissen über ökonomische Zusammenhänge den gleichen Rang, den die Ökonomie heute für unser Leben und Wirtschaften hat? // Das ist nicht nur wichtig, damit der Einzelne gute Entscheidungen für sich selbst treffen kann. Wie durch politische Bildung Urteilsfähigkeit und Engagement junger Mitbürger gefördert werden kann, so ist auch die Fähigkeit wichtig, wirtschaftspolitische Debatten zu verfolgen, sich dort ein eigenes Urteil zu bilden und sich selbst an den Debatten zu beteiligen. Das gehört elementar zur Demokratie. Deren Schlüsselfigur ist doch der vielzitierte "mündige Bürger". Und der ist auch gefragt, wenn es um die Gestaltung unserer Wirtschaftsordnung geht. Nicht nur politische, auch ökonomische Apathie und Unwissenheit sind gefährlich. // Wie wichtig die Fähigkeit zum öffentlichen Gespräch über wirtschaftliche Fragen ist, das zeigt sich gerade dann, wenn es darum geht, die Konsequenzen aus der Krise zu ziehen. Also: welche Regeln brauchen Banken, welche Grenzen die Märkte? Welche Rolle spielt die Geldpolitik, welche Macht darf sie ausüben? Und wie finden wir den Weg aus der hohen Staatsverschuldung? // Dabei reicht es nicht aus, individuelles und unternehmerisches Handeln in den Blick zu nehmen und nur auf die Veränderung von Mentalitäten und Geschäftsmodellen zu setzen. Das alles ist richtig. Aber es war auch die staatliche Rahmenordnung, die Fehlverhalten ermöglicht und oft auch begünstigt hat. Und damit bin ich beim dritten und letzten Punkt. // Seit dem G20-Gipfel vor fünf Jahren in Washington wird daran gearbeitet, Banken stärker in Haftung zu nehmen und Regeln zu setzen, um Krisen weniger wahrscheinlich zu machen. Wir Europäer schaffen mit der Bankenunion eine einheitliche Aufsicht im Euroraum und neue Verfahren, um Eigner und Gläubiger in Haftung zu nehmen, wenn Banken ins Schlingern geraten. Damit kann es uns in Europa gelingen, Marktwirtschaft und Währungsunion zu stärken. // Es würde uns guttun, wenn solche wichtigen Fragen nicht allein von kau Fachpolitikern und Experten diskutiert würden, sondern stärker als bisher auch von Bürgern und Medien. Denn es wird weiter um das Ausmaß der Regulierung gerungen werden, gerungen werden müssen. Wir müssen uns fragen: Wurde wirklich schon genug getan, um das Finanzsystem krisenfester zu machen und Exzesse zu vermeiden? Oder geht manche Regel gerade für kleine Banken, die nicht "systemrelevant" sind und mit anderen Banken verflochten sind, vielleicht schon zu weit? // Dazu kann es durchaus unterschiedliche Antworten geben. Eine, die mir persönlich sehr sympathisch ist, stammt von Karl Popper, dem Begründer des Kritischen Rationalismus. Er hat einmal gefordert, den freien Markt nicht als "ideologisches Prinzip" zu betrachten, sondern einfach als eine Ordnung, die davon lebt, dass die Freiheit nur dort zu beschränken ist, wo es aus wichtigen Gründen notwendig ist. Er war sich bewusst, dass oftmals umstritten sein wird, wo genau die Grenze des Notwendigen verläuft. Das wird auch so bleiben. // Diese Grenze in kluger und verantwortungsvoller Weise zu ziehen, das ist Aufgabe der Politik. Sie gibt den Rahmen vor. Mindestens genauso wichtig ist es dann aber, wie Banken und Bürger diesen Rahmen füllen. Lassen Sie uns also weiter diskutieren, wie verantwortungsvolles Handeln von Banken und Bürgern zu stärken wäre. Lassen Sie uns über notwendige Grenzen und die Grenze des Notwendigen auf den Finanzmärkten diskutieren! In diesem Sinne also: Lassen Sie uns über Geld reden.
