Zitate zu "Ende"
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Johann Heinrich Füssli
Die Nachahmung scheint dort ein Ende zu nehmen, wo das Ideale anfängt.
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Ferdinando Galiani
Nichts ist häufiger, als daß am Ende eines Streits beide Gegner um die Wette Unsinn reden.
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Otto Galo
Opportunisten sind Leute, die sich dünne machen, wenn das dicke Ende kommt.
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Joachim Gauck
"Die Freiheit in der Freiheit gestalten". Vor 23 Jahren stand ich auf den Stufen des Reichstagsgebäudes in Berlin und ich erinnere mich noch heute an den Klang der Freiheitsglocke, als um Mitternacht die Fahne der Einheit aufgezogen wurde. Es war der Abschluss einer bewegenden Zeit, vom Aufbruch im Herbst 1989 bis zum Tag der Vereinigung - für mich war es die beglückendste Zeit meines Lebens. // Der Freiheitswille der Unterdrückten hatte die Unterdrücker tatsächlich entmachtet - in Danzig, in Prag, in Budapest und in Leipzig. Was niedergehalten war, stand auf. Und was auseinandergerissen war, das wuchs zusammen. Aus Deutschland wurde wieder eins. Europa überwand die Spaltung in Ost und West. // Ich denke auch zurück an die Monate der Einigung, und nicht wenige der Abgeordneten der ersten frei gewählten Volkskammer sind heute unter uns. Wie viel Bereitschaft zur Verantwortung war damals notwendig, um Deutschland zu vereinen, wie viel Entscheidungsmut, wie viel Improvisationsgabe. Wie vieles war zu regeln: diplomatische und Bündnisfragen, grundsätzliche Weichenstellungen, hochwichtige, aber manchmal auch banale Details. Alle, die damals mitwirkten, waren Lernende, manchmal auch Irrende - aber immer waren sie, waren wir Gestaltende! Der 3. Oktober erinnert uns also nicht nur an die überwundene Ohnmacht. Er zeugt auch von dem Willen, die Freiheit in der Freiheit zu gestalten. // All das klingt nach am heutigen Tag, dem Tag der Deutschen Einheit. // Wir blicken zurück auf das, was wir konnten - dankbar für das Vertrauen, das andere in uns setzten, und stolz auf das, was wir seitdem erreicht haben: Ostdeutsche, Westdeutsche und Neudeutsche, alle zusammen - wir alle hier im Lande, zusammen mit Freunden und Partnern in Europa und der ganzen Welt. Das vereinigte Deutschland, es ist heute wirtschaftlich stark, es ist weltweit geachtet und gefordert. Unsere Demokratie ist lebendig und stabil. Deutschland hat ein Gesellschaftsmodell entwickelt, das ein hohes Maß an Einverständnis der Bürger mit ihrem Land hervorgebracht hat. Für viele Länder in der Welt sind wir sogar Vorbild geworden - für Menschen meiner Generation fast unvorstellbar. All das ist Grund zur Dankbarkeit und Freude - einer Freude, die uns heute aber vor allem Ansporn sein soll! // Unser Land steht nun wieder vor einem neuen Anfang - so wie alle vier Jahre. Wir hatten eine Wahl. 44 289 652 Deutsche haben darüber abgestimmt, welche Bürgerinnen und Bürger künftig mitbestimmen werden über die Dinge des öffentlichen Lebens. Meine Damen und Herren Abgeordnete hier: Ich wünsche Ihnen Leidenschaft, Ehrgeiz und Achtsamkeit für all das, was Sie gestalten müssen - und was auf uns zukommt. // Denn vieles fordert uns heute heraus. Besonders auf drei große Herausforderungen möchte ich heute eingehen. Entwicklungen, die nicht jederzeit und nicht für jeden im Alltag spürbar sind, weil sie langfristig wirken. Entwicklungen auch, die nicht mehr allein innerhalb der Landesgrenzen zu regeln sind. // Erstens: In einer Welt voller Krisen und Umbrüche wächst Deutschland neue Verantwortung zu. Wie nehmen wir sie an? Zweitens: Die digitale Revolution wälzt unsere Gesellschaft so grundlegend um wie einst die Erfindung des Buchdrucks oder der Dampfmaschine. Wie gehen wir mit den Folgen um? Beginnen möchte ich allerdings - drittens - mit dem demographischen Wandel. Unsere Bevölkerung wird in beispielloser Weise altern und dabei schrumpfen. Wie bewahren wir Lebenschancen und Zusammenhalt? // Tatsächlich wird es immer weniger Jungen zufallen, für immer mehr Ältere zu sorgen. Das schafft eine schwierige Lage, die unsere Kinder und Enkel möglicherweise erheblich einschränken wird. Andererseits entsteht dadurch ein Druck, der manches in Bewegung bringt, ja einfordert, was ohnehin überfällig und richtig ist. Arbeitgeber etwa sind längst dabei, um Zuwanderer zu werben. Oder ältere Menschen erhalten neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt und zudem nutzen immer mehr Ältere die Zeitspanne nach der Berufstätigkeit für bürgerschaftliches Engagement. Immer mehr Frauen streben ins Arbeitsleben und in Führungspositionen. Dort dürfen es noch mehr werden. Die starren Rollenbilder brechen weiter auf. Neue Vereinbarungen zwischen Mann und Frau, zwischen Familie und Beruf werden möglich. // Wenn die Gesellschaft der Wenigeren nicht eine Gesellschaft des Weniger werden soll, dann dürfen keine Fähigkeiten brach liegen. Wir wissen doch, dass es so viele sind, die mehr können könnten, wenn ihnen mehr geholfen und auch mehr abverlangt würde. Ich meine die formal Geringqualifizierten, die zu fördern und einzubinden sind. Ich meine Kinder und Jugendliche aus Elternhäusern, in denen Bildungsehrgeiz oder Bücher einfach fehlen. // Jeder Einzelne ist doch mit ganz eigenen Möglichkeiten geboren - und es ist ganz egal wo, in Thüringen oder Kalabrien, in Bayern oder in Anatolien. Diese Fähigkeiten gilt es zu entdecken, zu entwickeln und Menschen sogar aus niederdrückender Chancenlosigkeit herauszuholen. Bildung auch als Förderung von Urteilskraft, sozialer Verantwortung und Persönlichkeit, Bildung als Grundlage eines selbstbestimmten, erfüllten Lebens - das ist für mich ein Bürgerrecht und ein Gebot der Demokratie. // Unser Ziel muss lauten: Niemand wird zurückgelassen, nicht am Anfang und nicht am Ende eines langen Lebens. Angenommen und gestaltet, vermag der demographische Wandel unsere Gesellschaft fairer und solidarischer, aber auch vielfältiger und beweglicher und damit zukunftsfähig zu machen. // Die Bedingungen dafür zu schaffen, ist vor allem Aufgabe der Politik. Die Politik hat sich zwar auf den Weg gemacht, das sehen wir alle - aber oftmals haben wir den Eindruck, sie bewegt sich nicht immer schnell genug. Wie lange ringen wir nun schon um die frühkindliche Betreuung? Oder um die Verbesserung unserer Pflegesysteme? Oder um Modernisierung in der Einwanderungspolitik und des Staatsbürgerschaftsrechts? // Mir ist bewusst - ich müsste noch über viele innenpolitische Herausforderungen sprechen: über die Energiewende, die erst noch eine Erfolgsgeschichte werden muss. Auch über Staatsverschuldung etwa oder die niedrige Investitionsquote, die nicht ausreicht, um das zu erhalten, was vorige Generationen aufgebaut haben. Und darüber, dass noch nicht ehrlich genug diskutiert wird über die Kluft zwischen Wünschenswertem und dem Machbaren. // Viele können in den kommenden Jahren vieles noch besser machen, damit die Jahrzehnte danach gut werden. So wie wir heute davon profitieren, dass wir vor einem Jahrzehnt zu Reformen uns durchgerungen haben, so kann es uns übermorgen nutzen, wenn wir morgen - meine Damen und Herren Abgeordnete! - wiederum Mut zu weitsichtigen Reformen aufbringen. Denn wir wollen doch zeigen und wir wollen es erleben, dass eine freiheitliche Gesellschaft in jedem Wandel trotz aller Schwierigkeiten neue Entfaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen und für die Vielen erschließen kann. // Entfaltungsmöglichkeiten! Wie viele haben wir in den vergangenen Jahren hinzugewonnen, durch Internet und durch mobile Kommunikation - ein Umbruch, dessen Konsequenzen die meisten bislang weder richtig erfasst noch gar gestaltet haben. Wir befinden uns mitten in einem Epochenwechsel. Ähnlich wie einst die industrielle Revolution verändert heute die digitale Revolution unsere gesamte Lebens- und Arbeitswelt, das Verhältnis vom Bürger zum Staat, das Bild vom Ich und vom Anderen. Ja, wir können sagen: Unser Bild vom Menschen wird sich ändern. // Nie zuvor hatten so viele Menschen Zugang zu so viel Information, nie zuvor konnte man weltweit so leicht Gleichgesinnte finden, war es technisch einfacher, Widerstand gegen autoritäre Regime zu organisieren. Manchmal denke ich: Hätten wir doch 1989 damals in Mittel- und Osteuropa uns so miteinander vernetzen können! // Die digitalen Technologien sind Plattformen für gemeinschaftliches Handeln, Treiber von Innovation und Wohlstand, von Demokratie und Freiheit, und nicht zuletzt sind sie großartige Erleichterungsmaschinen für den Alltag. Sie navigieren uns zum Ziel, sie dienen uns als Lexikon, als Spielwiese, als Chatraum, und sie ersetzen den Gang zur Bank ebenso wie den ins Büro. // Wohin dieser tiefgreifende technische Wandel führen wird, darüber haben wir einfachen "User" bislang wenig nachgedacht. Erst die Berichte über die Datensammlung der Dienste befreundeter Länder haben uns mit einer Realität konfrontiert, die wir bis dahin für unvorstellbar hielten. Erst da wurde den meisten die Gefahr für die Privatsphäre bewusst. // Vor 30 Jahren, erinnern wir uns, wehrten sich Bundesbürger noch leidenschaftlich gegen die Volkszählung und setzten am Ende das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch. Dafür hat unser Bundesverfassungsgericht gesorgt. Und heute? Heute tragen Menschen freiwillig oder gedankenlos bei jedem Klick ins Netz Persönliches zu Markte. Viele der Jüngeren vertrauen sozialen Netzwerken sogar ihr ganzes Leben an. // Ausgeliefertsein und Selbstauslieferung sind kaum voneinander zu trennen. Es schwindet jene Privatsphäre, die unsere Vorfahren doch einst gegen den Staat erkämpften und die wir in totalitären Systemen gegen Gleichschaltung und Gesinnungsschnüffelei so hartnäckig zu verteidigen suchten. Öffentlichkeit erscheint heute vielen nicht mehr als Bedrohung, sondern als Verheißung, die Wahrnehmung und Anerkennung verspricht. // Sie verstehen nicht oder sie wollen nicht wissen, dass sie so mit bauen an einem digitalen Zwilling ihrer realen Person, der neben ihren Stärken eben auch ihre Schwächen enthüllt - oder enthüllen könnte. Der ihre Misserfolge und Verführbarkeiten aufdecken oder gar sensible Informationen über Krankheiten preisgeben könnte. Der den Einzelnen transparent, kalkulierbar und manipulierbar werden lässt für Dienste und Politik, Kommerz und Arbeitsmarkt. // Wie doppelgesichtig die digitale Revolution ist, zeigt sich besonders am Arbeitsplatz. Vielen Beschäftigten kommt die neue Technik entgegen, weil sie erlaubt, von Hause oder gar im Café zu arbeiten und die Arbeitszeit völlig frei zu wählen. Gleichzeitig wird aber die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit verwischt, was ständige Verfügbarkeit bedeuten kann - rund um die Uhr. // Historisch betrachtet, sind Entwicklungssprünge nichts Neues. Im ersten Moment erleben wir sie allerdings ratlos, vielleicht auch ohnmächtig. Naturgemäß hinken dann Gesetze, Konventionen und gesellschaftliche Verabredungen der technischen Entwicklung hinterher. Wie noch bei jeder Innovation gilt es auch jetzt, die Ängste nicht übermächtig werden zu lassen, sondern als aufgeklärte und ermächtigte Bürger zu handeln. So sollte der Datenschutz für den Erhalt der Privatsphäre so wichtig werden wie der Umweltschutz für den Erhalt der Lebensgrundlagen. Wir wollen und sollten die Vorteile der digitalen Welt nutzen, uns gegen ihre Nachteile aber bestmöglich schützen. // Es gilt also, Lösungen zu suchen, politische und gesellschaftliche, rechtliche, ethische und ganz praktische: Was darf, was muss ein freiheitlicher Staat im Geheimen tun, um seine Bürger durch Nachrichtendienste vor Gewalt und Terror zu schützen? Was aber darf er nicht tun, weil sonst die Freiheit der Sicherheit geopfert wird? Wie muss der Arbeitsmarkt aussehen, damit der allzeit verfügbare Mensch nicht zu so etwas wie einem digitalen Untertanen wird? Wie existieren Familie und Freundschaften neben den virtuellen Beziehungen? Wie können Kinder und Jugendliche das Netz nutzen, ohne darin gefangen zu werden? // Wir brauchen also Gesetze, Konventionen und gesellschaftliche Verabredungen, die diesem epochalen Wandel Rechnung tragen. // Gerade in Demokratien muss Politik schon reagieren, wenn ein Problem erst am Horizont auftaucht. Und sie muss ständig nachjustieren, sobald die Konturen klarer hervortreten. Das ist übrigens eine ihrer Stärken. // Diese Stärke ist es auch, die wir für eine weitere Herausforderung unserer Zeit brauchen: die europäische Integration. Ohne Zweifel ist das Europa in der Krise nicht mehr das Europa vor der Krise. Risse sind sichtbar geworden. // Die Krise hat Ansichten und Institutionen verändert, sie hat Kräfte und Mehrheiten verschoben. Die Zustimmung zu mehr Vergemeinschaftung nimmt ab. Nicht die europäischen Institutionen, sondern nationale Regierungen bestimmen wesentlich die Agenda. Zudem tauchen in Ländern, denen die Rezession vieles abverlangt, alte Zerrbilder eines dominanten Deutschlands auf. // Dies alles will diskutiert und abgewogen sein. Die gute Nachricht lautet: Ein starkes Band aus Mentalität, Kultur und Geschichte, es hält Europa zusammen. Entscheidend ist aber unser unbedingter Wille zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft. Europa, so spüren wir jetzt, kennt nicht nur eine Gestalt, auch nicht nur eine politische Organisationsform seiner Gemeinschaft. Da haben wir zu streiten und zu diskutieren über die beste Form der Zusammenarbeit, nicht aber über den Zusammenhalt Europas! Und unsere Einigungen haben wir so zu kommunizieren, dass die europäischen Völker die Lösungen akzeptieren und mittragen können. Es bleibt die Aufgabe der Politik - und als Bundespräsident nehme ich mich da überhaupt nicht aus - das Europa Verbindende zu stärken. // Was ist nun die Aufgabe Deutschlands in Europa und in der Welt? Manche Nachbarländer fürchten ja eine starke Rolle Deutschlands, aber andere wünschen sie sich. Auch wir selbst schwanken: Weniger Verantwortung, das geht eigentlich nicht länger, aber an mehr Verantwortung müssen wir uns erst noch gewöhnen. // Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb die politische Denkerin Hannah Arendt: "Es sieht so aus, als ob sich die Deutschen nun, nachdem man ihnen die Weltherrschaft verwehrt hat, in die Ohnmacht verliebt hätten." Deutschland hatte, wir wissen es alle, Europa in Trümmer gelegt und Millionen Menschenleben vernichtet. Was Arendt als Ohnmacht beschrieb, hatte damals eine politische Ratio. Das besiegte Deutschland musste sich erst ein neues Vertrauen erwerben und seine Souveränität wiedererlangen. // Vor wenigen Wochen, bei meinem Besuch in Frankreich, da wurde ich allerdings mit der Frage konfrontiert: Erinnern wir Deutsche auch deshalb so intensiv an unsere Vergangenheit, weil wir eine Entschuldigung dafür suchen, den heutigen Problemen und Konflikten in der Welt auszuweichen? Lassen wir andere unsere Versicherungspolice zahlen? // Es gibt natürlich Gründe, diese Auffassung zu widerlegen oder ihr zu widersprechen. Die Bundeswehr hilft, in Afghanistan und im Kosovo den Frieden zu sichern. Deutschland stützt den Internationalen Strafgerichtshof, es fördert ein Weltklimaabkommen und engagiert sich stark in der Entwicklungszusammenarbeit. Deutschlands Beiträge und Bürgschaften helfen, die Eurozone zu stabilisieren. // Trotzdem, es mehren sich die Stimmen innerhalb und außerhalb unseres Landes, die von Deutschland mehr Engagement in der internationalen Politik fordern. In dieser Liste findet sich ein polnischer Außenminister ebenso wie Professoren aus Oxford oder Princeton. Ihnen gilt Deutschland als schlafwandelnder Riese oder als Zuschauer des Weltgeschehens. Einer meiner Vorgänger, Richard von Weizsäcker, ermuntert Deutschland, sich stärker einzubringen für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik. // Es stellt sich tatsächlich die Frage: Entspricht unser Engagement der Bedeutung unseres Landes? Deutschland ist bevölkerungsreich, in der Mitte des Kontinents gelegen und die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Zur Stärke unseres Landes gehört, dass wir alle Nachbarn als Freunde gewannen und in internationalen Allianzen zu einem verlässlichen Partner geworden sind. So eingebunden und akzeptiert, konnte Deutschland Freiheit, Frieden und Wohlstand sichern. Diese politische Ordnung und unser Sicherheitssystem gerade in unübersichtlichen Zeiten zu erhalten und zukunftsfähig zu machen - das ist unser wichtigstes Interesse. // Deshalb ist es richtig, wenn andere ebenso wie wir selbst fragen: Nimmt Deutschland seine Verantwortung ausreichend wahr etwa gegenüber den Nachbarn im Osten, im Nahen Osten oder am südlichen Mittelmeer? Welchen Beitrag leistet Deutschland, um die aufstrebenden Schwellenländer als Partner der internationalen Ordnung zu gewinnen? // Und wenn wir einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anstreben: Welche Rolle sind wir dann bereit, bei Krisen in ferneren Weltregionen zu spielen? // Unser Land ist keine Insel. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, wir könnten verschont bleiben von den politischen und ökonomischen, den ökologischen und militärischen Konflikten, wenn wir uns an deren Lösung nicht beteiligen. // Ich mag mir nicht vorstellen, dass Deutschland sich groß macht, um andere zu bevormunden. Aber ich mag mir genauso wenig vorstellen, dass Deutschland sich klein macht, um Risiken und Solidarität zu umgehen. Und liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ein Land, das sich so als Teil eines Ganzen versteht, muss weder bei uns Deutschen auf Abwehr noch bei unseren Nachbarn auf Misstrauen stoßen. // Nun habe ich Ihnen an diesem Tag der Deutschen Einheit einiges vorgetragen zur Rolle Deutschlands in der Welt, zur digitalen Revolution und zum demographischen Wandel. Was aber ist die Grundmelodie? Ich sehe unser Land als Nation, die nach Jahrzehnten demokratischer Entwicklung "Ja" sagt zu sich selbst. Als Nation, die das ihr Mögliche und ihr Zugewachsene tut, solidarisch im Inneren wie nach außen. Als Nation, die in die Zukunft schaut und dort nicht Bedrohung sieht, sondern Chancen und Gewinn. // Wir hatten eine Wahl - und wir haben sie weiterhin! Der 3. Oktober zeigt: Wir sind nicht ohnmächtig. Und handlungsfähig, das sind wir nicht erst dann, wenn wir das Ende einer Entwicklung kennen. Wir sind es bereits, wenn wir Verantwortung annehmen, mit dem, was wir jetzt wissen, jetzt können, gestaltend eingreifen. // Wir, zusammen einzigartig, schauen uns an diesem Festtag um. Wir sehen, was uns in schwierigen Zeiten gelungen ist. Und wir sind dankbar für all das, was gewachsen ist. Und eine Verheißung kann uns zur Gewissheit werden: Wir müssen glauben, was wir konnten. Dann werden wir können, woran wir glauben.
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Joachim Gauck
"Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt / schwankt sein Charakterbild in der Geschichte." Wenn je auf einen politisch wirkenden Deutschen dieses Schiller'sche Wort aus dem Prolog zu "Wallenstein" zutrifft, dann auf ihn: Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen, kurz: Fürst von Bismarck - preußischer Ministerpräsident, Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes, Reichskanzler des deutschen Kaiserreiches; kurz: eiserner Kanzler. // Bismarck: Preußen, Junkertum, Kaiserreich, Friedrichsruh, Spiegelsaal, Emser Depesche, Kanzelparagraph, Sozialistengesetz - sind das nicht alles Stichworte einer längst versunkenen Epoche? Stoff höchstens für Denkmäler und Museen? Sind das nicht Geschichten aus grauer Vorzeit? // Dazu eine kleine Zeitrechnung: Otto von Bismarck war noch für 22 Jahre Zeitgenosse Konrad Adenauers. Und wir - zumindest viele von uns - waren noch Zeitgenossen Konrad Adenauers, eines anderen großen Kanzlers der Deutschen. Für mich jedenfalls trifft das zu. So gesehen ist Bismarck also doch noch gar nicht so lange her. // Bismarck hat sich, wie andere geschichtliche Persönlichkeiten, die aus den Zeitläuften besonders herausragen, den zentralen Fragen und Herausforderungen seiner Epoche gewidmet. // "Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf. Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus." // In diesen beiden Versen, die Goethe und Schiller gemeinsam verfasst haben, ohne dass man sagen könnte, wer von den beiden welchen Anteil daran hatte, in diesen sogenannten Xenien drückt sich die ganze deutsche Frage aus, die spätestens seit der französischen Revolution und dann stärker noch seit den Befreiungskriegen die meisten Länder deutscher Zunge beschäftigt: Deutschland - aber wo liegt es, aber was ist es, aber wie kommt es zusammen? // Deutschland: Das ist da zwar längst ein Begriff, aber zu diesem Begriff gibt es keine politische Entsprechung. Die Nation: Eine tiefe, seltsam dringliche Sehnsucht nach Einheit erfasst die deutschen Menschen um 1800, obwohl doch, wie ja die Schiller-Goethe'schen Verse es sagen, Kultur und Geist, Bildung und Humanität blühen und gedeihen - und obwohl die Kultur doch eine Einheit bereits darstellt. Später wird man von Deutschland als einer Kulturnation sprechen, zu der die Königreiche, die Fürsten- und Herzogtümer, Grafschaften und geistlichen Territorien verbunden durch die deutsche Sprache längst geworden waren, obwohl oder gerade weil es eine politische Einheit nicht gab. // Eine Nation sein - diese Idee greift, wir wissen es, auch anderswo um sich im Europa des 19. Jahrhunderts. Geboren ist sie im revolutionären Frankreich, davon ist sie so sehr geprägt, dass man geradezu sagen kann, "Nation" sei der "Eigenname Frankreichs". Nation - das hört sich für die Völker Europas auch sofort nach "Freiheit" an. Denn das gehört nach 1792 doch zusammen: Die eine und unteilbare Nation und die Menschen- und Freiheitsrechte, die in ihr gelten sollen. Dass und wie diese Ideen dann mit Gewalt exportiert werden sollten, worunter gerade Deutschland zu leiden hatte, steht auf einem anderen Blatt. // Nach den Befreiungskriegen, nach der Phase der Restauration und nach der letztlich gescheiterten Revolution von 1848 war in Deutschland die Enttäuschung groß. Nationale Einheit und demokratische Freiheit schienen in weite Ferne gerückt. Dazu kamen die umstürzenden neuen technischen und industriellen Entwicklungen, die eine historisch unerhörte Akzeleration bedeuteten. Städte wuchsen plötzlich, eine Massengesellschaft entstand, der Fortschritt brachte fast jährlich neue Segnungen, und gleichzeitig musste man mit seinen unerwünschten Folgen umgehen. // Die Welt, in der Otto von Bismarck politisch zu wirken begann, war also in jeder Hinsicht in Bewegung. "Das ruhelose Reich" hat Michael Stürmer seine Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überschrieben. Dort heißt es: "Nationale Leitbilder wurden [ ] Ersatzformen des Glaubens, gestiftet durch Verlust der Tradition, provoziert durch das Ende aller Sicherheit und erwachsen aus einem Wandel, über dessen Ziele es so wenig Gewissheit gab wie über die Frage, ob er überhaupt ein Ziel habe. Seit 1848 wurde die Nationalisierung der Massen' Grundzug der Epoche " // Wenn wir heute Bismarcks gedenken, der zu den wirkmächtigsten, natürlich auch umstrittensten Gestalten und Gestaltern der deutschen Geschichte gehört, dann müssen wir vor allem die Fragen anschauen, auf die er mit seinem Wirken eine Antwort zu geben versucht hat. // Es ist erstens die nationale Frage, das heißt, in welcher Form kann und soll Deutschland geeint sein? // Es ist zweitens die internationale Frage: Welchen Platz soll Deutschland in der Welt einnehmen, im europäischen Gleichgewicht der Mächte? // Es ist drittens die innenpolitische Frage: Wie soll das Land aussehen, wie kann innerer Frieden hergestellt werden, wie soll seine kulturelle und besonders seine soziale Verfassung aussehen? // Diese Fragen - wir spüren es - sind nicht einfach historisch überholt. Wir erkennen darin - natürlich verwandelt und mit anderen Vorzeichen - Konturen unserer heutigen Fragen wieder. // So wie immer wieder über die Gestaltung von Einheit in Vielfalt nachgedacht wird - Stichwort Föderalismusreform -, so wie wir über Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt immer wieder neu nachdenken, so beschäftigt uns auch die innere Gestaltung unseres Gemeinwesens, das heute durch Einwanderung und demographischen Wandel vor neuen kulturellen und sozialen Herausforderungen steht. // Beispielhaft ist Bismarcks Energie, sein politischer Wille und seine Leidenschaft, sich so wesentlichen Fragen seiner Zeit zu stellen. Beispielhaft seine Fähigkeit, den richtigen Moment abwarten zu können, beispielhaft auch seine Entschlusskraft und seine Standhaftigkeit. // Wir werden natürlich den Herausforderungen, denen wir heute gegenüberstehen, anders begegnen, ja anders begegnen müssen als Bismarck. Aber nicht deshalb, weil er das Land auf einen abschüssigen Weg geführt hätte. Nein: Es führt eben kein gerader Weg von Bismarck zu Hitler, wie gelegentlich behauptet worden ist. Das ist nicht nur eine unhistorische Spekulation, sondern auch eine ungerechte Beurteilung oder besser: Verurteilung eines Strategen, dem es doch nie um schlichtes Vormachtstreben oder gar so etwas wie ein "Großdeutsches Reich" ging. // Aber was für ihn noch quasi legitime politische Manöver waren, wie etwa Kriege zu führen, um innenpolitische Ziele zu verfolgen oder außenpolitische Interessen zu wahren, das kommt für uns selbstverständlich nicht mehr in Frage - und wo das heute noch anderenorts geschieht, da müssen wir Protest einlegen und nötigenfalls auch Hilfe oder Widerstand leisten. // Die Einheit des Reiches so zu gestalten, dass sich auch die Kleinen nicht übervorteilt fühlen, und dass ein gerechter Ausgleich geschaffen wird, darauf hat Bismarck immer geachtet - und manch einer sieht das als vorbildlich für Europa und dessen Einigungsprozess an, der im gerechten Ausgleich der Einzelinteressen und unter Wahrung der Interessen auch der kleineren Partner gestaltet werden soll. // Eine besondere List der Geschichte ist wohlbekannt, sozusagen die Dialektik des Paternalismus: Um seine sozialistischen Gegner zu bekämpfen, schuf Bismarck die damals weltweit fortschrittlichste Sozialgesetzgebung. Das hat Deutschland nachhaltig geprägt. Gerade die Bismarckzeit zeigt, dass sich soziale Sicherheit und dynamische wirtschaftliche Entwicklung nicht ausschließen, sondern dass sie im Gegenteil einander stärken können und sollten. Inzwischen haben wir allerdings auch gelernt, ohne Bevormundung von oben eine partnerschaftlich strukturierte, soziale Marktwirtschaft zu gestalten. // Ein bleibender Schatten auf Bismarcks Wirken ist sein hartnäckiger, auch unbelehrbarer Drang, Reichsfeinde zu identifizieren und möglichst auszuschließen, namentlich natürlich Katholiken und dann Sozialisten. Zeitgenossen mit Rang und Namen haben ihn dabei unterstützt. Das war er nicht allein. Das war nicht nur kontraproduktiv, es hat auch lange nachwirkende Wunden geschlagen und Vorurteile auf Jahrzehnte befestigt. // Wie lange mussten sich zum Beispiel auch Sozialdemokraten, bis hin zu Willy Brandt, noch als "vaterlandslose Gesellen" oder die katholische Kirche in Deutschland sich als Vertreterin einer "auswärtigen Macht" bezeichnen lassen! Das war Bismarck'sches Denken in Feindbildern. Wir dürfen es durchaus so formulieren, auch wenn Bismarck selbst die eben genannten Frontlinien später nivellierte, wenn er etwa mit dem Zentrum einen Modus Vivendi fand, der sich auf lange Sicht positiv auf das Miteinander in Deutschland auswirken sollte. // Der Blick auf die Bismarck-Ära zeigt uns, wie wichtig es war, dass die frühe Bundesrepublik eine Gesellschaft zu errichten vermochte, in der die Gräben zwischen den Kulturen und Religionen und - sagen wir es mit einem Wort von damals - den Klassen nicht vertieft, sondern überbrückt oder gar überwunden worden ist. // Bismarcks "Revolution von oben", wie man sein Werk genannt hat, hat damals eine historisch lang wirkende und tiefgreifende Antwort gegeben auf die große Frage der Epoche nach dem Ort und der Gestalt Deutschlands. // Wir stehen heute vor ähnlichen großen Fragen. Unsere Antworten werden andere sein. Aber den Mut, sich mit Tatkraft und Optimismus diesen Herausforderungen zu stellen, den können wir von ihm lernen.
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Joachim Gauck
Auf einem Historikertag darf man doch sicher mit einem Kaiser beginnen. Ich beginne mit dem letzten deutschen Kaiser, Franz Beckenbauer. Er erzählt gelegentlich von einem Ereignis, bei dem er selber ausnahmsweise einmal Verlierer war. Es handelt sich um das Vorrundenspiel der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland 1974, genauer gesagt in der Bundesrepublik Deutschland, bei dem die Auswahl der DDR gegen die der Bundesrepublik 1:0 gewann. // Franz Beckenbauer soll dann, wie auch andere Akteure damals, immer sinngemäß gesagt haben: "Ohne die Niederlage gegen die DDR wären wir '74 nie Weltmeister geworden. Denn nur dadurch wurden wir radikal mit unseren Schwächen konfrontiert, die wir dann in der Folge abstellen konnten". Also: Eine schmähliche Niederlage, ausgerechnet gegen die DDR, bereitete für die Mannschaft der Bundesrepublik den großen Triumph, die Weltmeisterschaft vor. // Ich erzähle diese deutsch-deutsche Sportanekdote natürlich, weil sie auf direkte und einschlägige Weise zum Thema passt, das Sie sich gegeben haben, wenn Sie hier auf dem 50. Deutschen Historikertag über Gewinner und Verlierer sprechen wollen. Ich gestehe, dass mich dieses Thema naturgemäß sehr fasziniert, und mich interessiert daran besonders der immer wieder - nicht nur im Sport - zu beobachtende dialektische Umschlag zwischen Sieg und Niederlage. // Bevor ich näher darauf zu sprechen komme, zunächst ein Wort zum heutigen Anlass und zum heutigen Ort: Göttingen. // "In Göttingen schien die Sonne." So beginnt Walter Kempowski in seinem Roman "Herzlich Willkommen" die Kapitel, die von der Studentenzeit des Erzählers handeln. // "In Göttingen schien die Sonne": Dieser oberflächlich so schlichte Satz ist die Überschrift über ein ganz neues Leben für jenen nicht mehr so ganz jungen Erzähler. Als Kind hatte er den Krieg und die Nazizeit erlebt und die Zerstörung seiner - und übrigens auch meiner - Heimatstadt Rostock, er hatte den Verlust allen Familienbesitzes erlitten, und war dann selber von der sowjetischen Besatzungsmacht aus politischen Gründen gefangen und gequält worden, hatte acht Jahre Zuchthaus in Bautzen erlebt, mit Einzelhaft. All das hatte er hinter sich. Und zudem musste er mit der Schuld leben, dass durch ihn auch seine Mutter und sein Bruder in Haft gekommen waren. Kurz: Er hatte selber schon genügend Geschichte, ja, sogar Weltgeschichte am eigenen Leib erlebt und erlitten. // Der kommt nun, Mitte der 1950er Jahre, hierher ins sonnenbeschienene Göttingen, in die bemüht heile Welt der westlich-westdeutschen Nachkriegszeit, um an der Pädagogischen Hochschule zu studieren, unter anderem Geschichte - dort ausgerechnet, wo die Geschichte nicht nur stillzustehen, sondern, wie er findet, gar nicht stattgefunden zu haben scheint: "Göttingen, das war eine Stadt, als wenn nichts gewesen wäre, eine Stadt, so wie man sie in älteren Fotobänden abgebildet sieht, in Brauntönen, Fachwerkgassen im Gegenlicht." // Nun wissen wir heute, dass auch in Göttingen die Zeit nie stehen geblieben ist. Auch das ehemals so beschauliche Städtchen beherbergt heute eine Universität mit bald 30.000 Studentinnen und Studenten. Das wollen wir in diesem Zusammenhang gern erwähnen, und die Universität und die Stadt sind stolz darauf, diesen Historikertag hier mit all den Gästen zu begehen. Ein fast unüberschaubares Programm wartet auf Sie, die rund 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Und dass auch die deutsche und internationale Geschichtswissenschaft gigantische Fabrikationsstätten historischen Wissens und historischer Publikation geworden sind, wird uns bei einem solchen Anlass recht deutlich bewusst. Das alles ist beeindruckend, und ich freue mich, bei Ihnen zu sein und wünsche Ihnen viel Erfolg. // Alles auf Erden ist Geschichte, alles hat Geschichte. Aber was gewinnen wir eigentlich, wenn wir uns damit befassen? Ist es nicht belastend oder gar kränkend, wenn wir uns vor Augen führen, dass nichts denkbar ist ohne ein Vorher, und dieses Vorher, das haben nicht wir, sondern andere gemacht? Lange vor uns sind Entscheidungen getroffen worden, die auch uns binden, obwohl wir nicht dazu gehört wurden. Dazu zählt auch Schuld, die wir nicht selber auf uns geladen haben, an der wir aber heute noch zu tragen haben. // Aber was vor uns geschah, ist oft ja auch Wohltat und Gewinn: Lange vor uns sind die Kämpfe ausgetragen worden, die uns auch heute noch Freiheiten schenken, für die wir selber nicht streiten mussten. Lange vor uns sind die Leistungen erbracht worden, aufgrund derer wir heute Wohlstand, Frieden und Sicherheit genießen. // Es gibt also, auch in den Zeiten der scheinbar generellen Machbarkeit und des Anspruchs auf unbedingte individuelle Autonomie, so etwas wie ein Schicksal, etwas Unverfügbares, von dem sich niemand voll und ganz emanzipieren kann. // Aber genau hier erscheint dann die wirkliche Aufgabe. Zwar sind wir für unsere Vergangenheit nicht verantwortlich, für den Umgang mit ihr aber allemal. Und ist es nicht dieser Umgang, der oftmals darüber entscheidet, wie wir unsere Gegenwart und Zukunft zu gestalten vermögen? // Wir haben zwar unsere Vorgeschichte nicht gemacht, wir können nichts dafür, wie sie verlaufen ist, dafür glauben wir aber, dass wir besser als unsere Vorfahren wissen, was zum Beispiel an ihren Entscheidungen falsch und was richtig gewesen ist. Wir haben - wie wir denken, und sicher oft zu recht - bessere und tiefere Einsichten. Und wir können oft nur den Kopf schütteln über die Einstellungen, Urteile und eben auch über die Entscheidungen von früher. Wir sind sozusagen kognitive Geschichtsgewinner oder vielmehr: Wir könnten es sein, wenn wir bereit sind zu lernen und genau hinzuschauen. // Nehmen wir nur die Beispiele, die die großen Gedenktage des laufenden Jahres bieten, allen voran der 100 Jahre zurückliegende Beginn des Ersten Weltkrieges. In aller Deutlichkeit sehen wir heute, dass damals auf allen Seiten weitgehende Wahrnehmungsverweigerungen geherrscht haben müssen, die bis zu partieller Blindheit gingen. // Heute sehen wir eine Unfähigkeit, Folgen bestimmter Entscheidungen in den Blick zu nehmen. Oder wir erkennen auch heute eine zynische Einstellung der Herrschenden oder Befehlenden gegenüber dem Leid der Untertanen. // Auch erblicken wir eine maßlose Selbstüberschätzung und eine unbedachte Bereitwilligkeit, die Katastrophe in Kauf zu nehmen und das alte Europa eine "Welt von gestern" werden, also untergehen zu lassen. // Extrem unverständlich erscheint es uns heute, dass die Eliten von 1914 den Krieg als reinigendes Feuer empfinden konnten, dass ihr Unbehagen oder ihr Überdruss gegenüber der Moderne positive Untergangsphantasien hervorbringen konnte, ohne dass Einigkeit auch nur über die Konturen einer "neuen" Welt geherrscht hätte. // Ebenso sehen wir heute, um nur ein Beispiel aus einem anderen Zeitabschnitt zu nennen, welche Fehler zum Beispiel die Westmächte vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges gemacht haben: Genannt wird dann oft das Münchner Abkommen mit Hitler. // Aber wissen wir es wirklich besser als die Akteure von damals? Oder wissen wir lediglich mehr, nämlich wie die Geschichte weiterging? Im Augenblick des Geschehens kann niemand die Geschichte des Geschehens selber erzählen. Robert Musil, der im Ersten Weltkrieg Teilnehmer an den so absurden wie barbarischen Dolomitenschlachten war, hielt sarkastisch fest: "So also sieht Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts." // Nur weil wir später dran sind, können wir heute die Geschichte erzählen. Und erzählen heißt ja, einen sinnvollen, plausiblen Zusammenhang zwischen den Fakten und den Ereignissen herzustellen. // Beides ist übrigens wichtig: Wenn die Historiker einerseits penibel und klar Fakten ermitteln und erforschen, Quellen aufsuchen und präsentieren, und wenn sie andererseits Geschichte in Geschichten zu erzählen wissen, die uns Sinn erschließen können durch eine bestimmte Perspektive der Erzählung. Gerade dieses Erzählen kann die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen und auf diese Weise auch ethische und politische Fragen