-
Joachim Gauck
Wer Sie würdigen möchte, hat es eigentlich leicht. Denn Ihr beruflicher Lebensweg ist derartig abwechslungsreich und spannend, dass man nur die einzelnen Stationen aufzuzählen hätte und eine Laudatio hielte sich gewissermaßen von selber. // Aber wer von Roman Herzog spricht, der hat natürlich zuallererst den Bundespräsidenten Roman Herzog vor Augen. Und die Erinnerung an diese fünf Jahre lässt naturgemäß die anderen Stationen des Berufslebens etwas in den Hintergrund rücken. Das Stichwort für ihre Amtszeit haben Sie bei Ihrem allerersten Auftritt schon selber gegeben, als Sie davon sprachen, Sie wollten unser Land" unverkrampft" repräsentieren. Um diesen Begriff gab es zunächst ein wenig Aufregung, da einige schon vermuteten, damit solle etwa ein verharmlosender Umgang mit der deutschen Geschichte gemeint sein. // Das war aber nicht der Fall. Sie zeigten es schon sehr bald mit jenen entschiedenen und unzweideutigen Reden, die Sie zum Gedenken an Krieg und Holocaust kurz nacheinander in Bergen-Belsen, Dresden und zum 8. Mai hielten. Hier wurde jedem klar, dass Sie nicht nur mit einer unmissverständlichen Haltung zur Vergangenheit die Köpfe und Herzen zu bewegen vermochten, sondern auch mit Lehren für die deutsche Gegenwart und Zukunft. // Auf Ihre Initiative und Ihre Entscheidung geht es auch zurück, dass wir den 27. Januar als den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begehen. Sie haben ihn proklamiert und haben gleich zwei Mal zu diesem Anlass vor dem Deutschen Bundestag gesprochen: "Wenn wir den Anfängen wehren wollen", so sagten Sie, "müssen wir unablässig wachsam sein." // Dass "unverkrampft" in diesem Zusammenhang ein besonders faires und gerechtes, aber auch ein entschiedenes Urteil ohne falsche Rücksichten meint, zeigte sich in einer anderen wichtigen Rede, die Sie uns Deutschen mit auf den Weg gegeben haben. Sie nahmen Stellung zur damaligen Debatte um Martin Walser und Ignatz Bubis. Sie bedankten sich zugleich bei beiden Kontrahenten, weil beide notwendige Fragen zur "Zukunft der Erinnerung" gestellt hatten. // Das scheint mir typisch für Sie zu sein: Bei aller Belesenheit, bei aller Hinwendung zur Geschichte, ging es Ihnen doch in erster Linie um die Zukunft unseres Landes und unserer Gesellschaft. Sie haben darüber nicht nur gesprochen, sondern dadurch dafür gesorgt, dass es seit Ihrer Amtszeit den "Deutschen Zukunftspreis" gibt. Ihr Interesse an Innovationen war stark und wirkte motivierend auf andere. Jedenfalls fanden sich genügend Mitstreiter, um den Preis auszuloben. Inzwischen haben die meisten wohl den Eindruck, den Deutschen Zukunftspreis gebe es schon immer. // So haben Sie mit dem Gedenktag des 27. Januar und mit dem Deutschen Zukunftspreis als Bundespräsident zwei bleibende Einrichtungen ins Leben gerufen, die eine die Vergangenheit, die andere die Zukunft betreffend. // Es gibt aber ein Wort - ein Stichwort -, das wie kein zweites mit Ihnen verbunden wird, nämlich den "Ruck". Es würde zu weit führen, all jene Debatten und Wortmeldungen zu rekapitulieren, die mit Ihrer sogenannten "Ruck-Rede" verbunden sind. // Ich will nur noch einmal daran erinnern, mit welch unerschrockenem Elan und tatsächlich unverkrampfter Direktheit Sie sich damals so ziemlich alle Gruppen und Grüppchen des Landes vorgeknöpft hatten, um allen, wirklich allen Mut und Lust zur Veränderung zu machen - Mut und Lust, eingefahrene Denkbahnen zu verlassen. // Eine der Wirkungen dieser Rede ist nun für uns Nachfolger im Amt die mit voraussagbarer Sicherheit immer wieder aufkommende Frage von Journalisten, ob diese oder jene Rede des Bundespräsidenten denn nun seine "Ruck-Rede" gewesen sei oder wann seine "Ruck-Rede" denn nun endlich