an uns heute stellen. // Dass wir heute vieles genauer sehen können, weil wir später dran sind, das darf uns nicht zu Besserwisserei und Hochmut verleiten. Im Gegenteil: Als kognitive Geschichtsgewinner lernen wir Skepsis und gewinnen die ständige Bereitschaft zur Überprüfung unseres eigenen gegenwärtigen Handelns. Wenn zum Beispiel, wie wir immer wieder feststellen, unsere Vorfahren von Vorurteilen geleitet wurden oder intellektuellen Moden folgten: Mit welchem Recht und mit welcher Sicherheit können wir eigentlich glauben, dass wir nicht selber zeitgeistigen Plausibilitäten oder schlichten Fehlurteilen aufsitzen? Es besteht aber genauso die Gefahr, dass Geschichte ideologisch missbraucht oder instrumentalisiert wird. // Mir ist zum Beispiel in Erinnerung, dass nicht nur Teile der Medien, sondern auch Lehre und Forschung im Westen die Erfahrungen mit der konkreten kommunistischen Herrschaft, die Konstruktion von der Ohnmacht der Vielen und der Übermacht der Wenigen nur unzureichend darzustellen vermochten. // Das gewinnen wir in der Beschäftigung mit der Geschichte: Skepsis und kritisches Bewusstsein. Wenn die Geschichte auch nur selten eindeutige Handlungsoptionen für die Gegenwart bereitstellen kann, die sich aus historischer Erfahrung gleichsam von selber ergeben, so kann sie uns doch vor Selbstgefälligkeit und Unbelehrbarkeit warnen. // Historisch gebildet zu sein, das heißt doch eigentlich: seiner Endlichkeit, seiner Fehlbarkeit und der Offenheit der Geschichte eingedenk zu sein. Wer so historisch reflektiert lebt, der denkt zweimal nach, bevor er handelt, und er bemüht sich, mit Einsicht in das Notwendige zu handeln, mit Rücksicht auf die anderen und mit Hinsicht auf die denkbaren Folgen, auch die sogenannten unwahrscheinlichen. // Eines lernen wir aus der Geschichte auf jeden Fall: Es gibt, und damit sind wir wieder hier, bei Ihrem Thema, es gibt meistens Gewinner und Verlierer. Wir sollten uns nicht lange mit Klagen darüber aufhalten, dass das so ist, sondern fragen: Wie geht der Verlierer mit dem Verlieren, der Gewinner mit dem Gewinnen um? Und auch: Wie verhält sich der Verlierer zum Gewinner und der Gewinner zum Verlierer? // Kommen wir zunächst auf den jungen Mann zurück, der, ohne Zweifel ein Verlierer, schwer geprüft nach Göttingen kommt, wo für ihn, nach all der erlebten Lebensfinsternis, die Sonne scheint. Was macht er hier? Hadert er endlos mit dem unverdienten Schicksal? Sinnt er auf Rache? Reicht es ihm aus, alle Welt seine Verletzungen spüren zu lassen? Nein, so ist es nicht. Er lässt sich ganz auf Neues ein, er ist sehnsüchtig nach neuer Erfahrung, nach Leben, nach Lernen, nach Liebe. Er - und man darf und soll in dem Erzähler Kempowski selber erkennen - er bleibt nicht der Gefangene seiner Vergangenheit. Indem er sie gestaltet, wird er zum Gewinner: Er schreibt die Erinnerungen an seine Gefangenschaft auf, er führt Interviews mit seiner Mutter und mit Verwandten, er sammelt die verlorenen Bücher seiner Kindheit. Er, der schuldlos acht Jahre seines Lebens im Zuchthaus verloren hat, wird später zu einem unermüdlichen Sammler, zum Historiker und Erzähler, zuerst seiner selbst, dann seiner Familiengeschichte, dann der Geschichte der Deutschen in diesem Jahrhundert. // Aus dem Verlierer, aus dem Opfer wird aus eigener innerer Kraft der Schriftsteller Walter Kempowski, der mit dem "Echolot" und der "Deutschen Chronik" ein Werk schafft, das auch international seinesgleichen sucht. Der unter die Räder der Geschichte geraten war, zum Objekt der Mächtigen, hat sich selber zum Schöpfer und zum Subjekt seiner Geschichte und der seines Volkes geschrieben. Sieht so ein Verlierer aus oder - ob zwar gezeichnet und unter die "gebrannten Kinder" zu rechnen - nicht eben doch ein Gewinner? // Was am Beispiel dieses Einzelnen zu zeigen ist, das gilt auch für Nationen, für Völker oder Völkergruppen. Wo steht denn geschrieben, dass Verlierer Verlierer bleiben müssen? Und kommt es nicht tatsächlich alles darauf an, wie im Nachhinein mit der Niederlage umgegangen wird - wie im Übrigen auch mit dem Sieg? // Achten wir beim Nachdenken darüber nicht nur auf bewaffnete Konflikte, sondern auch auf andere Entwicklungen, die von Siegern und Verlierern sprechen lassen. // Da ist zum Beispiel die Geschichte der Industrialisierung. Uns steht einerseits die Rasanz des Fortschritts vor Augen, mit den Eisenbahnen, den großen Fabriken, die allüberall entstehen, den Erfindungen des Funks zum Beispiel, dem Verlegen der ersten Seekabel, und so weiter - und andererseits wissen wir doch alle um die Berichte über das erbärmliche soziale Elend, ob sie nun geschrieben waren von Friedrich Engels über "die Lage der arbeitenden Klasse in England" oder ob es die Protokolle des evangelischen Theologen Johann Hinrich Wichern sind, der über die himmelschreiende Not der Ärmsten in Hamburg berichtete. // Da gab es ohne jeden Zweifel echte Verlierer, und es gab Verlorene und Mühselige und Beladene, Erniedrigte und Beleidigte. Und doch war diese Entwicklungsphase auf lange Sicht ein wichtiger Ausgangspunkt für eine unglaubliche Verbesserung der Lebensumstände für alle, an der viele mitwirkten und die weltgeschichtlich ohne Beispiel ist. Zugespitzt gefragt: Hat ein König um 1800 so leben können wie der durchschnittliche Europäer im Jahre 2014? Nie hat es sich - in diesem Teil der Erde, in dem wir leben dürfen - leichter und angenehmer leben lassen, nie konnten vor allem Krankheit und Armut besser bekämpft werden als heute. Und - schauen wir wieder zurück - durch die sozialistische Arbeiterbewegung, durch christliche Gesellschaftslehre, durch demokratische Parteien und Gewerkschaften haben der Arbeiter und der sogenannte "kleine Mann" Recht, Würde und Stimme bekommen. Ob das Wissen darum, dass das passieren würde, ein Trost gewesen wäre für die damaligen Verlierer der Geschichte, das steht auf einem anderen Blatt, einem Blatt, das ich etwas später gesondert aufschlagen werde. // Gewinner und Verlierer: Manchmal changiert das Bild, der Verlierer sieht wie der Sieger aus oder umgekehrt. // Wir sprechen zum Beispiel in Westeuropa vom Ersten Weltkrieg als der "Urkatastrophe" des Jahrhunderts - und zwar unabhängig davon, ob wir in England oder Frankreich zu den Siegern oder ob wir in Deutschland zu den Verlierern des Krieges gehören. Bei anderen Kriegsteilnehmern aber denkt man ganz anders. // Ich hatte vor kurzem acht Historiker aus acht europäischen Ländern zu einer Diskussionsveranstaltung ins Schloss Bellevue eingeladen. Es ging um die Frage, wie in den verschiedenen Ländern heute an den Ersten Weltkrieg erinnert wird. Dabei wurde vollkommen klar, dass die Polen oder die Tschechen und Slowaken oder auch Serben oder Kroaten, Esten, Letten und Litauer keineswegs von einer Urkatastrophe sprechen, da doch ihre Staaten oder Staatenbünde erst durch den Ersten Weltkrieg und nach dem Zerfall der Großreiche gegründet oder wiedergegründet werden konnten. Die neuen Nationen sind also Gewinner, obwohl die aus ihnen stammenden Soldaten zum Teil oft auf Seiten der Verlierer-Imperien gekämpft hatten. // Und wie geht man mit dem Verlieren um? Nehmen wir unser Land, Deutschland. Der erste Blick nach 1918: Auf der einen Seite spüren die Deutschen damals so etwas wie ein Aufatmen, als mit der Niederlage im November endlich die Republik und die Demokratie kommen. Aber nicht alle haben dieselben Gefühle. Alle aber drücken schwer die Reparationen, die der Versailler Vertrag, der auch von Ressentiment und Rache geprägt war, dem Land auferlegt hat. Und es drückt schwer die als ungerecht empfundene Behauptung, der Alleinschuldige am Krieg gewesen zu sein. Und man glaubt nicht an die Realität der militärischen Niederlage. Man lügt sich das Gegenteil vor und behauptet und tröstet sich mit der Legende: der vom Dolchstoß. // Diese Hypothek, so wissen wir es alle, lastet schwer auf der jungen Republik, bei allem guten Willen und aller aufrichtigen Anstrengung besonnener und überzeugter Demokraten. Zu viele bleiben damals abseits. Trotz "roaring twenties" und großer Aufschwünge in den goldenen Zeiten vergraben sich viele in Gram und hadern verstockt mit dem Schicksal. Andere sind einfach nur verelendet. Die soziale Not der Wirtschaftskrise tut ein Übriges. Rachephantasien wachsen, andere Schuldige werden gesucht und gefunden: mal sind es Juden oder Bolschewisten, für manchen schlicht die Demokratie, die einige Verächter schlicht "das System" schimpfen. Eine Selbstvergewisserung mit klarem Blick für die tatsächlichen Gegebenheiten bleibt größtenteils aus. Von rechts und links wird die schwache Republik angegriffen und verraten. So erobern Hitler und die Nazis ein Land, das nicht mit sich ins Reine gekommen war. // Wie anders geht das Land nach 1945 mit der Niederlage um! Da blieb kein Raum für Lebenslügen wie 1918. Und die, die es versucht haben, sind mit diesem Versuch gescheitert. Militärisch war Deutschland eindeutig besiegt und moralisch, auch nach eigener schmerzhafter Einsicht einiger, später dann vieler seiner Bürger, zutiefst diskreditiert. Weder der Verlust von Gebieten noch Reparationszahlungen führten zu so bedeutenden revanchistischen Kräften, dass sie dauerhaft politisch durchsetzungsfähig gewesen wären. Aber das Land konnte mit der Niederlage auch deshalb anders umgehen, weil es von den Siegern anders behandelt wurde, also schon bald wieder in den Kreis der möglichen, dann der tatsächlichen Partner aufgenommen wurde. Zwar stellen der beginnende Kalte Krieg und die Aufteilung des Landes in zwei Blöcke eine besondere Situation dar, aber zumindest im Westen wurden Chancen geboten, gesehen und ergriffen. // Eine entschiedene Haltung der ausgestreckten Hand seitens der Sieger hat - zunächst für einen Teil unseres Landes - zu einer glücklichen neuen Geschichte geführt. Schon 1944 hatte das Britische Foreign Office für die britischen Soldaten, die nach Deutschland gehen sollten, in diesem Geist einen Leitfaden geschrieben, der noch heute lesenswert ist. Die Haltung lässt sich zusammenfassen in der Aufforderung: Be smart, be firm, be fair. Oder ausführlicher: "Es ist gut für die Deutschen, wenn sie sehen, dass Soldaten der britischen Demokratie gelassen und selbstbewusst sind, dass sie im Umgang mit einer besiegten Nation streng, aber zugleich auch fair und anständig sein können. Die Deutschen müssen selber fair und anständig werden, wenn wir später mit ihnen in Frieden leben wollen." // Ich versage mir an dieser Stelle einen Exkurs darüber, dass die Besiegten der sowjetischen Besatzungszone weder freundliche Sieger noch eine erfreuliche Zukunftsperspektive hatten. Das muss ich auslassen, denn in diesem Falle würde ja der größte Gegner der Historikerzunft, nämlich der Zeitzeuge, auf der Bühne stehen. // Umso größer ist mein Respekt für eine Haltung, die den gegenwärtigen Feind schon als künftigen Partner sieht. Sie verhindert die Perpetuierung von Sieg und Niederlage, von Rache und Vergeltung, und sie wird so einem neuem Krieg oder der Bereitschaft, ihn zu führen, vorbeugen. // Von ähnlicher Art waren im Übrigen die Friedensschlüsse von Münster und Osnabrück, die 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendeten und auch die Friedensordnung des Wiener Kongresses 1815, also vor bald genau 200 Jahren. Man ersparte sich das Aufrechnen, auch die moralische Verurteilung des Feindes. So schuf man, im Gegensatz zu Versailles, eine Friedensordnung, die fast 100 Jahre hielt. Allerdings gab es auch hier neue Verlierer, nun waren sie im Innern der Staaten. Denn die neue Internationale der Fürstenhäuser, die in weiten Teilen die alte geblieben war, sicherte ihren Frieden auch gegen die freiheitlichen Bestrebungen ihrer eigenen Bürger. Ich bin dankbar, dass vorhin die Göttinger Sieben erwähnt wurden - anderer Zeitzusammenhang, aber dasselbe Problem. // Ein anderes Beispiel: Nach 1945 konnte eine Gruppe aus unserer Bevölkerung, die sich nach dem jüngsten Krieg ganz besonders als Verlierer fühlen musste, die Chance ergreifen, zu Gewinnern zu werden. Ich spreche von den Flüchtlingen und Vertriebenen, die zu Millionen ihre Heimat, Haus und Hof, also praktisch alles verloren hatten. Sie hatten eine fundamentale Erfahrung gemacht: Was ihnen blieb, war nur ihr Können, ihre handwerklichen Fähigkeiten, ihr Fleiß, ihr Glaube, ihre Bildung. "Was du gelernt hast, kann dir keiner nehmen!" Diese Erfahrung wurde damals in vielen Familien weitergegeben. Und überdurchschnittlich viele von ihnen haben in der Nachkriegszeit weit überdurchschnittliche Bildungsabschlüsse erzielt. Vieltausendfach sind hier Aufstiegsgeschichten zu erzählen, führte die persönliche Entfaltung sozusagen auf die Gewinnerstraße. // Dennoch, wir wissen es, konnten oder wollten manche den unwiederbringlichen Verlust ihrer Heimat und das erlittene Unrecht nicht akzeptieren. Andere, viele aber, fühlten sich einer besseren Zukunft in neuer Heimat verpflichtet und wurden so zu Wegbereitern der Verständigung mit unseren östlichen Nachbarn - und so noch einmal zu Gewinnern für unser Land. // Von Gewinnern und Verlierern hat man auch im Zuge der deutschen Wiedervereinigung gesprochen. Ich kann das nur sehr bedingt nachvollziehen. Wo für alle Freiheit anbricht, wo für alle Freizügigkeit, Recht und demokratische Mitwirkung ermöglicht werden, wo für alle die Chancen eröffnet werden, sich frei zu entfalten, da kann doch vom Verlieren eigentlich nur reden, wer Privilegien eines Unrechtsstaates genossen hat. // Aber schauen wir genauer hin: Es existieren zweierlei Verlusterfahrungen. Neben der politisch gewollten Ablösung der politischen Eliten und ihres sehr kleinen Herrschaftszentrums musste eine sehr große Zahl Beschäftigter in Funktionseliten der öffentlichen Verwaltungen, des Parteiapparates, von Polizei, Militär und Geheimpolizei in eine unsichere Zukunft überwechseln. Dabei ist weniger der Verlust an materieller Sicherheit als der Verlust einer sich über zwei Generationen herausgebildeten Rollensicherheit von Bedeutung für die Lebensgefühle der Betroffenen. // Und auch wer sich als unpolitischer Zeitgenosse an die Defizite mit der Zeit gewöhnt hatte - und es gab eine ganze Sammlung von Defiziten -, wer sich privat in den berühmten "Nischen" ein lebbares Leben errichtet hatte, war dann, als sich alles änderte, häufig überfordert vom neuen System, reagierte also, wenn nicht mit Ablehnung des Neuen, so doch mit starken Fremdheitsgefühlen - und das besonders natürlich, wenn man seine Arbeit verloren hatte und das Gefühl hatte, nicht mehr wirklich gebraucht zu werden. Aber alles in allem sind die Deutschen und insbesondere die Ostdeutschen insgesamt Gewinner der Vereinigung. // In der Dialektik der Gewinner- und Verlierergeschichte werden immer wieder, wenn wir genauer hinschauen und etwas tiefer blicken, zwei Muster offenbar, die zu den grundlegenden abendländischen Erlebnis- und Erzählmustern gehören und die bis heute prägend sind. Sie haben beide eine religiöse, genauer, eine christliche Wurzel. // Da ist einmal die Geschichte des absoluten Verlierers, der, selber gewaltlos und friedlich, unschuldig verhaftet und sogar hingerichtet wird. Von den religiösen und staatlichen Autoritäten vernichtet. Seine Anhänger verzagt, verstreut, verloren. Doch wenig später entsteht in ihrem Kreis die Botschaft, er sei von den Toten auferweckt worden, also von Gott selber gerechtfertigt, von der höchsten Instanz. In dieser mythosgleichen Geschichte des Jesus aus Nazareth findet der denkbar größte Umschlag von Niederlage in Sieg statt. // Und diese Geschichte, sie trat nun selber einen Siegeszug an: erzählt zunächst von einer kleinen, verfolgten Verlierersekte, erobert sie Schritt für Schritt das römische Weltreich. Es war diese Geschichte und die mit ihr begründete Praxis der Nächstenliebe zu den Verlierern und Verlorenen, die ohne Gewalt, ohne politische Tricks, ohne strategische Planung plötzlich gegen alle anderen Geschichten gewann. Dass das unschuldige Leiden nicht vergeblich erlitten wurde, dass es einen Sinn hat und Rechtfertigung erfährt, das war eine Hoffnung, der sich Menschen seither gerne hingaben und hingeben. // Das andere, korrespondierende Muster der Geschichte vom Verlieren und doch Gewinnen, handelt vom selbst verschuldeten Leid. Diese individuelle Schuld- und Leidenserfahrung kann zu Einsicht, Reifung, dann zu Versöhnung und zu neuem Anfang führen - auch für sie gibt es eine Geschichte in der Bibel, etwa die, die vom verlorenen Sohn handelt. // Ob selbstverschuldet oder schuldlos erlitten: Leid muss nicht sinnlos sein, es kann zu Läuterung, Besinnung, neuem Selbstvertrauen führen. Bis heute lieben wir deshalb Geschichten, ob in Büchern oder Filmen, ob in der Oper oder im Theater, in denen die Helden ein schweres Schicksal erleiden, daran fast endgültig zu zerbrechen drohen und zu scheitern drohen, dann aber, vielleicht geläutert, vielleicht mit neuer Kraft und Stärke, alle Widrigkeiten besiegen und gleichsam wieder auferstehen, aufstehen. // An diese Erzähl- und Erlebnismuster muss ich denken, wenn ich mir und uns die Frage stelle: Was ist nun mit den Opfern, die keine neue Zukunft mehr hatten, was ist mit den wirklichen und endgültigen Verlierern, den Verlierern der Geschichte, die nicht erhöht wurden, die keine Chance zu einer Läuterung bekamen und denen jeder Triumph versagt blieb? Mit den Opfern von Völkermord und Holocaust, von Krieg, was ist mit den Opfern von Naturkatastrophen, Hungersnöten, Epidemien? Mit den unschuldig leidenden Kindern? Was ist mit denen, die ein metaphysischer Trost nicht erreicht, denen die gerade zitierten Geschichten von Tod und Auferstehung fremd oder unglaubwürdig, jedenfalls nicht zugänglich sind? // Hierauf, das weiß ich, können Historiker, aus ihrem Beruf heraus jedenfalls, keine Antwort geben. Die Frage nach dem Sinn von Leid, nach dem Sinn oder der Rechtfertigung von jedem einzelnen Leidenden, jedem einzelnen Opfer, sie kann nicht historisch beantwortet werden. // Aber diese Frage könnte nach meinem Verständnis doch die Geschichtsschreibung durchaus begleiten. Auch wenn die Geschichte, wie man sagt, von den Siegern geschrieben wird, ist doch immer auch die Geschichte der Marginalisierten zu erzählen, der Unterdrückten, der Geschlagenen. Und das geschieht doch auch schon. Es gibt doch schon einen erprobten Perspektivenwechsel. // Geschichtsschreibung kann ihnen keinen Sinn zusprechen, aber Geschichtsschreibung kann ihnen ihre Würde lassen, diesen Opfern, über die wir eben gesprochen haben. Sie kann ihnen ihre Würde lassen oder wiedergeben, wenn sie ihre Stimmen zu Wort kommen lässt oder wenn sie die zum Schweigen Gebrachten in Forschung und Lehre in die Erinnerung einbringt - und in der Schule. // Hier, im Gedächtnis des Leids, liegt jene "gefährliche Erinnerung", wie der Theologe Johann Baptist Metz es nannte und von der er oft so eindringlich gesprochen hat, die wir wieder brauchen, damit sie uns immer wieder beunruhigt und aus jeder Selbstgenügsamkeit aufrüttelt. Er, Metz, formulierte vor nun 40 Jahren für die Synode der deutschen Katholiken die folgenden bewegenden Sätze: "Die vergangenen Leiden zu vergessen und zu verdrängen, hieße uns der Sinnlosigkeit dieser Leiden widerspruchslos zu ergeben. Schließlich macht auch kein Glück der Enkel das Leid der Väter wieder gut, und kein sozialer Fortschritt versöhnt die Ungerechtigkeit, die den Toten widerfahren ist. Wenn wir uns zu lange der Sinnlosigkeit des Todes und der Gleichgültigkeit gegenüber den Toten unterwerfen, werden wir am Ende auch für die Lebenden nur noch banale Versprechen parat haben." // Erinnerung in diesem starken Sinne ist die Erinnerung daran, dass auch unsere Existenz sich dem Opfer anderer, vor uns Lebender verdankt, das nicht vergeblich gewesen sein soll und nicht vergeblich gewesen sein darf. Und dass wir in unserem Leben dazu aufgerufen sind, Leid nach Möglichkeit zu verhindern, Menschen, so es an uns liegt, nicht zu Opfern werden zu lassen. Das kann durch Unterlassen des Bösen geschehen oder durch Tun des Guten. // Etwas liegt mir zum Schluss noch am Herzen, es hat auch mit Gewinnen und Verlieren zu tun. Manchmal frage ich mich, ob die Geschichte nicht dabei ist, über die Gegenwart und über die Zukunft zu siegen. Hat man noch vor nicht allzu langer Zeit anklagend von der" Geschichtslosigkeit" und "Geschichtsvergessenheit" der Gegenwart gesprochen, so scheint mir heute geradezu das Gegenteil zuzutreffen. Unaufhörlich, so sieht es aus, sind wir mit der Geschichte, mit Jubiläen, Gedenktagen, Erinnerungen, Denkmälern oder Denkmalplanungen konfrontiert. Wo ist nur die Zukunft hin? // Oft haben wir den Eindruck, die Zukunft, sie käme sozusagen von allein, und zwar mit rasender Geschwindigkeit, sie sei im Grunde das Werk einiger weniger Ingenieure, Softwarefirmen, Investoren und vielleicht auch noch von Politikern. Dazu kommt das Gefühl: Die Welt ist heute so komplex geworden, dass die Folgen vieler Entscheidungen nicht mehr abzusehen sind. Die gegenwärtigen Krisen tun ein Übriges, um uns ratlos zu machen und viele von uns zu lähmen. // Aber die Zukunft, sie kommt nicht von selbst, früher nicht und heute nicht. Wenn wir uns auch daraufhin einmal die Geschichte anschauen, dann sehen wir, dass - jenseits aller Zufälle und unbeabsichtigten Wechselwirkungen - das meiste bewusst von Menschen gemacht, von Menschen bewirkt worden ist - oder auch von Menschen verhindert. Wer die Hand in den Schoß legt und glaubt, die Zukunft würden schon andere für ihn gestalten, der macht sich selber schnell zum Opfer und wird sehr schnell auf eine ungute Verliererstraße geraten. // Alles, was wir heute so intensiv genießen, Frieden, Freiheit, unseren Wohlstand - was Menschen in so vielen Teilen der Welt so bitter fehlt - ist das mühsam genug erreichte Werk von Menschen. Und es ist zerbrechlich und endlich, wie alles Menschenwerk. Es muss verteidigt, erneuert, wo nötig, neu errungen werden. Es gibt kein Ende der Geschichte. // Wenn die Geschichte keinen Schluss kennt, dann gilt aber auch, dass es nie zu spät ist, gegenwärtiges Leid und Unglück zu wenden. Dann ist Hoffnung sinnvoll, dann kann uns Hoffnung zu entschiedenem Handeln motivieren. // Wir haben es zu einem großen Teil selber in der Hand, ob wir uns im Spiel dieser Welt als Gewinner oder als Verlierer beschreiben können. Wenn die Geschichte auch oft als Lehrmeisterin wenig brauchbar ist: Gute und ermutigende Beispiele, wie aus vermeintlichen Verlierern durch eigenen Mut und eigene Tatkraft, aber auch durch solidarisches Handeln, Gewinner werden können, die gibt es in Fülle. // Meine eigene Lebenserfahrung - und nun meldet sich doch der Zeitzeuge - sie lehrt mich, dass es nicht umsonst ist, sich stark zu machen für eine andere, bessere Zukunft, für eine Veränderung der Verhältnisse. Sicher, so etwas wie die Friedliche Revolution 1989 in Mittelosteuropa und der DDR - so etwas geschieht nicht alle Tage. Aber was wir dort erlebt haben, das bleibt ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass Geschichte selbst in Situationen, die unabänderlich erscheinen, beeinflussbar und gestaltbar ist. // Wir haben es, zu einem Teil wenigstens, auch in der Hand, dass das Spiel dieser Welt weniger Verlierer und mehr Gewinner haben kann. Es liegt auch an uns, ob wir auf Kosten anderer siegen wollen oder ob wir dafür sorgen, dass möglichst viele zu Gewinnern werden. Es liegt auch an uns, dass Verlierer eine neue und gerechte Chance bekommen. Es gehört zu der Verantwortung, zu der unser Land sich in Wort und Tat bekennen muss und bekannt hat, dass Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, in welch mühsamen und kleinen Schritten auch immer, auch und gerade durch unseren Beitrag wachsen mögen. // Die Geschichte gibt uns kein unfehlbares Wissen darüber, was in einer gegebenen Situation richtig ist. Aber wir können aus der historischen Erfahrung ganz gewiss eine Überzeugung gewinnen: Wer sich für Freiheit und Menschenwürde eingesetzt hat, für das Recht und die Gerechtigkeit, für Anstand, für Menschlichkeit, der mag vielleicht eine Zeit lang auf der verlorenen Seite gewesen sein - auf der falschen war er nicht.
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Joachim Gauck
Der Tag der Deutschen Einheit. Das ist für unser Land seit 25 Jahren ein Datum der starken Erinnerungen, ein Anlass für dankbaren Rückblick auf mutige Menschen. Auf Menschen, deren Freiheitswille Diktaturen ins Wanken brachte, in Danzig, Prag und Budapest. Auf Menschen auch in Leipzig, Plauen und so vielen anderen Orten der DDR, die mit der Friedlichen Revolution die Vereinigung beider deutscher Staaten überhaupt erst vorstellbar werden ließen. Ich begrüße mit besonderer Freude diejenigen unter uns, die damals dabei waren. Wir wären heute nicht hier, wenn Sie damals nicht aufgestanden wären! // Am 3. Oktober denken viele von uns an den Klang der Freiheitsglocke, an die Freudentränen nicht nur vor dem Reichstag, an die Aufbruchsstimmung, die uns beherrschte, ja: an großes Glück. // Aber in diesem Jahr ist doch manches anders. So mancher fragt: Warum zurückblicken? Hat die Bundesrepublik momentan nicht drängendere Probleme, drängendere Themen als dieses Jubiläum? Was können wir feiern in einer Zeit, in der hunderttausende Männer, Frauen und Kinder bei uns Zuflucht suchen? Einer Zeit, in der wir vor so immensen Aufgaben für unsere Gesellschaft stehen? // Meine Antwort darauf lautet, ganz einfach: Es gibt etwas zu feiern. Die Einheit ist aus der Friedlichen Revolution erwachsen. Damit haben die Ostdeutschen den Westdeutschen und der ganzen Nation ein großes Geschenk gemacht. Sie hatten ihre Ängste überwunden und in einer kraftvollen Volksbewegung ihre Unterdrücker besiegt. Sie hatten Freiheit errungen. Das erste Mal in der deutschen Nationalgeschichte war das Aufbegehren der Unterdrückten wirklich von Erfolg gekrönt. Die Friedliche Revolution zeigt: Wir Deutsche können Freiheit. // Und so feiern wir heute den Mut und das Selbstvertrauen von damals. Nutzen wir diese Erinnerung als Brücke. Sie verbindet uns mit einem Erfahrungsschatz, der uns gerade jetzt bestärken kann. Innere Einheit, so machen wir uns klar, innere Einheit entsteht, wo wir sie wirklich wollen und uns dann ganz bewusst darum bemühen. Innere Einheit entsteht, wenn wir uns auf das Machbare konzentrieren, statt uns von Zweifeln oder Phantastereien treiben zu lassen. Und innere Einheit lebt davon, dass wir im Gespräch darüber bleiben, was uns verbindet und was uns verbinden soll. // Auch 1990 gab es die berechtigte Frage: Sind wir der Herausforderung gewachsen? Auch damals gab es - wir haben es schon gehört - kein historisches Vorbild, an dem wir uns orientieren konnten. Und trotzdem haben Millionen Menschen die große nationale Aufgabe der Vereinigung angenommen und Deutschland zu einem Land gemacht, das mehr wurde als die Summe seiner Teile. // Für mich steht die positive Bilanz im 25. Jahr der Deutschen Einheit außer Frage. Auch wenn es zuweilen Enttäuschungen gab, wenn Wirtschaftskraft und Löhne nicht so schnell gewachsen sind, wie die meisten Menschen in Ostdeutschland hofften, und wenn die finanzielle Förderung länger währt, als die meisten Westdeutschen wünschen, so ist doch gewiss: Die große Mehrheit der Deutschen, gleichgültig woher sie stammen, fühlt sich in diesem vereinten Land angekommen und zuhause. Die Unterschiede sind kleiner geworden und besonders in der jungen Generation, da sind sie doch eigentlich gänzlich verschwunden. Deutschland hat in Freiheit zur Einheit gefunden - politisch, gesellschaftlich, langsamer auch wirtschaftlich und mit verständlicher Verzögerung auch mental. // Es ist wieder zusammengewachsen, was zusammengehörte - Willy Brandt hat Recht behalten. Allerdings war der Prozess der Vereinigung deutlich schwieriger, als die meisten in der Euphorie vor 1989/90 glaubten. Beide Seiten hatten sich ihre Eindrücke vom "Drüben" ja lange nur aus der Ferne gemacht. Als wir einander schließlich direkt in Augenschein nehmen konnten, da waren viele Menschen überrascht, einige auch erschrocken. "Alles marode", sagten die einen. "Alles Show", fanden die anderen. // Eins stimmt natürlich: Noch hat der Osten das wirtschaftliche Niveau des Westens nicht erreicht. Gleichwohl, das Bild vom maroden Osten ist inzwischen Vergangenheit. Der äußere Wandel ist überdeutlich in Vorher-Nachher-Bildern darstellbar: hunderttausende von Eigenheimen, sanierte Straßen, Dörfer, Städte, gerettete Baudenkmäler und Kulturstätten, saubere Flüsse und Seen. All die runderneuerten Landstriche, sie geben Anlass zur Freude. Sie sind Zeugnisse einer großen gemeinsamen Anstrengung und Belege dafür, dass auch die Westdeutschen die Einheit als gesamtdeutsche Aufgabe angenommen haben, zeigten sie sich doch von Anfang an solidarisch mit jenen, von denen sie über Jahrzehnte getrennt worden waren. // Ich kann und will dies am heutigen Festtag nicht für selbstverständlich nehmen, sondern ich will es würdigen, ausdrücklich und dankbar. // In diesem Zusammenhang sollten wir uns außerdem bewusst machen, dass auch die Westdeutschen den Ostdeutschen ein Geschenk gemacht haben: mit dem Grundgesetz, das die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt, die Grundrechte sichert, mit einer funktionierenden Demokratie, einer unabhängigen Justiz und einem sozialen System, das die Schwachen auffängt. // Allerdings hat die Einheit den meisten Westdeutschen im täglichen Leben wenig abverlangt, den Ostdeutschen dagegen mit einem enormen Transformationsdruck sehr viel. Das neue Leben im Osten brachte ja nicht nur volle Einkaufsregale, schnelle Autos und bunte Reisekataloge. Es brachte auch die massenhafte "Abwicklung" sogenannter volkseigener Betriebe, brachte damit Massenarbeitslosigkeit und Massenabwanderung. Leere Werksgelände, leere Plattenbauten, leere Schulklassen - all das hinterließ seelische Spuren. Selbst für die Jüngsten von damals, die sich heute als "Wendekinder" bezeichnen, sind dies prägende Erinnerungen, sie sind in ihrem Gedächtnis geblieben. // Für 16 Millionen Menschen änderte sich in kürzester Zeit fast alles. Aber manches - gemessen an den großen Hoffnungen - eben nicht schnell genug. Erst allmählich wurde klar, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse und Mentalitäten in Ost und West eine Aufgabe, ein Prozess von Generationen - ja: Plural! - sein würde. // Schmerzlich mussten wir im Osten erfahren, dass wir Demokratie 1989/90 zwar über Nacht erkämpfen, nicht aber über Nacht auch erlernen konnten. Gestern Untertan, heute Citoyen: was für ein Irrtum! Ohnmacht hatte sich in vielen Köpfen eingenistet. Ohnmacht nach Jahrzehnten totalitärer Diktatur, in denen die Grundrechte der Menschen beschnitten und das eigenverantwortliche Tun gelähmt war, in denen freie Wahlen ein ferner Traum bleiben mussten. So erklärt sich die wohl größte Herausforderung der Ostdeutschen im vereinten Land. Es galt, jahrzehntelange Selbstentfremdung zu überwinden, möglichst im Zeitraffer. Es galt, genau das zu tun, was vorher alles andere als erwünscht war: selbständig zu denken, selbständig zu handeln. Von Freiheit nicht nur zu träumen, sondern Freiheit in der Freiheit tatsächlich zu gestalten. // Trotz aller Schwierigkeiten: Millionen Ostdeutsche haben den persönlichen Neuanfang gewagt und bewältigt, unter neuen Prämissen, in neuen Berufen oder an neuen Orten. Millionen haben die Brüche ihrer Biographien in Zukunft verwandeln können, haben Unternehmen gegründet und Verwaltungen demokratisiert, haben an Universitäten die freie Lehre und Forschung eingeführt, haben Vereine ins Leben gerufen, wo sich vorher der Staat für zuständig hielt. Millionen Menschen haben sich der fundamentalen Einsicht geöffnet: Neue Freiheit bietet neue Möglichkeiten, aber sie verlangt eben gleichzeitig die Übernahme neuer Verantwortung, auch Selbstverantwortung. Besonders diese Veränderungsleistung der Ostdeutschen war enorm. Sie wirkt bis heute nach. // Und genau an dieser Stelle möchte ich einmal Dank sagen all denen, die angepackt haben, die das gemacht haben, was sie vorher nie gelernt hatten: als ehren- oder hauptamtlicher Bürgermeister, als Abgeordneter, als Sekretär einer freien Gewerkschaft, als Verantwortlicher einer demokratischen Partei, als Minister, als Ministerpräsident, gar als Bundeskanzlerin - sie alle hatten niemals erwartet, zu tun, was sie dann taten. Wir schauen heute einmal auf sie alle - und sagen einfach "Danke". // Zu denen, die ich eben aufgezählt habe, gehört auch mancher unserer Gäste. Ich sehe in der dritten Reihe jemanden aus der polnischen Nachbarschaft, Bogdan Borusewicz, heute Senatspräsident der Republik Polen. Damals aber, in der Zeit, über die ich eben gesprochen habe, als wir alle ganz woanders waren, da war er ein unbekannter Mann aus der Mitte des Volkes, der mutiger und früher angefangen hat als wir und der uns zusammen mit seinen Landsleuten motiviert hat, auch etwas zu wagen. Danke! // Meine Damen und Herren, die innere Einheit Deutschlands konnte vor allem wachsen, weil wir uns als zusammengehörig empfanden und weil wir in Respekt vor denselben politischen Werten gemeinsam leben wollten. Doch nun, da viele Flüchtlinge angesichts von Kriegen, von autoritären Regimen und zerfallenden Staaten nach Europa, nach Deutschland getrieben werden, nun stellt sich doch die Aufgabe der inneren Einheit neu. Wir spüren: Wir müssen Zusammenhalt wahren zwischen denen, die hier sind, aber auch Zusammenhalt herstellen mit denen, die hinzukommen. Es gilt, wiederum und neu, die innere Einheit zu erringen. // Diese Entwicklung hat vor 25 Jahren niemand ahnen können. Damals, nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime und dem Ende des Ost-West-Konflikts, sahen wir sehr optimistisch in die Zukunft. Wir wähnten uns sogar am Beginn einer neuen Epoche. Die Überlegenheit der Demokratie schien schlagend bewiesen, ihr weltweiter Siegeszug nur noch eine Frage der Zeit. Wir erinnern uns an Francis Fukuyama, den amerikanischen Politologen, der das "Ende der Geschichte" verkündete. Mit ihm glaubten viele - auch ich - an eine gerechtere, friedliche und demokratische Zukunft. // Die Hoffnung auf eine solche Veränderung weltweit, sie ist jedoch zerstoben. Statt weiterer Siege von Freiheit und Demokratie erleben wir vielerorts das Vordringen autoritärer Regime und islamistischer Fundamentalisten. Statt mit größerer Friedfertigkeit sind wir konfrontiert mit Terrorismus, mit Bürgerkriegen, imperialen Landnahmen und einer Renaissance von Geopolitik. Und die Gemeinschaft der Europäer, die vor 25 Jahren begann, Ost- und Westeuropa zusammenzuführen, sie findet sich nun mit der Euro-Rettung, auch hier und da mit Austrittsdiskussionen und vor allem mit der Bewältigung der Fluchtbewegungen mitten in einer Zerreißprobe. // Aber was heißt es nun, die innere Einheit wieder und neu zu erringen, wenn sich die Zusammensetzung der Bevölkerungen in kurzer Zeit so erheblich verändert? Wie schaffen es Staaten, wie schaffen es Gesellschaften, ein inneres Band zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen herzustellen? Und wie kann die Europäische Union Einvernehmen erreichen, wenn die Haltungen gegenüber Flüchtlingen noch so unterschiedlich sind? // Noch führt der Druck die europäischen Staaten nicht völlig zusammen. Allerdings zeigen die jüngsten Entscheidungen der Europäischen Union, dass die Einsicht wächst: Es kann keine Lösung in der Flüchtlingsfrage