komme. So haben Sie mit einem der kürzesten deutschen Wörter einen wirklich langen Schatten geworfen. // Ich sprach gerade von Ihrer Ermutigung, eingefahrene Denkbahnen zu verlassen. Das ist, wenn ich es richtig sehe, überhaupt eine Ihrer intellektuellen Lieblingsbeschäftigungen: nämlich Ihre Zuhörer durch überraschende Ideenverknüpfung und so-noch-nicht-Gedachtes zu verblüffen. Verblüffung aber nicht als Selbstzweck des Neunmalklugen, sondern als Anstoß, sich wenigstens gedanklich, gern aber auch politisch-praktisch auf Neuland zu begeben. // Gerade weil Ihnen intellektuelle Trägheit immer ein Gräuel war und ist, sind Sie zwar Mitglied einer Partei geworden, aber Ihr Denken ließ sich nicht von Parteitagsbeschlüssen leiten. Und wer glaubte, dass Sie im Bundesverfassungsgericht nun einfach die sogenannte konservative Fraktion starkmachten, der sah sich durch manches Urteil, an dem Sie beteiligt waren, zum Beispiel jenes zur Demonstrationsfreiheit in Brokdorf, eines anderen belehrt. Aber vielleicht ist das auch Ihr Begriff von Konservativismus: im Zweifel für die Freiheit - und im Zweifel nicht für die felsenfeste Überzeugung, sondern für das bessere Argument. // Dass Sie Ihre bundespräsidialen Reden zur Kultur unter dem Titel "Freiheit des Geistes" herausgegeben haben, spricht für sich. Und es passt zu ihrer unruhigen und unbequemen Art, wenn sie dort "den Mut, echte Fragen zu stellen" fordern und Geduld anmahnen, wenn es nicht sofort eine Antwort gibt: "Wo keine Fragen gestellt werden", so sagen Sie, "wird nichts wirklich Neues entstehen, da erstarren die gesellschaftlichen Verhältnisse. Wer auf Fragen verzichtet, der hat im Grunde auch auf neue Lösungen schon verzichtet." // In der Tradition des "echten Fragens" scheint mir auch das Institut zu stehen, das Ihren Namen trägt, das Roman Herzog Institut. Es versteht sich selbst als "Plattform für freies Nach-, Vor- und Querdenken." // Freies Denken in alle Richtungen: Das haben Sie in Ihren politischen Ämtern geübt, aber Sie waren lebenslang weit mehr als ein unverbindlicher Ideenschmied. Sie haben als Universitätsprofessor geforscht und gelehrt, als Minister der Exekutive angehört und als Richter und Präsident des Bundesverfassungsgerichts der Jurisdiktion. Erst dann, sozusagen nach dem akademischen und politischen Schwarzbrot - und nachdem Sie das Amt des Bundespräsidenten im Grundgesetzkommentar sorgfältig bedacht und beschrieben hatten - konnten Sie im Amt des Bundespräsidenten laut denken und frei reden. // Vieles wäre noch zu sagen, zum Beispiel zu Ihrem tatkräftigen Engagement für Europa im Verfassungskonvent, oder auch zu Ihrem jüngsten Appell, Europa neu zu denken, auch zu Ihren von tiefer Sorge getragenen Ausführungen zu Demokratie und Demoskopie. Aber wir wollen ja noch ein bisschen miteinander reden und miteinander essen und trinken. // Deswegen will ich ganz zum Schluss noch sagen: Was mich und viele andere immer sehr beeindruckt hat, das ist Ihre Gabe, auch sich selbst auf den Arm zu nehmen. Mir hat man erzählt, Sie hätten einmal auf die Frage, ob Sie sich erklären könnten, warum Sie bei den Leuten so gut ankämen, geantwortet, Sie könnten sich leider nicht von Ihrem bayrischen Dialekt befreien, und darum hätten die Zuhörer, sobald Sie den Mund aufmachten, schon das Gefühl, sie seien im Urlaub und bekämen deswegen umgehend gute Laune. Das ist nicht nur unverkrampft, das ist - verzeihen Sie: cool. // Unendlich viele Menschen in Deutschland denken gern und dankbar an Ihre Präsidentschaft zurück. Ich gehöre zu ihnen, so wie Sie, meine Damen und Herren, die Sie unserem Ehrengast freundschaftlich verbunden sind. Deshalb erheben wir voller Freude unser Glas auf Bundespräsident Roman Herzog.