geben - es sei denn, sie ist europäisch. Wir werden den Zustrom von Flüchtlingen nicht verringern können - es sein denn, wir erhöhen unsere gemeinsamen Anstrengungen zur Unterstützung von Flüchtlingen in den Krisenregionen, sowie vor allem zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Und auch das müssen wir uns klar machen: Wir werden unsere heutige Offenheit nicht erhalten können - es sei denn, wir entschließen uns alle gemeinsam zu einer besseren Sicherung der europäischen Außengrenzen. // Die Gewissheit über diese gemeinsamen Aufgaben hebt jedoch die Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten nicht automatisch auf. In den aktuellen Debatten offenbaren sich unterschiedliche Haltungen aufgrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen. Wir erleben das ja schon bei uns, im wiedervereinigten Land, der Bundesrepublik Deutschland. Westdeutschland konnte sich über mehrere Jahrzehnte daran gewöhnen, ein Einwanderungsland zu werden - und das war mühsam genug: ein Land mit Gastarbeitern, die später Einwanderer wurden, mit politischen Flüchtlingen, Bürgerkriegsflüchtlingen und Spätaussiedlern. Für die Menschen im Osten war es doch ganz anders. Viele von ihnen hatten bis 1990 kaum Berührung mit Zuwanderern. Wir haben erlebt: Die Veränderung von Haltungen gegenüber Flüchtlingen und Zuwanderern kann immer nur das Ergebnis von langwierigen - auch konfliktreichen - Lernprozessen sein. Diese Einsicht sollte uns nun auch Respekt vor den Erfahrungen anderer Nationen ermöglichen. // Wenn wir Deutsche uns an die "Das Boot ist voll"-Debatten vor zwanzig Jahren erinnern, dann erkennen wir, wie stark sich das Denken der meisten Bürger in diesem Land inzwischen verändert hat. Der Empfang der Flüchtlinge im Sommer dieses Jahres war und ist ein starkes Signal gegen Fremdenfeindlichkeit, Ressentiments, Hassreden und Gewalt. Und was mich besonders freut: Ein ist ein ganz neues, ganz wunderbares Netzwerk entstanden - zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen, zwischen Zivilgesellschaft und Staat. Es haben sich auch jene engagiert, die selbst einmal fremd in Deutschland waren oder aus Einwandererfamilien stammen. Auf Kommunal-, Landes- wie Bundesebene wurde und wird Außerordentliches geleistet. Darauf kann dieses Land zu Recht stolz sein und sich freuen. Und ich sage heute: Danke Deutschland! // Und dennoch spürt wohl fast jeder, wie sich in diese Freude Sorge einschleicht, wie das menschliche Bedürfnis, Bedrängten zu helfen, von der Angst vor der Größe der Aufgabe begleitet wird. Das ist unser Dilemma: Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich. // Tatsache ist: Wir tun viel, sehr viel, um die augenblickliche Notlage zu überwinden. Aber wir werden weiter darüber diskutieren müssen: Was wird in Zukunft? Wie wollen wir den Zuzug von Flüchtlingen, wie weitere Formen der Einwanderung steuern - nächstes Jahr, in zwei, drei, in zehn Jahren? Wie wollen wir die Integration von Neuankömmlingen in unsere Gesellschaft verbessern? // Wie 1990 erwartet uns alle eine Herausforderung, die Generationen beschäftigen wird. Doch anders als damals soll nun zusammenwachsen, was bisher nicht zusammengehörte. Ost- und Westdeutsche hatten ja dieselbe Sprache, blickten auf dieselbe Kultur zurück, auf dieselbe Geschichte. Ost- und Westdeutsche standen selbst in Zeiten der Mauer durch Kirchengemeinden, Verwandte oder Freunde in direktem Kontakt miteinander und wussten über die Medien voneinander Bescheid. Wie viel größere Distanzen dagegen sind zu überwinden in einem Land, das zu einem Einwanderungsland geworden ist. Zu diesem Land gehören heute Menschen verschiedener Herkunftsländer, Religionen, Hautfarben, Kulturen - Menschen, die vor Jahrzehnten eingewandert sind, und zunehmend auch jene, die augenblicklich und in Zukunft kommen, hier leben wollen und hier eine Bleibeperspektive haben. // Ähnlich wie bei den Zuwanderern seit den 1960er Jahren, aber wohl in größerem Ausmaß werden wir erleben: Es braucht Zeit, bis Einheimische sich an ein Land gewöhnen, in dem Vertrautes zuweilen verloren geht. Es braucht Zeit, bis Neuankömmlinge sich an eine Gesellschaftsordnung gewöhnen, die sie nicht selten in Konflikt mit ihren traditionellen Normen bringt. Und es braucht Zeit, bis alte und neue Bürger Verantwortung in einem Staat übernehmen, den alle gemeinsam als ihren Staat begreifen. // Wir befinden uns aktuell in einem großen Verständigungsprozess über das Ziel und das Ausmaß dieser neuen Integrationsaufgabe. So etwas ist in Demokratien auch verbunden mit Kontroversen - das ist normal. Aber meine dringende Bitte an alle, die mitdebattieren, ist: Lassen Sie aus Kontroversen keine Feindschaften entstehen. Jeder soll merken, wir debattieren, weil es uns um Zusammenhalt geht, um ein Miteinander, auch in der Zukunft. // Und wir nehmen aus unserer jüngeren Geschichte etwas mit, das wir niemals aufgeben dürfen: den Geist der Zuversicht. Wir haben nicht nur davon geträumt, unser Leben selbstbestimmt gestalten zu können, nein, wir haben es getan! Wir sind die, die sich etwas zutrauen. // Und so gestimmt fragen wir uns jetzt: Was ist denn das innere Band, das ein Einwanderungsland zusammenhält? Was ist es, das uns verbindet und verbinden soll? // In einer offenen Gesellschaft kommt es nicht darauf an, ob diese Gesellschaft ethnisch homogen ist, sondern ob sie eine gemeinsame Wertegrundlage hat. Es kommt nicht darauf an, woher jemand stammt, sondern wohin er gehen will und mit welcher politischen Ordnung er sich identifiziert. // Gerade weil in Deutschland unterschiedliche Kulturen, Religionen und Lebensstile zuhause sind, gerade weil Deutschland immer mehr ein Land der Verschiedenen wird, braucht es eine Rückbindung aller an unumstößliche Werte - einen Kodex, der allgemein als gültig akzeptiert wird. // Ich erinnere mich noch gut, welche Ausstrahlung die westlichen Werte bei uns in der DDR und in anderen Staaten des ehemaligen Sowjetblocks besaßen. Wir sehnten uns nach Freiheit und Menschenrechten, nach Rechtsstaat und Demokratie. Diese Werte, obwohl im Westen entstanden, sind zur Hoffnung für Unterdrückte und Benachteiligte auf allen Kontinenten geworden. Die Demokratie hat zwar seit 1990 keinen weltweiten Siegeszug angetreten, aber ihre Werte sind weltweit präsent, werden zunehmend nicht mehr als westlich, sondern als universell bezeichnet und verstanden. Und das ist richtig so. // Doch nicht immer und nicht überall vermögen sie jeden zu überzeugen, übrigens auch nicht bei uns. Wir wissen, dass selbst im Westen die eigenen Werte verletzt wurden und gelegentlich auch werden. Aber damit sind doch nicht die Werte diskreditiert, sondern diejenigen, die sie verraten. // Und diese, unsere Werte, sie stehen nicht zur Disposition! Sie sind es, die uns verbinden und verbinden sollen, hier in unserem Land. Hier ist die Würde des Menschen unantastbar. Hier hindern religiöse Bindungen und Prägungen die Menschen nicht daran, die Gesetze des säkularen Staates zu befolgen. Hier werden Errungenschaften wie die Gleichberechtigung der Frau oder homosexueller Menschen nicht in Frage gestellt und die unveräußerlichen Rechte des Individuums nicht durch Kollektivnormen eingeschränkt - nicht der Familie, nicht der Volksgruppe, nicht der Religionsgemeinschaft. Und vor diesem Hintergrund gewinnt der Satz, den wir alle kennen - Toleranz für Intoleranz darf es nicht geben - seine humane Basis. Und noch etwas: Es gibt in unserem Land politische Grundentscheidungen, neben den eben angesprochenen, die ebenfalls unumstößlich sind. Dazu zählt unsere entschiedene Absage an jede Form von Antisemitismus und unser Bekenntnis zum Existenzrecht von Israel. // Wir kennen keine andere Gesellschaftsordnung, die dem Individuum so viel Freiheit, so viele Entfaltungsmöglichkeiten, so viele Rechte einräumt wie die Demokratie. Sie mag mangelhaft sein, aber wir kennen keine andere Gesellschaftsordnung, die im Widerstreit von Lebensstilen, Meinungen und Interessen zu so weitgehender Selbstkorrektur fähig ist. Wir kennen auch keine Gesellschaftsordnung, die sich so schnell neuen Bedingungen anzupassen und zu reformieren vermag, weil sie - wie Karl Popper einmal sagte - auf einen Menschen baut, "dem mehr daran liegt zu lernen, als recht zu behalten". // Für eben diese Werte und für diese Gesellschaftsordnung steht die Bundesrepublik Deutschland. Dafür wollen wir auch unter den Neuankömmlingen werben - nicht selbstgefällig, aber selbstbewusst, weil wir überzeugt sind: Dieses Verständnis, kodifiziert im Grundgesetz, ist und bleibt die beste Voraussetzung für das Leben, nach dem gerade auch Menschen auf der Flucht streben. Ein Leben - wie es in unserer Nationalhymne heißt - in Einigkeit und Recht und Freiheit.
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Joachim Gauck
Es sind dies bewegte Zeiten - auch für Sie, lieber Herr Schröder. In den vergangenen Wochen standen Sie im Mittelpunkt des medialen Interesses. Ihre aktuellen Äußerungen und Ihre Aktivitäten sind viel diskutiert worden. Daran möchte ich heute ausdrücklich nicht anknüpfen. Denn wir treffen uns hier zu Ehren eines Mannes, eines Bundeskanzlers, der im Amt unser Land entscheidend vorangebracht hat. Um dieses Verdienst soll es uns heute gehen. // Knapp zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Einheit in Freiheit wurden Sie, lieber Herr Schröder, zum Bundeskanzler gewählt. Die Welt schien nach dem Ende des Kalten Krieges, wiewohl nicht frei von Konflikten, so doch sicherer geworden zu sein. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts ereignete sich mit den Terroranschlägen auf die Zwillingstürme des World Trade Center nicht weniger als eine Zeitenwende in der internationalen Politik - mit denen große innen- wie außenpolitische Herausforderungen für Sie und Ihre Regierung einhergingen. // Viel ist über Ihren persönlichen Weg von Bexten und Talle über Göttingen und Hannover nach Bonn und schließlich nach Berlin geschrieben worden. Wichtig scheint mir, dass Sie in einer von materiellen Entbehrungen und sozialer Ausgrenzung geprägten Kindheit lernten, wie bedeutsam Zielstrebigkeit und Ehrgeiz sind. Auch wussten Sie schon früh, was Zusammenhalt bedeutet und wie wichtig die Unterstützung durch andere für jeden von uns ist. Für Sie war die größte Unterstützerin Ihre Mutter, deren unermüdlichen Einsatz für ihre Kinder, auch unter schwierigsten Bedingungen, Sie in bewegenden Worten öffentlich gewürdigt haben. // Mit Entschlossenheit und Disziplin haben Sie Ihren beruflichen Traum verwirklicht. Eigentlich war es nicht nur ein Traum, es waren zwei: In der Abendschule machten Sie das Abitur und studierten anschließend Jura, um als Rechtsanwalt zu arbeiten. Das ist an sich schon bemerkenswert. Das gilt übrigens auch für die politischen Schlüsse, die Sie aus Ihrem eigenen Weg zogen: Von "Dankbarkeit gegenüber einem Staat, der es mir doch ermöglicht hatte, den ersten Schritt nach oben zu tun" haben Sie später berichtet. Diese Dankbarkeit zeigte sich wohl auch in jenem gesunden Pragmatismus, mit dem Sie manch eigenartigen Formen der 68er begegneten. Sie anerkannten zwar das richtige Bestreben, drängende Fragen an die Elterngeneration zu richten und die Gesellschaft zu öffnen. Aber Sie wandten sich der mühevollen politischen Praxis zu und damit dem Ziel, das Leben der Menschen zu verbessern - nicht in der marxistischen Theorie, sondern in der konkreten Realität. // Danach gelang Ihnen auch noch, höchste politische Ämter zu erreichen - Sie wurden Abgeordneter des Deutschen Bundestages, Ministerpräsident Niedersachsens, Vorsitzender Ihrer Partei und schließlich Bundeskanzler. Dieser unbedingte Wille zum Aufstieg hat mich beeindruckt. Damit sind Sie ein herausragendes Beispiel dafür, welche Aufstiegsgeschichten die Bundesrepublik zu erzählen hat."Bildungschancen sind stets Lebenschancen. [ ] Ich habe es selber gespürt." Diese eigene Erfahrung und der Antrieb, möglichst allen Kindern gute Bildungs- und Lebenschancen zu ermöglichen, wurden zum Movens auch Ihrer Arbeit als Bundeskanzler. Mancher hier im Saal wird dabei etwa an das 4 Milliarden Euro starke Investitionsprogramm des Bundes für verlässliche Ganztagsschulen denken, das Sie seinerzeit durchsetzten. // In Ihre Amtszeit als Bundeskanzler fallen zahlreiche Ereignisse, die man - wie auch immer man sie im Einzelnen bewertet - als zeitgeschichtliche Wegmarken bezeichnen muss. Nach Ihrem Wahlsieg 1998 schlossen Sie das erste rot-grüne Bündnis auf Bundesebene. Politisch betrachtet wurde die Republik bunter. // Ihr damaliges Bündnis ist vielfach beschrieben und charakterisiert worden, von den Medien wie von den Protagonisten selbst. Nicht nur ein Generationenwechsel war das, nach 16 Jahren Kanzlerschaft Helmut Kohls. Auch so etwas wie ein Neubeginn, ja ein Aufbruch, verband sich für viele Menschen mit der rot-grünen Bundesregierung. Als dritter Sozialdemokrat nach Willy Brandt und Helmut Schmidt wurden Sie Bundeskanzler, und erstmals überhaupt in der Bundesrepublik gelang es Ihnen, eine amtierende Bundesregierung abzulösen und eine vollständig neue Regierungsmehrheit anzuführen. // Nur wenige Monate nach der Wahl mussten Sie über eine der grundsätzlichsten Fragen entscheiden, die sich ein deutscher Regierungschef nur vorstellen konnte: ob deutsche Soldaten in einen Kampfeinsatz geschickt werden sollen, zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Gemeinsam mit dem damaligen Außenminister Joschka Fischer machten Sie deutlich, worum es bei diesem Einsatz ging: schweren Menschenrechtsverletzungen im zerfallenden Jugoslawien und damit mitten in Europa ein Ende zu setzen und, so haben Sie es beschrieben, "an der Schwelle zum 21. Jahrhundert den neuerlichen Brandherd auf dem Balkan nicht nur zu löschen, sondern die Region zu einem friedlichen Miteinander zu bringen". Der Einsatz deutscher Soldaten auf dem Balkan - uns allen steht vor Augen, wie ernsthaft und verantwortungsvoll Sie und Ihre Regierung damals mit dieser Entscheidung rangen. // Ein weiterer Einschnitt in der politischen Geschichte der Bundesrepublik war zweifellos der Regierungsumzug nach Berlin im Sommer 1999. Als Kanzler waren Ihnen die Besonderheiten der deutsch-deutschen Geschichte ganz besonders präsent: Während der ersten beiden Regierungsjahre war das Kanzleramt provisorisch im ehemaligen DDR-Staatsratsgebäude untergebracht. Ihr Blick aus dem Fenster fiel damals noch auf den "Palast der Republik". Der Blick auf das Alte half Ihnen offenkundig dabei, Innovationen zu wagen: Ich denke zum Beispiel an das bis heute bestehende Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. // Als Bundeskanzler war Ihr Blick in die Vergangenheit wie in die Zukunft gerichtet. Sie brachten die lange überfällige Entschädigung für die ehemaligen NS-Zwangsarbeiter ebenso auf den Weg wie richtungsweisende Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsreformen, etwa - damals heißumstritten - ein zeitgemäßeres Staatsbürgerschaftsrecht und die eingetragene Lebenspartnerschaft. Schon in Ihrer ersten Regierungserklärung am 10. November 1998 setzten Sie sich mit der Rolle Deutschlands auseinander: "Wir sind stolz auf dieses Land. Was ich hier formuliere, ist das Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch niemandem unterlegen fühlen muss." // Diese veränderte Rolle der Bundesrepublik zeigte sich auch darin, dass Sie als erster deutscher Bundeskanzler zu den Feierlichkeiten anlässlich der Jahrestage der Landung der Alliierten in der Normandie, der Niederschlagung des Warschauer Aufstands und zur Erinnerung an das Kriegsende nach Moskau eingeladen wurden. // Sie selbst waren, wenn Sie sich entschlossen hatten, in Ihrem politischen Handeln konsequent. Und Sie scheuten auch Risiken nicht: Die Entscheidung über die deutsche Beteiligung am Afghanistan-Einsatz verbanden Sie im Bundestag mit der Vertrauensfrage, nachdem Sie den Vereinigten Staaten von Amerika Deutschlands" uneingeschränkte Solidarität" ausgesprochen hatten. Die Bereitschaft Deutschlands, im Bündnis mit seinen Partnern "Ja" zu wohlüberlegter außenpolitischer und, wenn nötig, militärischer Verantwortung zu sagen, verbindet sich ebenso mit Ihrer Kanzlerschaft wie Ihr entschlossenes "Nein" zu einer deutschen Beteiligung am Irakkrieg. // Auch innenpolitisch waren Sie bereit, unpopuläre Schritte zu gehen und die Folgen zu akzeptieren. Dazu gehören natürlich die Reformen der "Agenda 2010", für die Sie zunächst hart kritisiert wurden. Doch Sie haben mit Weitsicht dazu beigetragen, dass unser Land seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wiedergewinnen und dann erhalten konnte. // Über die "Agenda 2010" sagten Sie rückblickend: "Wenn Sie eine solche umfassende Reform einleiten wollen, müssen Sie die notwendigen und schmerzhaften Entscheidungen jetzt treffen, während Sie die positiven Folgen dann drei Jahre später sehen. Dadurch entsteht eine Zeitlücke - und in diese Zeitlücke kann demokratisch legitimierte Politik fallen." // Der französische Politiker und Denker Talleyrand sagte, kein Abschied auf der Welt falle schwerer als jener von der Macht. Sie mussten nach einer vorgezogenen Wahl 2005 Abschied von der Macht nehmen. Leicht ist es Ihnen nicht gefallen, das haben Sie später selbst gesagt. Doch auch wenn die Macht verloren geht, so bleibt doch ein Stück Verantwortung für das Land - auch nach der Amtszeit. // Lieber Herr Schröder, Sie haben als Bundeskanzler der Weitsicht - und damit der Zukunft unseres Landes - den Vorzug gewährt, dafür gebührt Ihnen großer Respekt. So danke ich Ihnen für Ihre bleibenden Verdienste. // Meine Damen und Herren, bitte erheben Sie Ihr Glas auf Gerhard Schröder und Doris Schröder-Köpf. Auf Ihre Gesundheit und Ihr Wohl!
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Joachim Gauck
Fast 40 Jahre ist es jetzt her, dass Willy Brandt Bundeskanzler war, mehr als 20 Jahre ist er nun nicht mehr unter uns. // Und doch fällt es mir schwer, in der Vergangenheitsform über ihn zu reden. Ich spreche sicher vielen aus dem Herzen, wenn ich sage: Willy Brandt ist noch immer gegenwärtig - mit allem, was er verkörpert: mit seiner Liebe zur Freiheit, mit seinem Streben nach Frieden und Gerechtigkeit, mit seiner Überzeugung, dass jede Zeit eigene Antworten will und dass wir selbst die Welt verändern müssen. // Wie sehr wirkt er damit nach, wie sehr fordert er uns alle damit heute heraus! // Die eine große Sehnsucht seines Politikerlebens, für die er so lange gekämpft hatte, als Berliner Bürgermeister, als Außenminister und Bundeskanzler - die Sehnsucht, es möge zusammenwachsen, was zusammengehört. Sie nahm noch zu seinen Lebzeiten reale Gestalt an. Gerechter Dank der Geschichte für einen, der furchtlos, geschickt und pragmatisch nach Wegen gesucht hat, wo andere nur Mauern sahen! Vor kurzem habe ich in alten Unterlagen vier handgeschriebene Blätter gefunden: meine Begrüßungsrede für Willy Brandt, der am 6. Dezember 1989 zu uns in die Marienkirche nach Rostock kam. Da war Willy Brandt schon viele Jahre ohne Staatsamt - und doch derjenige, auf den sich ganz selbstverständlich unsere Blicke richteten, weil er verkörperte, wonach wir uns sehnten. "Da begegnen wir uns nun: wir, das Volk, und Sie, der große Politiker", habe ich damals gesagt. Und: "Ihr Wort ist uns wichtig". So ist es auch heute noch - im Präsens! // Darum ist Willy Brandts 100. Geburtstag Gelegenheit zur Rückschau auf ein Jahrhundert voller Schrecken und Aufbrüche und auf das, was sich - auch ihm sei Dank - zum Guten gewandelt hat. Es ist zugleich eine gute Gelegenheit, vorauszuschauen auf das, was vor uns liegt und was Willy Brandt uns für die Zukunft aufgetragen oder doch nahegelegt hat. // So manches, was Willy Brandt in früheren Zeiten entgegenschlug, ist heute jungen Leuten kaum noch verständlich zu machen: dass einer, der den nationalsozialistischen Ungeist bekämpfen half, noch Jahrzehnte nach dem Ende des Hitlerregimes bei vielen als "Vaterlandsverräter" galt und sich fragen lassen musste, was er im Exil eigentlich gemacht habe. Unglaublich, heute, dass sein Kniefall in Warschau - diese Geste der Trauer und der Überwältigung, die auch kommende Generationen noch kennen werden - dass diese Geste vielen seiner Landsleute damals übertrieben erschien. Und später, viel später dann die Pfiffe von Unbelehrbaren vor dem Schöneberger Rathaus, als Willy Brandt mit Helmut Kohl und anderen am 10. November 1989 die Maueröffnung feierte - wie unverständlich, von heute aus betrachtet! // Heute können wir wieder ohne Nationalismusverdacht unsere Nationalhymne singen - auch das ist ein wenig Willy Brandts Verdienst. Viele konnten dank seiner wieder "ja" sagen zu unserem Land. 1972 hieß ein SPD-Wahlslogan: "Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land." So schlecht konnte dieses Land doch gar nicht sein, wenn einer wie er es trotz allem liebte! Vor allem aber hat er, der "andere Deutsche", der Europäer und Weltbürger, im Ausland glaubwürdig und zugleich selbstbewusst für neues Vertrauen geworben. // Inzwischen sind wir wieder ein "Volk der guten Nachbarn". Wir wissen um die Abgründe der deutschen Geschichte. Verantwortung für diese Geschichte zu übernehmen - so hatte es Willy Brandt schon früh gesehen - bedeutet nicht, Enthaltsamkeit zu üben in gegenwärtigen Konflikten. Im Gegenteil: Aus der Einsicht in das Vergangene erwuchs für ihn die Verantwortung für die Probleme und die Chancen der Gegenwart. 1973 erklärte er als erster deutscher Bundeskanzler vor der UN-Generalversammlung: "Wir sind [ ] gekommen, um - auf der Grundlage unserer Überzeugungen und im Rahmen unserer Möglichkeiten - weltpolitische Verantwortung zu übernehmen." Vor 40 Jahren war das, wohlgemerkt! Heute ist unserem vereinten Deutschland ungleich größere Verantwortung zugewachsen. Wir sind gut beraten, sie unseren Überzeugungen und Möglichkeiten entsprechend anzunehmen. // Von Willy Brandts Haltung in Konflikten lernen heißt: geduldig sein, Vertrauen schaffen und scheinbar unerbittliche Gegner einander schrittweise annähern. Wir sind ja manchmal geneigt zu vergessen, wie aktuell etwa die Bedrohung durch Nuklearwaffen ist, auch weit nach dem Ende des Kalten Krieges. Den gemeinsamen Aktionsplan zwischen Iran, den fünf UN-Vetomächten und Deutschland könnte man - bei aller gebotenen Vorsicht - als einen der hoffnungsvollsten Anfänge der vergangenen Jahre bezeichnen. // In vielem, was Willy Brandt sehr früh schon bewegte, sind wir auch heute noch lange nicht angekommen. Beispiel Entwicklungspolitik: Tatsächlich lebt nach wie vor ein größerer Teil der Weltbevölkerung in Armut. Beispiel Klimawandel und Umweltverschmutzung: Sie abzubremsen ist dringlicher denn je - die Folgen gerade für die Verletzlichsten erkannte Brandt als einer der ersten. Beispiel Zusammenleben der Verschiedenen: Schon früh sprach er vom "Recht der Ebenbürtigkeit, der Gleichheit und der guten Nachbarschaft" als Grundlage des Miteinanders. Ich bin mir sicher, Willy Brandt hätte auch heute viel zu sagen über das, was wir so sperrig "Integration" nennen und was doch so viel mit der Anerkennung von Unterschieden und dem Streben nach dem Gemeinsamen zu tun hat. Und er, der politische Emigrant, würde gewiss auch Partei ergreifen für die, die heute fliehen vor Unterdrückung und Gewalt. Wir wollen nicht vergessen, dass Willy Brandt, der von den Nationalsozialisten Ausgebürgerte, damals in Norwegen aufgenommen und eingebürgert wurde! Tusen takk! Ich bin gespannt, was Sie, sehr geehrter Herr Gahr Støre, und Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, uns gleich über Willy Brandts Wirken berichten werden. // Ich kann nur jedem, der es noch nicht getan hat, wärmstens empfehlen, in den Briefen, Notizen, Tagebuchaufzeichnungen, Redemanuskripten und Memoranden der "Berliner Ausgabe" zu blättern - ich habe das Glück, die zehn Bände griffbereit in meinem Amtszimmer stehen zu haben. Willy Brandt hat immer wieder Worte gefunden für das, was andere bewegte. Und er hat andere mit seinen Worten bewegt. Als Berliner Bürgermeister in den Tagen des Mauerbaus: "Wir fürchten uns nicht!" Als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler: "Wir wollen mehr Demokratie wagen!". Oder, am Ende seines Lebens: "Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum - besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll." // So soll Willy Brandt uns noch heute prägen und ermutigen: mit seiner Haltung zu seinem Land, über das er weiter hinausblickte als die allermeisten, das er liebte mit all seinen Schwächen und zugleich verbessern wollte, und zwar durch praktische Politik, die sich im Alltag bewähren sollte, um das Leben der Menschen besser zu machen. Er hatte Träume. Aber er gab nicht vor, das Ziel der Politik ein für alle Mal zu kennen. Er sah das Offene, das Unfertige. Manchmal, so meinte er, gebe es keine Lösung. Doch handlungsfähig sind wir nicht erst dann, wenn wir das Ende einer Entwicklung benennen können. Wir sind es bereits, wenn wir darum ringen, das zu verändern, was in unserer Macht und unseren Möglichkeiten liegt, auch wenn es sich nur um das etwas Bessere handelt. Immer warb er dafür, dass sich heute für Veränderungen einsetzen muss, wer morgen besser leben will. // Wir ehren Willy Brandt darum nicht allein für das, was er getan hat, sondern auch für das, wozu er andere motiviert hat. Sein ganzes politisches Leben war eine Einladung zum Mitgestalten und Weiterdenken - übrigens auch dazu, sich nicht zufrieden zu geben mit einer alles andere ausschließenden Wahrheit, an die er, Willy Brandt, nicht mehr glauben konnte, wie er sagte: "Ich glaube an die Vielfalt und also an den Zweifel". Den produktiven Zweifel auszuhalten, ohne ihn als dominierende Lebensform zu kultivieren, auch dazu kann uns Willy Brandt motivieren. // In einer der vielen Fernsehrunden rund um den Geburtstag hat eine junge SPD-Genossin bekannt, sie fühle sich Willy Brandt zwar nicht als Person nahe, wohl aber in dem, was sie tue. Das hätte ihn gefreut. // Es hätte ihn auch gefreut zu sehen, wie viele hier zusammengekommen sind, um "danke" zu sagen, aus allen Teilen unserer Gesellschaft, aus seiner zweiten Heimat Norwegen und anderen Ländern, denen er verbunden war. Er hätte den Dank vielleicht mit dem bescheidenen Satz quittiert, den er sich angeblich einmal - mit feiner Selbstironie - als Inschrift auf seinem Grabstein wünschte: "Man hat sich bemüht". Nehmen wir sein Vermächtnis an. Es heißt: Seid nicht gleichgültig! Setzt Euch auseinander und ringt um die bessere, nicht die nächstbeste Lösung! Erkennt, was Ihr verändern und verbessern könnt. Sagt "ja" zu unserem Land, zu unseren Aufgaben und Möglichkeiten! Und habt Mut, Geduld und Zuversicht.