-
Joachim Gauck
Wir feiern heute Abend eine der schönsten Transformationsgeschichten, die unser Land zu erzählen hat. Das Deutschlandradio ist ja nicht nur ein "Kind der Einheit", sondern es ist noch viel mehr. Gewiss ist dieser Sender - mit seinen heute drei Programmen - vor allem ein Produkt der Einheit. Aber gleichzeitig war und ist er aber auch ein Motor der Einheit. Er hat die Überwindung der Teilung begleitet, reflektiert und kommentiert. Und schließlich war das Deutschlandradio auch ein Labor der Einheit. Wie in nur wenigen anderen Institutionen haben hier Menschen mit Ost- und Westbiografien - ganz unterschiedlichen Ost- und Westbiografien übrigens - zusammen etwas Neues geschaffen. // Heute spiegelt das Deutschlandradio mit seinen Hörfunkprogrammen unser geeintes Deutschland in einem größer gewordenen Europa, in einer Welt, die sich beständig verändert. Darum bin ich gern zu Ihnen gekommen! // Es war keine leichte Geburt, damals, vor 20 Jahren. Es waren heikle Fragen zu klären. Etwa: Was soll mit dem Erbe der Hörfunksender der DDR geschehen, die als Instrumente sozialistischer Propaganda diskreditiert waren? Oder: Was tun mit RIAS und Deutschlandfunk, die mit der Vereinigung unseres Landes ihre ursprüngliche Bestimmung verloren hatten? Oder: Wie verfahren mit den Klangkörpern der Sender, das Bläserensemble des DSO haben wir gerade gehört. Die Konflikte von damals kennen viele von Ihnen natürlich weit besser als ich - Sie waren dabei. Ich will das auch nicht alles im Einzelnen nachzeichnen, das kann ich gar nicht, nur so viel will ich andeuten: Es gab auch mächtig Streit unter den Hebammen, jede hätte das Kind gern allein auf die Welt begleitet. // Am Ende stand eine bis heute einzigartige Konstruktion, die unseren Ehrengästen aus dem Ausland, von BBC und Radio France, vermutlich merkwürdig erscheint: Die ARD, das ZDF und alle 16 Bundesländer wurden per Staatsvertrag gemeinsam Träger von zwei Hörfunksendern unter einem Dach, mit Programmauftrag für ganz Deutschland. // Mindestens ebenso bemerkenswert wie das Kind aber waren die Eltern: Es gab ja deren gleich drei - und jedes Elternteil stand seinerseits für ein Stück deutscher Zeitgeschichte. // Dem Deutschlandfunk bin ich bis heute - wie übrigens viele aus dem Osten - von Herzen dankbar. Er war die bundesdeutsche Antwort auf den Deutschlandsender der DDR und hat - wie wenige andere Institutionen - die Verbindung zwischen Ost und West gehalten, als manche Landsleute im Westen schon nichts mehr über die DDR hören wollten. Der Deutschlandfunk folgte diesem Zeitgeist nicht. "Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden" - diesem Auftrag aus der Präambel des Grundgesetzes fühlte er sich stets verpflichtet. Zugleich aber hat er auch den Blick nach Europa und in die Welt geweitet. // Der Deutschlandfunk sei "Frequenz gewordene Zuverlässigkeit", schrieb die "taz" vor zwei Jahren zum 50. Geburtstag, "so etwas wie der Bundespräsident unter den Radiosendern: politisch engagiert, aber neutral und auf die großen Zusammenhänge bedacht". Das will ich nun nicht kommentieren, nur so viel: In ganz Deutschland - übrigens gerade auch in jenen Regionen, die früher in der DDR als "Tal der Ahnungslosen" bezeichnet wurden - danken es die Hörerinnen und Hörer bis heute mit großer Treue. // Auch der RIAS spielt in meinen Erinnerungen eine wichtige Rolle, eine frühe sogar. Denn damals habe ich dort Ernst Reuter gehört, als Jugendlicher. Ich habe gehört, wie er die Freiheit dieser Stadt beschworen hat, in schwierigen Zeiten. Und in den Tagen um den 17. Juni 1953 hing ich, der 13-Jährige, am Radio und hörte gebannt - wenn das Programm nicht gerade gestört wurde -, was auf den Straßen in