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Joachim Gauck
Gestern war ich in Bergen-Belsen. Ich musste daran denken, als ich die Bilder von Mauthausen sah. Heute darf ich mit Ihnen die österreichische Freiheit und Befreiung feiern. Ich bin tief bewegt und dankbar, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf. Nicht an irgendeinem Tag und zu irgendeinem Anlass, sondern gerade an jenem Tag, an dem Österreich vor genau 70 Jahren die Grundlagen für seine demokratische Nachkriegsordnung legte. // Noch tobten damals Kämpfe hier, aber auch um Breslau und Berlin. Noch befanden sich große Teile Österreichs in der Hand der Wehrmacht. Noch herrschte vielerorts der Terror der Nationalsozialisten: Zivilisten wurden erhängt oder erschossen, weil sie weiße Fahnen gehisst hatten. Soldaten wurden zum Tode verurteilt, weil sie sich von ihren Truppenteilen entfernt hatten. Doch die Hauptstadt Wien befand sich bereits in den Händen der Roten Armee. Und noch bevor die Wehrmacht kapitulierte, erklärte eine neue österreichische Regierung den gewaltsamen Anschluss an Deutschland 1938 für null und nichtig und proklamierte die Wiederherstellung der demokratischen Republik Österreich. Voller Erleichterung tanzten die Wiener zwischen den Trümmern ihrer Stadt zum Donauwalzer. // Die Bürger der Republik Österreich und die Bürger der Bundesrepublik Deutschland wissen sehr genau, warum wir das Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft als Befreiung würdigen. Schrecklich allein die Vorstellung, die Alliierten hätten uns nicht befreit und unsere Vorgängergeneration hätte uns ein Europa unter dem Hakenkreuz hinterlassen. // Heute, nach Jahrzehnten demokratischer und ökonomischer Konsolidierung, leben Österreicher und Deutsche in einem spannungsfreien und freundschaftlichen Verhältnis - von Fußballländerspielen einmal abgesehen. Wir sind einander willkommen - als Köche und Kellner, als Fachärzte, als Wissenschaftler und Theaterleute. Geschäftsleute und Touristen überqueren millionenfach die Grenze in beide Richtungen. Viele unserer Unternehmen sind miteinander verflochten, und unsere Länder sind füreinander ein wichtiger Markt. // Zu Recht ist es oftmals betont worden: Österreicher und Deutsche sind sich besonders vertraut - allein schon wegen der Sprache. Das Publikum fragt kaum mehr, ob ein Schriftsteller, Komponist oder Schauspieler und Sänger in Deutschland oder Österreich geboren wurde und welche Staatsbürgerschaft er besitzt. // Unsere Völker verbindet zudem eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte: dazu gehört das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, aber natürlich auch blutiger Krieg, um Schlesien etwa, in der Vergangenheit, ebenso wie der 1815 gemeinsam ins Leben gerufene Deutsche Bund. Und selbst in der Zeit der Nationalstaatsbildung fühlten wir uns einander so nahe, dass die Debatte über einen gemeinsamen Staat lange Jahre auf der politischen Agenda stand. // Wir wissen, wie die Geschichte ausging. 1871 entstand das Deutsche Reich - ohne Österreich. Die staatliche Vereinigung Deutschlands und Österreichs war auch nach dem Ersten Weltkrieg keine Option, die Siegermächte hatten es so verfügt. Und als der Zusammenschluss dann 1938 als Anschluss Realität wurde, verspielte er im selben Moment jede Zukunftschance. Auch wenn Zehntausende auf den Straßen jubelten, als Adolf Hitler Österreich 1938 anschloss ans Deutsche Reich, so gab es zugleich die vielen anderen Österreicher, die in der nationalsozialistischen Herrschaft von Anfang an nichts als ein menschenverachtendes System der Unterdrückung sahen. Das, Herr Bundespräsident, meine Damen und Herren, ist eine Traditionslinie, auf die sich das moderne freiheitliche Österreich stolz berufen kann. Für die Menschen, die in dieser Tradition standen, war die Einheit mit Deutschland unter dem Vorzeichen der Diktatur eben keineswegs erstrebenswert, sondern erschreckend und bestürzend gewesen. // Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehen Deutschland und Österreich getrennte Wege - zunächst in kritischem Respekt, dann in wachsender freundschaftlicher Geneigtheit. Beide Staaten sind im Rückblick gut mit dieser Lösung gefahren. Mit dem Staatsvertrag von 1955, einem Meilenstein der zweiten Republik, wurde Österreich souverän und frei. Das ist nun schon 60 Jahre her. Längst bekennen sich die Österreicher ganz selbstverständlich zu ihrer Identität, voller Stolz auf dieses Land mit seiner wunderschönen Landschaft, seiner tiefverwurzelten Kultur, seiner politischen Stabilität und seinem sozialen Frieden. // In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen Österreich und Deutschland vielfach vor ähnlichen Herausforderungen. Zunächst strebten beide nach dem Ende der Besatzung und nach der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität, was im Falle Deutschlands erheblich länger dauerte als im Falle Österreichs. Beide Länder hatten gewaltige Leistungen zu erbringen, um die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen zu integrieren. Auch in Österreich standen zunächst der Wiederaufbau des Landes und die Mehrung des Wohlstands im Vordergrund. Dabei flüchteten viele Österreicher ebenso wie viele Westdeutsche vor den langen Schatten der Vergangenheit ins große Schweigen oder auch in die Traumwelt von Heimatfilmen oder Schlagermusik. Es hat mich sehr bewegt, Herr Bundespräsident, wie Sie diese Zeit und die Position innerhalb der Bevölkerung hier gerade beschrieben haben. // Der Umgang mit der eigenen Vergangenheit, das musste erst erlernt werden, von Deutschen wie von Österreichern. Sie, Herr Bundespräsident, gehörten 1962 zu den ersten, die in Österreich die fortdauernde Weitergabe von antisemitischem oder neonazistischem Gedankengut unter dem Dach einer Hochschule anprangerten. In den 1980er Jahren drangen die Dispute aus der Alpenrepublik bis ins europäische Ausland und bis nach Amerika. Ich weiß zu schätzen, welche große Bedeutung den Worten von Franz Vranitzky zukam, der 1991 als erster Bundeskanzler im Nationalrat aussprach, was lange - für einige viel zu lange - tabuisiert worden war: "Wir bekennen uns zu allen Taten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen. Und so, wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen, bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten." // Deutschland hat nach seinen eigenen Erfahrungen im Umgang mit nationalsozialistischer, später auch mit kommunistischer Vergangenheit ähnliche Überzeugungen gewonnen wie Österreich: Wenn wir uns offen und unvoreingenommen der Vergangenheit nähern, kann Wissen an die Stelle des Schweigens treten. Wahrheit hilft und Wahrheit befreit. Wir achten die Erfahrungen eines jeden Einzelnen. Gewiss: Wir sind nationale Narrative gewohnt. Aber wir können durchaus die eigenen Sichtweisen um die Sichtweisen der Anderen erweitern, und wir können unsere bisherigen Sichtweisen, wo es erforderlich ist, verändern: Das beste Korrektiv gegenüber einem Denken, das sich primär am Nationalen orientiert, ist die Orientierung an universellen Werten, an den Menschenrechten und an der Menschenwürde. // Lassen Sie mich noch einen Blick auf die letzten Jahrzehnte werfen. In einem beispiellosen Einigungsprozess ist es gelungen, die Staaten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg verfeindet und misstrauisch gegenüber standen, auf der Grundlage der Prinzipien von Frieden, Freiheit und Menschenrechten zusammenzuführen. Es war ein Einigungsprozess, der zunächst im Westen des Kontinents, Jahrzehnte später auch in der Mitte und im Osten stattfand. Den Europäern ist es fast überall auf unserem Kontinent gelungen, den Dialog an die Stelle der Feindschaft, und das Miteinander der Verschiedenen an die Stelle eines Wettkampfs um Vorherrschaft und Macht zu setzen. Europa ist damit zum Modell für viele demokratische und freiheitsliebende Menschen auf der ganzen Welt geworden. // An dieser Stelle liegt es nahe, einen weiteren Jahrestag ins Gedächtnis zu rufen: Vor fast genau zwanzig Jahren, am 1. Januar 1995, wurde Österreich Mitglied der Europäischen Union. Sich militärisch zur Neutralität verpflichtend, ist Österreich politisch doch immer ein Teil jener Völkerfamilie gewesen, die sich der Freiheit des Einzelnen und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung verschrieben hat. Gerade Österreich, das kommunistischen Ländern Nachbar war, wurde ein wichtiger Ort der Sehnsucht und der Zuflucht für Verfolgte aus Mittel- und Osteuropa. // Die besondere Anteilnahme der Österreicher am Schicksal der Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs verdient großen Respekt. Während des Aufstands 1956 standen sie an der Seite der freiheitsliebenden Ungarn. 1968 hofften und bangten sie mit den Tschechen und Slowaken während des Prager Frühlings. Flüchtlingen aus beiden Ländern begegneten sie mit viel Sympathie und Hilfsbereitschaft. Und im Frühsommer 1989 war Österreich gerne bereit, tausenden von DDR-Bürgern ein erstes Obdach zu bieten, als sich die Chance für die Flucht dieser Menschen bot, weil Ungarn schon den Schießbefehl aufgehoben und die Grenzen partiell geöffnet hatte. Das werden wir nicht vergessen und dafür bleiben wir dankbar. // Nachbarschaftliche und kulturelle Bande konnten erneuert werden, als Europa nach 1989 wieder eins wurde und Österreich den Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellte. Die Wirtschaft profitierte von der Einigung - und mit ihr die Menschen. Und doch haben sich die Hoffnungen auf eine immer engere Zusammenarbeit nicht überall erfüllt. In einigen Ländern Europas, auch innerhalb der Europäischen Union, sehen wir Gefahren für Rechtsstaat und Pluralismus, in anderen das Anwachsen populistischer und nationaler bis nationalistischer Strömungen und Parteien. Sogar ein so großer und für uns alle so wichtiger Partner wie Großbritannien hat Schwierigkeiten, seine Mitgliedschaft in der EU dauerhaft zu bejahen. Dazu kommt noch die Gefahr, die islamistische Terrororganisationen innerhalb Europas darstellen. Angesichts dieser Herausforderungen gewinnt die gemeinsame Verteidigung und Festigung von Einheit, Freiheit und Demokratie in Europa eine neue, eine große Bedeutung. // Deshalb erscheint mir ein abgestimmtes, ja gemeinsames Vorgehen der Europäischen Union in der Außenpolitik besonders bedeutsam zu sein. Wenn keine Garantie mehr besteht, dass überall in Europa das Völkerrecht geachtet wird, dann haben die Mitglieder der Europäischen Union neu über ihre gemeinsame Sicherheit nachzudenken. // Unsere beiden Staaten haben je eigene Erfahrungen gemacht mit den Möglichkeiten und den Grenzen der Politik in den Zeiten des Kalten Krieges: Konkurrenz und Konfrontation zwischen den beiden Machtblöcken bargen immer auch die Gefahr eines "heißen" Krieges. Trotz mancher Enttäuschungen setzen wir deshalb heute auf Deeskalation und Gespräch. // Zugleich wissen wir: Es war 1975 die Schlussakte des Helsinki-Prozesses und das Bekenntnis zu unveräußerlichen Menschenrechten und Grundfreiheiten, das der mitteleuropäischen Freiheitsbewegung auch Inspiration und Ermutigung bot. Es war der erklärte Wille der Menschen dort, unabhängig und selbstbestimmt, in Freiheit und Demokratie zu leben. Was vor einem Vierteljahrhundert bei Polen, bei Ungarn und Tschechen unsere ungeteilte Unterstützung fand, kann uns deshalb heute in der Ukraine nicht gleichgültig lassen. // Heute wie damals besteht Europa auf dem Respekt vor der Souveränität und territorialen Integrität jeden Landes und dessen Recht, seine Partner frei wählen zu dürfen. Heute wie damals weiß Europa, dass nichts den Wohlstand und das friedliche Zusammenleben besser sichert als die Menschen- und Bürgerrechte in einem funktionierenden Rechtsstaat. // Ich freue mich, dass ich an diesem Tag bei Ihnen sein kann. Und ich freue mich vor allem deshalb, weil unsere beiden voneinander getrennten Staaten doch noch mehr verbindet als eine gemeinsame Sprache. Es ist unser gemeinsames Wertefundament und es sind gemeinsame Ideale. Sie verbinden unsere Länder als gleichberechtigte Partner in der großen Familie der Europäischen Union. Und noch etwas verbindet uns: Österreich und Deutschland haben heute die gemeinsame Verantwortung, die Ordnung und die Werte auf denen sie beruht, in der Zukunft zu sichern. Es ist der Geist der europäischen Zusammenarbeit, der unsere Länder auch künftig vereinen wird. Der 70. Jahrestag der Wiedererrichtung der demokratischen Republik Österreich, zu dem ich von Herzen gratuliere, ist ein guter Anlass, sich darüber zu freuen und gemeinsam "Ja" zu sagen zu dieser Verantwortung.
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Joachim Gauck
Guten Abend aus dem Schloss Bellevue. Ich wünsche Ihnen allen, wo immer Sie jetzt zuschauen, ein frohes Weihnachtsfest! // In diesen festlichen Tagen beschenken wir uns gegenseitig. Durch gute Wünsche und Besuche zeigen wir: Wir gehören zusammen - als Familie, als Freunde, als Nachbarn. Wir brauchen diese Bindungen. Denn Glück und Erfüllung erfahren wir, wenn wir anderen zukommen lassen, was wir selber für uns erhoffen: Aufmerksamkeit, Nähe und Zuwendung. // Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir stehen am Ende eines Jahres, das uns viel Grund zur Freude bietet: Deutschland hat mehr Arbeit als je zuvor, es ist im Ausland beliebt wie nie, und Fußball-Weltmeister sind wir auch. // Zugleich aber blicken wir zurück auf ein Jahr voller Friedlosigkeit, auf Kriege, Bürgerkriege, Terror und Mord, sogar unter Berufung auf die Religion. Fast täglich hören wir von getöteten Menschen. Das Elend der unzähligen Heimatlosen und Vertriebenen steht uns vor Augen. // Wenn wir dann die weihnachtliche Botschaft hören: "Friede auf Erden!", so klingt sie in diesem Jahr besonders dringlich. Denn wir spüren: Kein Friede ist selbstverständlich. Jeder Frieden, ja, auch der, den wir bei uns glücklich und in Freiheit erleben, ist kostbar. // Unser Land ist heute ein Land des Friedens. Deshalb: Wo wir dazu beitragen können, dass Frieden erhalten oder gestiftet, dass Leid gelindert und eine bessere Zukunft gebaut werden kann, sollten wir alles tun, was in unserer Macht steht. Unsere Kultur, unsere Demokratie steht gegen Unfrieden, Hass und todbringende Gewalt. // Eine menschliche Gesellschaft braucht die tägliche Achtung voreinander und das tägliche Achtgeben aufeinander. Nur so schafft sie ein friedvolles Miteinander. Dieses Gebot kennen auch alle Religionen, es verbindet und verpflichtet uns alle. // Ein deutliches Zeichen für die Menschlichkeit in unserer Gesellschaft sehe ich darin, dass es mittlerweile so viel Bereitschaft gibt, Flüchtlinge aufzunehmen. Vor wenigen Tagen erst habe ich einen Verein in Magdeburg besucht, der sich um minderjährige Flüchtlinge kümmert, die ohne Familie in Deutschland gestrandet sind. Dass wir mitfühlend reagieren auf die Not um uns herum, dass die Allermeisten von uns nicht denen folgen, die Deutschland abschotten wollen, das ist für mich eine wahrhaft ermutigende Erfahrung dieses Jahres. // Ermutigung: Das ist die zweite weihnachtliche Botschaft. Auch sie erklang einst auf den Feldern von Bethlehem und sie lautet: "Fürchtet euch nicht!" Der Gott, der der Welt in der Gestalt eines kleinen Kindes erschienen ist, will jede Furcht von uns nehmen. // "Fürchtet euch nicht!": Das möchte ich in diesem Jahr allen zurufen, die sich durch die Entwicklung in der Welt beunruhigt fühlen, die besorgt sind, dass wir auf etliche Fragen noch keine Antworten kennen. // Ängste ernst zu nehmen, heißt nicht, ihnen zu folgen. Mit angstgeweiteten Augen werden wir Lösungswege nur schwer erkennen, wir werden eher klein und mutlos. Die Botschaft "Fürchtet euch nicht!" dürfen wir auch als Aufforderung verstehen, unseren Werten, unseren Kräften und übrigens auch unserer Demokratie zu vertrauen. Und wir haben es doch schon erfahren: Wer sich den Herausforderungen stellt, findet auch Lösungen. Gerade jetzt, 25 Jahre nach der Friedlichen Revolution, erinnern wir daran, dass sich die Verhältnisse zum Besseren wenden lassen. // Wir wissen: Ängste werden uns immer begleiten. Aber wir wissen auch: Das zu leben, was wir das Humane nennen, ist tatsächlich unsere große Menschenmöglichkeit. // Dies erfahren wir immer wieder. Ich denke an die vielen, die sich auch heute in der Nachbarschaft, im Krankenhaus oder im Heim um Mitmenschen kümmern. Ich denke auch an Menschen, die in den Ebola-Gebieten Afrikas tätig sind. An die vielen Entwicklungshelferinnen, an Soldaten, an Ärztinnen - an alle, die aus dieser Welt und aus unserem Land einen besseren Ort machen. // Wir alle können einen Beitrag leisten, damit der Wärmestrom lebendig bleibt, ohne den die Welt kalt und friedlos wäre: Indem wir uns engagieren, wenn unsere Mitmenschen Hilfe brauchen. Indem wir Bedrohten Frieden und Verfolgten Schutz bieten. // Dazu kann uns die weihnachtliche Botschaft Mut zusprechen. // In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein fröhliches, gesegnetes Weihnachtsfest.
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Joachim Gauck
Herzlich willkommen Ihnen allen! Sie, verehrte Frau Springer, sind schon einmal aus feierlichem Anlass hierher ins Schloss Bellevue gekommen: 2008 - zur Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern. Heute - 2012 - könnte man beim Namen Springer gleich an mehrere große Gründe denken. 100 Jahre Axel Springer habe ich im Mai bei einer Revue der ganz besonderen Art erleben dürfen. Die Bild-Zeitung feierte außerdem ihren Sechzigsten. Aber was für uns hier am allerwichtigsten ist: Auch Sie, verehrte Frau Springer, hatten im August einen runden Geburtstag. Es sind diese - Ihre - Jahrzehnte, die wir mit dem heutigen Ehrenessen würdigen wollen. // Ich erinnere mich noch: Als Ihre Biografie erschien, hat die ZEIT getitelt: "Die Märchenprinzessin" - auf den ersten Blick eine sehr schöne, auf den zweiten Blick auch eine sehr sprechende Überschrift. Denn wir alle wissen, dass Prinzessinnen nicht nur gesegnet sind mit guten Eigenschaften und mit der Aussicht auf großes Glück, sondern dass ihnen das Schicksal oft harte Prüfungen auferlegt. Ein großmächtiges Medienimperium kann reich, aber auch reich an Sorgen sein. Die Öffentlichkeit hat sehr genau beobachtet, wie Sie nach dem Tod Ihres Mannes das eigene Dasein und das Ihres Unternehmens in die Hand genommen haben. Ihr Mut und Ihre Durchsetzungskraft haben vielen Menschen Respekt abverlangt. Als bei den großen Springer-Feiern in diesem Jahr die beiden Namen Axel und Friede so oft in einem Atemzug genannt wurden, schwang große Anerkennung mit. Es ging um weit mehr als ein märchenhaftes Paar. Es ging um ein Paar, das buchstäblich deutsche Geschichte geschrieben hat - bzw. hat schreiben lassen. // An dieser Stelle könnte ich jetzt über die Verantwortung der Medien als Multiplikatoren und "Macher" von Zeitgeschichte, auch Macher von Meinungen referieren. Ich könnte - wie Henryk M. Broder neulich - der Versuchung nachgeben und eine Laudatio auf Friede Springer mit einem umfassenden Exkurs zur aktuellen politischen Agenda verbinden. Oder ich könnte, wie es so oft geschieht, ein einzelnes Leben in seinen Höhen und Tiefen stellvertretend für ein großes gesellschaftliches Thema betrachten. // Doch damit würde ich der Idee der Ehrenessen in Bellevue nicht gerecht werden. Sie sind nämlich einer besonderen Persönlichkeit und ihren Gästen gewidmet. Deshalb spreche ich nur so lange, wie es unser Koch mit seinem Menüplan vereinbaren kann. Und ich spreche nicht über die Produkte des Springer-Konzerns, die mitunter heftig umstritten sind - das ist Teil unserer demokratischen Meinungsvielfalt -, sondern über eine Frau und ihre unbestreitbaren Verdienste im Leben. Ich bleibe also bei dem Menschen, um den es uns heute geht: Friede Springer. // Man lobt und schätzt Sie in diesem Jubiläumsjahr immer wieder als erfolgreiche Unternehmerin. Ich möchte vor allem Anerkennung für Ihr Wirken als Stifterin und in Ihren vielen Ehrenämtern ergänzen. Sie haben zum Beispiel den Einsatz Ihres Mannes für die deutsch-israelische Verständigung auf eine Weise fortgesetzt, die Ihnen schon mit dem Leo-Baeck-Preis und jüngst mit der Mendelssohn-Medaille gedankt wurde. Sie fördern Wissenschaft, Forschung und Kultur, besonders gern junge Talente auf ihrem Weg. Drei Springer-Stiftungen und ungezählte Kuratorien, Vereine und Initiativen dürfen mit Ihrer Unterstützung rechnen. Sie sind großzügig, wann immer Ihr guter Name oder eine gute Summe der guten Sache dienen können. // Was mich besonders beeindruckt: Wenn Sie zu diesem Engagement befragt werden, stellen sie es fast als Selbstverständlichkeit dar, als eine Verpflichtung, Selbstverpflichtung, die ein großes, erfolgreiches Unternehmen in unserer Gesellschaft wahrnimmt. Diese Haltung ist noch wertvoller als jeder Euro. Wir brauchen beides: Den Staat, der im Sinne unseres Grundgesetzes ein "demokratischer und sozialer Bundesstaat" sein soll und soziale Entfaltung jedes Bürgers sichert. Und wir brauchen den Spielraum für privates, soziales Engagement. Wie mühsam es ist, sich solchen Spielraum - mental wie finanziell - zurückzuerobern, wenn er einmal verloren ging, sehen wir in Ostdeutschland. Deshalb bedeutet es mir viel, Sie - verehrte Frau Springer - heute als Vorbild für viele in unserer Mitte begrüßen zu dürfen. Mäzenatentum und Unternehmergeist sind kein Widerspruch, sie können eine segensreiche Symbiose bilden. Danke dafür! // In meinen Unterlagen habe ich entdeckt: Für Ihre Herz-Stiftung haben Sie als Motto ein Zitat von Tolstoi gewählt. "Im Herzen eines Menschen ruht der Anfang und das Ende aller Dinge." Meine Rede ist jetzt am Ende, aber anstoßen möchte ich mit Ihnen auf den Anfang, am liebsten im Plural. Erheben wir das Glas auf Friede Springer und viele gelungene Neuanfänge!