Berlin passierte. Der Klang der Freiheitsglocke, bis zuletzt ein Markenzeichen im RIAS, hat sich mir tief eingeprägt - wie schön, dass diese Tradition bis heute fortgeführt wird! // Das dritte Elternteil nun, der Deutschlandsender Kultur, war seinerseits ein Kind der friedlichen Revolution und mit der bin ich nun einmal sehr tief verbunden. Er hatte nach dem Mauerfall Teile des ehemaligen Staatsrundfunks der DDR beerbt und dank der Unterstützung des"Runden Tisches" den 3. Oktober 1990 überlebt. In ihm spiegelt sich der Enthusiasmus der neu gewonnenen Freiheit, auch die Lust aufs Experiment. // RIAS und DS Kultur, diese scheinbar grundverschiedenen Programme aus Ost und West, zum Deutschlandradio Berlin zu vereinen, das war wahrlich eine Herausforderung, ja eigentlich ein Wagnis. Aber war es nicht bei genauem Hinsehen genauso mit der Herstellung der Deutschen Einheit? Und so, wie die Deutsche Einheit im Großen gelang, so gelang auch im Deutschlandradio Berlin die "Einheit im Kleinen": mit Euphorie und Aufbruchstimmung, aber auch mit einer gehörigen Portion Veränderungsskepsis und auch mit mancher Enttäuschung. Es gab Besitzstandsdenken und gegenseitiges Misstrauen - hier einstiger "Klassenfeind", dort Mitarbeiter des Staatsrundfunks. Aber genauso gab es auch Hilfsbereitschaft und Offenheit für das Neue. // Dieser Festakt ist ein schöner Anlass, all jenen "Danke" zu sagen, die damals unvoreingenommen aufeinander zugegangen sind. Die erst einmal gefragt haben: Was ist das für ein Mensch? Oder: Wie finden wir zusammen? Danke an all diejenigen, die gesagt haben: Wie spannend diese Zeiten sind, welch ein Glück, sie gemeinsam gestalten zu dürfen! Die nicht dem Alten nachgetrauert haben, oder auch dem verlorenen Zauber des Übergangs. Es war wichtig und es war wertvoll für das Zusammenwachsen, dass hier an dieser Stelle nicht einfach "abgewickelt" wurde, sondern Ost- und Westdeutsche gemeinsam etwas entwickelt haben, journalistische Standpunkte und Formate nämlich. // So wurde am Berliner Standort die neue Hauptstadt publizistisch vorbereitet, bevor noch Parlament und Regierung vom Rhein an die Spree kamen. So spiegelt sich im Deutschlandradio, worüber wir uns freuen und worauf wir mit Stolz blicken dürfen - das Glück der Wiedervereinigung, die unsere Nachbarn in je eigener Weise unterstützten und die dann in das Zusammenwirken unseres Kontinents einmündete. // Nun ist das Kind der Deutschen Einheit längst volljährig. Im Herbst feiern wir den 25. Jahrestag der großen Demonstrationen des Bürgermuts im Osten und den darauf folgenden Mauerfall. Heute sortiert hoffentlich niemand mehr im Deutschlandradio nach "Ossis" und "Wessis". Doch der Programmauftrag seiner Sender bleibt bestehen: die Deutschen, die politisch wie regional so unterschiedlich geprägt sind, miteinander zu verbinden. Und das in einem aufgeklärten nationalen Diskurs, wie in einer Vermittlung der verschiedenen kulturellen Traditionen. // Wir sind froh über Deutschlands eigenständige und selbstbewusste Länder. Bei uns, das wissen wir lange, ist kulturell nirgendwo "Provinz". Gerade deshalb braucht unser Land beides: Programme, die regionale Identitäten wiederspiegeln und stärken. Und Programme, die föderale Vielfalt bündeln und hörbar machen, mit Korrespondenten in Schwerin und Stuttgart, in München und Magdeburg. // Unser Land ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur zusammengewachsen, sondern es ist zugleich erwachsener geworden. Es ist nicht mehr so viel mit sich selbst beschäftigt, sondern schaut mehr und mehr nach draußen, nach Europa und in die Welt. Auch darum brauchen wir ein nationales Hörfunkangebot, das über Ereignisse in Algier und Ankara, in Kiew und Kopenhagen informiert und seinerseits Deutschlands Stimme im Ausland prägt. // Wer heute die Vielfalt unserer Hörfunklandschaft, zu der die Programme des Deutschlandradios gehören, mit fremden Ohren zu hören versucht, der kann keinen Zweifel daran haben, wie wertvoll eine öffentlich-rechtliche, aber dennoch staatsferne Säule unseres dualen Rundfunksystems ist. Die Rundfunkfreiheit des Grundgesetzes gewährleistet deshalb eine Medienlandschaft, die an Vielfalt ausgerichtet ist und eine politische Instrumentalisierung des Rundfunks verhindert. Für die heute gefeierten Programme bedeutet diese grundgesetzliche Gewährleistung: Was für ein Privileg, bundesweit und werbefrei senden zu dürfen! Welch ein Privileg, nicht auf Quote schielen zu müssen! Welch ein Privileg, noch in ganzen Sätzen Radio machen zu dürfen! // Wie alle Privilegien sind auch diese unter scharfer Beobachtung all jener, die sie nicht genießen, und auch derjenigen, die dafür bezahlen. Ihre Aufgabe, meine Damen und Herren, besteht darum auch darin, diesen Zustand, in dem Sie sich befinden, kontinuierlich zu begründen. Verlangt sind bisweilen Gratwanderungen: innovativ zu sein und neue Technologien zu nutzen - nicht aber um den Preis der Qualitätsminderung. Themen abseits vom Meinungshauptstrom zu finden - ohne dabei in einer Nische zu versickern. Komplexe Zusammenhänge auch komplex darzustellen - aber nicht zum Umschalten zu verleiten. Und wie wichtig Verantwortungsbewusstsein im Journalismus ist, das sehen wir gerade in Zeiten, in denen manche Medien zu Empörungsverstärkern mutieren, die Urteile fällen, bevor ein Sachverhalt überhaupt geklärt ist. // Die Preise, die Ihre Programme und Ihre Macherinnen und Macher in den letzten Jahren bekommen haben, zeigen: Sie werden Ihrer Verantwortung gerecht. Einen ganz frischen Preisträger haben Sie heute Abend mit der Moderation beauftragt - Kompliment, lieber Herr Scheck! // Es gäbe noch vieles zu sagen. Zu den irrwitzigen Veränderungen, die gerade die Art und Weise der menschlichen Kommunikation revolutionieren. Denken wir mal zurück: Im Jahr des Mauerfalls schrieb ein gewisser Tim Berners-Lee am Kernforschungszentrum CERN ein Papier mit dem lapidaren Titel "Informations-Management - Ein Vorschlag". Heute ist die Welt ohne seine Erfindung, das World Wide Web, kaum noch vorstellbar - und der Globus, den hier, oben auf dem Dach dieses Gebäudes, die Giganten stemmen, bekommt eine ganz neue Bedeutung. // So unmittelbar wie das Radio heute, können auch andere Medien sein. Was bleibt, ist das Bedürfnis nach verlässlicher Information, nach verständlicher Einordnung, nach Orientierung in einer Gegenwart, die viele doch als immer unübersichtlicher empfinden. Und genau dies ist ein ungeheuer wichtiger Auftrag. Denn unsere Demokratie ruht auf der Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, sich in der Unübersichtlichkeit nicht zu verlieren oder zu verirren, sondern sich eine eigene Meinung bilden zu können. // Dem Deutschlandradio, seinen Programmen und allen Verantwortlichen sage ich sowohl als Hörer als auch als Präsident: herzlichen Dank! Sie haben uns in den vergangenen 20 Jahren durch allen Wandel hindurch zuverlässig begleitet. Sie haben mit Verantwortungsbereitschaft Veränderung gewagt. Ich wünsche Ihnen den Mut, sich weiter zu wandeln, wenn es notwendig ist und die Weisheit zu erkennen, wann das notwendig ist. Und damit alles Gute für die kommenden Jahre!
-
Jane Goodall
Das Verschwinden einer einzelnen Pflanze erscheine möglicherweise als nicht sehr wichtig. Aber angenommen, Sie sind ein Wesen, das sich nur von dieser Pflanze ernährt, dann wird es ziemlich hart für Sie und Sie werden genauso verschwinden, wie Ihre Nahrung.