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Joachim Gauck
Heute vor 75 Jahren begann hier auf der Westerplatte der Zweite Weltkrieg. Während des Krieges standen mehr als 110 Millionen Menschen unter Waffen, fast 60 Millionen kamen um. Mehr als 60 Staaten waren in diesen Krieg verwickelt, in einem Waffengang, der erst nach sechs Jahren endete und mit dem Völkermord an den Juden eine bis dahin unbekannte Grausamkeit und Menschenverachtung erreichte. // Die Menschen hier in Polen haben entsetzlich gelitten unter diesem Krieg, der ihnen vom Deutschen Reich aufgezwungen worden war. Denn nach der militärischen Niederlage im Oktober 1939 setzte sich die Gewalt als Terror gegen die Zivilbevölkerung fort. Hitler wollte mehr als die Korrektur der Grenzen von Versailles - er suchte sogenannten "Lebensraum" für das deutsche Volk. Hitler wollte auch mehr als einen polnischen Vasallenstaat - er strebte die gänzliche Vernichtung des Staates an - die Auslöschung seiner führenden Schicht und die Ausbeutung der übrigen Bevölkerung. // Hitler nutzte Polen als Laboratorium für seinen Rassenwahn, als Übungsfeld für seine Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik gegenüber Slawen und Juden. Fast sechs Millionen polnische Bürger wurden willkürlich erschossen oder systematisch liquidiert. Sie endeten in Gefängniszellen, bei der Zwangsarbeit, im Bombenhagel oder in den Konzentrationslagern. // Und noch etwas kennzeichnet dieses Land: Keine andere Nation hat in einem derartigen Umfang und so lange Widerstand geleistet. Polen wollten ihr Land eigenständig befreien. Polen wollten ein freies, ein selbstbestimmtes und unabhängiges Land. // Als die Befreiung dann endlich kam, brachte sie der Nation jedoch weder Freiheit noch Unabhängigkeit. Polen zählte zu den Siegern, doch weder Freiheit noch Unabhängigkeit wurden Ihrem Land zuteil. Mit der sowjetischen Herrschaft folgte eine Diktatur auf die vorangegangene. Frei wurde Polen erst dank Solidarnosc. // Die bitteren Erfahrungen gerade der polnischen Nation zeigen: Wirklich in Frieden mit den Nachbarn leben nur Völker, die unabhängig und selbstbestimmt über ihr Schicksal entscheiden können. Wirklich in Frieden mit den Nachbarn leben nur Völker, die die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Anderen respektieren. // Heute dürfte es in Deutschland nur noch wenige Menschen geben, die persönliche Schuld für die Verbrechen des NS-Staates tragen. Ich selber war gerade fünf Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging. Aber als Nachfahre einer Generation, die brutale Verbrechen begangen oder geduldet hat, und als Nachfahre eines Staates, der Menschen ihr Menschsein absprach, empfinde ich tiefe Scham und tiefes Mitgefühl mit jenen, die unter den Deutschen gelitten haben. Für mich, für uns, für alle Nachgeborenen in Deutschland, erwächst aus der Schuld von gestern eine ganz besondere Verantwortung für heute und morgen. // Wenn die Beziehungen zwischen Völkern so tief von Unrecht, von Schmerz, von Arroganz und Demütigung geprägt waren wie bei Deutschen und Polen, ist eine Entfeindung alles andere als selbstverständlich. Die Annäherung zwischen unseren Völkern kommt mir daher wie ein Wunder vor. // Um dieses Wunder Wirklichkeit werden zu lassen, brauchte und braucht es Menschen, die politische Vernunft und einen starken Willen einbringen. Politische Vernunft, um den Weg weiter zu beschreiten, den Westeuropa 1950 mit der Schaffung einer europäischen Völkerfamilie begann und nach 1989 gemeinsam mit Mittel- und Osteuropa fortsetzte. Ferner den starken Willen, die schmerzhafte Vergangenheit wohl zu erinnern, aber letztlich doch hinter sich zu lassen - um einer gemeinsamen Zukunft willen. // Ich kenne die langen Schatten, mit denen Leid und Unrecht die Seelen der Menschen verdunkeln. Ich weiß, dass Leid betrauert werden will und dass Unrecht nach ausgleichender Gerechtigkeit ruft. Deshalb brauchen wir weiter den aufrichtigen Umgang mit der Vergangenheit, der nichts verschweigt und nichts beschönigt und den Opfern Anerkennung zuteilwerden lässt. Ich weiß allerdings auch, dass Wunden nicht heilen können, wenn Groll oder Ressentiments die Versöhnung mit der neuen Wirklichkeit verhindern und dem Menschen die Zukunft rauben. // Um eben dieser Menschen willen dürfen wir altem und neuem Nationalismus keinen Raum geben. Um eben dieser Zukunft willen lassen Sie uns weiter vereint das friedliche und demokratische Europa bauen und mit Dankbarkeit an jene Deutschen und Polen erinnern, die schon früh aufeinander zugingen: mutige Menschen in den evangelischen und katholischen Kirchen, in der Aktion Sühnezeichen, unter den Intellektuellen beider Länder. Gerade wir Deutschen werden nicht den Kniefall von Willy Brandt in Warschau vergessen, jene Geste der Demut, mit der er um Vergebung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg bat. In unserer Erinnerung bleibt auch die Umarmung von Bundeskanzler Helmut Kohl und Premierminister Tadeusz Mazowiecki im schlesischen Kreisau - nur drei Tage nach dem Fall der Mauer 1989. Auf berührende Weise symbolisierte sie das Ende von Feindschaft, von Misstrauen, von Krieg und den Wunsch nach Verständigung und Aussöhnung. // Als sich vor genau fünf Jahren hier auf der Westerplatte 20 europäische Staats- und Regierungschefs versammelten, um gemeinsam der Gräuel des Zweiten Weltkriegs zu gedenken, sahen wir uns auf dem Weg zu einem Kontinent der Freiheit und des Friedens. Wir glaubten und wollten daran glauben, dass auch Russland, das Land von Tolstoi und Dostojewski, Teil des gemeinsamen Europa werden könnte. Wir glaubten und wollten daran glauben, dass politische und ökonomische Reformen unseren Nachbarn im Osten der Europäischen Union annähern und die Übernahme universeller Werte in gemeinsame Institutionen münden würden. // Wohl niemand hat damals geahnt, wie dünn das politische Eis war, auf dem wir uns bewegten. Wie irrig der Glaube, die Wahrung von Stabilität und Frieden habe endgültig Vorrang gewonnen gegenüber dem Machtstreben. Und so war es ein Schock, als wir mit der Tatsache konfrontiert wurden, dass am Rande von Europa wieder eine kriegerische Auseinandersetzung geführt wird. Eine kriegerische Auseinandersetzung um neue Grenzen und um eine neue Ordnung. Ja, es ist eine Tatsache: Stabilität und Frieden auf unserem Kontinent sind wieder in Gefahr. // Nach dem Fall der Mauer hatten die Europäische Union, die NATO und die Gruppe der großen Industrienationen jeweils besondere Beziehungen zu Russland entwickelt und das Land auf verschiedene Weise integriert. Diese Partnerschaft ist von Russland de facto aufgekündigt worden. Wir allerdings wünschen uns auch in Zukunft Partnerschaft und gute Nachbarschaft. Aber die Grundlage muss eine Änderung der russischen Politik und eine Rückkehr zur Achtung der Prinzipien des Völkerrechts sein. // Weil wir am Recht festhalten, weil wir es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird, stellen wir uns jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Abspaltung in fremden Ländern militärisch unterstützen. Und deshalb stehen wir ein für jene Werte, denen wir unser freiheitliches und friedliches Zusammenleben verdanken. Wir werden Politik, Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft den neuen Umständen anpassen. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten lassen sich in diesen Grundfragen nicht auseinanderdividieren, auch nicht in der Zukunft. // Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern. Die Geschichte lehrt uns auch, dass aus unkontrollierter Eskalation eine Dynamik entstehen kann, die sich irgendwann der Steuerung entzieht. Und deshalb strebt Deutschland - wie die ganze Europäische Union - nach einer deeskalierenden Außen- und Sicherheitspolitik, die Prinzipienfestigkeit und Kompromissfähigkeit, Entschiedenheit und Elastizität miteinander verbindet - und die imstande ist, einer Aggression Einhalt zu gebieten ohne politische Auswege zu verstellen. // Europa steht vor neuen, vor großen Herausforderungen. Was wir augenblicklich erleben ist die Erosion alter Ordnungen und das Aufflackern neuer Formen von Gewalt an unserer Peripherie. Das gilt auch für den Nahen Osten und Nordafrika. Nur an wenigen Orten führte der Arabische Frühling zu Demokratie und Stabilität, vielerorts halten die Unruhen und die Machtkämpfe an. Starken Einfluss gewannen islamistische Gruppen, besonders gewalttätige Fundamentalisten setzten sich in Teilen von Syrien und im Irak durch. // Im Unterschied zu früheren Rebellionen geht es diesen Gruppen nicht um einen Machtwechsel im nationalstaatlichen Rahmen. Sie sind viel radikaler und zielen auf die Errichtung eines terroristischen Kalifats im arabischen Raum. Fanatisierte und brutalisierte Frauen und Männer aus unterschiedlichen Ländern missbrauchen die Religion und die Moral, um alle zu verfolgen und unter Umständen zu ermorden, die sich ihnen widersetzen - Muslime ebenso wie Andersgläubige. Unsere westlichen Staaten und Städte halten sie für Orte der Verderbnis. Die aus der Aufklärung erwachsene Gesellschaftsform der Demokratie wird von ihnen bekämpft und die Universalität der Menschenrechte, sie wird von ihnen geleugnet. // Verhinderung wie Bekämpfung dieses Terrorismus liegen ganz existentiell im gemeinsamen Interesse der Staatengemeinschaft und damit Europas. Erstens wegen der geographischen Nähe: Die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten kommen zu uns nach Europa, und die Terroristen werben neue Rekruten auch in unseren Staaten an. Zweitens, weil der Konflikt unsere europäischen Länder erreichen kann. Nicht auszuschließen ist, dass auch europäische Staaten zum Ziel islamistischer Angriffe werden. // Wenn wir den heutigen Jahrestag hier auf der Westerplatte gemeinsam begehen, so konfrontieren wir uns nicht nur mit dem, wozu Menschen im Zweiten Weltkrieg fähig waren. Wir konfrontieren uns heute gemeinsam auch ganz bewusst mit dem, wozu Menschen heute fähig sind. // Ja, uns führt heute das Gedenken zusammen, aber genauso stehen wir zusammen angesichts der aktuellen Bedrohungen. Niemand sollte daran zweifeln: Deutsche und Polen stehen beieinander und ziehen am selben Strang. Gemeinsam nehmen wir die besondere Verantwortung an, die uns mit den Konflikten in unserer Nachbarschaft zugewachsen ist. Wir handeln entsprechend und engagieren uns für friedliche Lösungen. // Auch die Europäische Union muss angesichts der neuen Herausforderungen zusammenstehen. Denn nur gemeinsam können wir das demokratische und friedliche Europa der Zukunft bauen. Und nur gemeinsam können wir es verteidigen.
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Joachim Gauck
In tiefer Trauer verneigen wir uns vor Richard von Weizsäcker, einem großen Deutschen und einem herausragenden Präsidenten. Wie nur wenige stand er für unser Land - und wie nur wenige hat er für unser Land weltweit Achtung und Sympathie erworben. // Die deutsche Geschichte hat ihn geprägt. Und er hat selber tiefe Spuren in der Geschichte unseres Landes hinterlassen. Richard von Weizsäcker hat uns in den langen Jahren seines Wirkens Inspiration und Orientierung gegeben. // Wir waren es gewohnt, ihn bis ins hohe Alter zu wesentlichen Fragen zu hören. Seine Stimme, seine Art zu denken und zu sprechen, sind uns in den Jahrzehnten seines Wirkens so vertraut geworden wie die eines väterlichen Freundes. Er war ein Pater Patriae, so hätte man es früher gesagt. Er war uns vertraut - und wir haben Vertrauen zu ihm gehabt. // Wenn auch nicht jeder mit allem einverstanden gewesen ist, was er gesagt hat, so haben wir doch immer gewusst: Was er sagt, ist die Frucht einer großen Lebenserfahrung, eines unabhängigen Geistes und einer gründlichen Gewissensbefragung. Weil er nicht auf schnellen Applaus aus war, sondern auf Mitdenken; weil er auf die Kraft des Arguments baute und nicht auf schnelle Überredung; weil er auch beim Anderen voraussetzte, was ihn selber leitete: der Wille zum moralisch begründeten Handeln. All das hat dazu beigetragen, dass er glaubwürdig war. // Im Grundgesetz steht nicht geschrieben, dass ein Bundespräsident eine moralische Instanz zu sein hat. Es ist auch nicht vorgeschrieben, dass er intelligent sein, der sittlichen Vernunft folgen und auch noch durch tiefgründige Reden überzeugen können soll. Aber Richard von Weizsäcker hat all dies beherrscht oder hat es gelebt - souverän, freundlich und selbstverständlich. // Er hat damit Maßstäbe für das Amt gesetzt. Das galt für seine vielbewunderte Fähigkeit, unter praktisch allen Umständen Würde und Souveränität auszustrahlen. Er überzeugte besonders, weil Amt und Person so passgenau zur Deckung kamen. Und weil seine Reden und seine Handlungen, seine ganze Unabhängigkeit so sehr dem entsprachen, was die Deutschen sich von einem Staatsoberhaupt wünschten. // Das galt übrigens nicht nur für die Bundesdeutschen der Bonner Republik. Auch für uns Deutsche in der DDR war er eine Integrationsfigur. Mit unzähligen Menschen in der DDR wünschte ich einst, er könnte auch unser Präsident sein. Später wurde er zu unser aller Glück der erste Bundespräsident im wiedervereinigten Land. Er war es, der 1987 zu Michail Gorbatschow, der damals von einer "offenen deutschen Frage" nichts wissen wollte, gesagt hatte: "Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor zu ist". // Die äußerlich wahrnehmbare Souveränität kann nur dem gelingen, dessen Souveränität aus innerer Stärke kommt. // Woher die innere Stärke dieses Mannes kam, bleibt letztlich, wie bei jedem Menschen, ein Geheimnis. Aber wir dürfen schon vermuten, dass seine Erziehung dazu beitrug: in einer Familie, in der der Dienst am Gemeinwesen in hohen und höchsten Ämtern über Generationen üblich war. // Die Erfahrung mit seinem Vater hat ihn andererseits auch gelehrt, vor welche Gewissensfragen ein solcher Dienst einen Menschen stellen kann. Wohl sein Leben lang hat er sich innerlich mit seinem Vater auseinandergesetzt, dem Staatssekretär im nationalsozialistischen Deutschland, den er, nicht nur vor dem Nürnberger Gericht, sondern immer verteidigt hat. // Geprägt haben ihn gewiss auch seine eigenen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg: Schon am ersten Tag des Krieges musste er dabei sein, als die Wehrmacht in Polen einmarschierte. Am zweiten Tag wurde sein Bruder, wenige hundert Meter von ihm entfernt, tödlich verletzt. Der Kriegsteilnehmer von Weizsäcker hat vieles gesehen, vieles erlebt und später vieles verarbeiten müssen. Er hat darüber nur wenig gesprochen. Aber zeitlebens hat ihm die eigene Zeit mit ihren Brüchen und Kontinuitäten vor Augen gestanden. Das hat ihn nicht nur zu einem Zeugen der Zeiten, sondern später zu einem Deuter der Zeit gemacht. // Und ganz gewiss haben ihn die Erfahrungen seiner jungen Jahre zu einem überzeugten Demokraten gemacht. Auch dass eine Demokratie wehrhaft und stark sein muss, war ihm bewusst als eine nie zu vergessende Lehre aus dem Scheitern von Weimar. // Dass Politik im demokratischen Rechtsstaat durch Parteien gestaltet wird, war Richard von Weizsäcker vollkommen klar. Er ist 1954 Mitglied der CDU geworden, und ohne diese Mitgliedschaft hätte er damals keine politischen Ämter erreichen können. Sein "Ja" zur Parteiendemokratie hinderte ihn nicht, später auf die Gefahr hinzuweisen, dass Parteien versucht sein können, den eigenen Machterhalt vor das Interesse des Gemeinwesens zu setzen. // Freiheitliche Gesinnung und demokratische Überzeugung bedeuteten für ihn nicht, sich immer der Mehrheit zu fügen. 1972 stellte er sich gegen die überwältigende Mehrheit seiner Bundestagsfraktion und kündigte an, für die Annahme der Ostverträge stimmen zu wollen. Sein politischer Einsatz führte letztlich dazu, dass sich die allermeisten Abgeordneten von CDU und CSU der Stimme enthielten. So half er, diese Verträge und damit die historische Leistung von Bundeskanzler Willy Brandt zu ratifizieren. // Ohne die enge Einbindung in das Atlantische Bündnis je in Frage zu stellen, knüpfte er an sein eigenes langjähriges und leidenschaftliches Engagement für eine Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands an. Richard von Weizsäcker war nicht nur 1965 an der Formulierung der wegweisenden Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland beteiligt. Durch vielerlei Kontakte knüpfte er Bande des Vertrauens, die sich als haltbar erwiesen und die sich später, bei der Überwindung der Teilung Europas, als ungemein wichtig herausstellten. Angesichts seines Todes sind deshalb gerade aus Polen große Zeichen der Anteilnahme gekommen. // Es war nicht immer einfach, seine eigenen Parteifreunde von der Richtigkeit dieses Weges zu überzeugen. Auch die Gelassenheit, mit der er den Protestbewegungen der 1980er Jahre begegnete, als Regierender Bürgermeister von Berlin sogar den Hausbesetzern, betrachtete mancher aus dem konservativen Milieu mit Skepsis. Aber er half doch damit, die Verankerung des demokratischen Staates in den Köpfen und Herzen gerade der kritischen Geister zu stärken. Auch so wurde Richard von Weizsäcker zu einem der glaubwürdigsten Repräsentanten dieser Republik, gerade für die jüngere Generation. // Zu seiner inneren Stärke und zu seiner klaren Orientierung trug nicht zuletzt sein christlicher Glaube bei. Bei Richard von Weizsäcker waren Wort und Tat erkennbar die eines engagierten Christen. Die Aufgabe, die er lange Jahre als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages wahrgenommen hat, sie hat ihm entsprochen. // Von großer Bedeutung war für ihn die Kraft, die er aus seiner Familie schöpfte und ganz besonders aus der jahrzehntelangen Liebe zu und von seiner Frau Marianne. // Liebe, verehrte Frau von Weizsäcker, wir alle konnten sehen, was Sie beide einander bedeuteten. Deshalb sind wir Ihnen auch dankbar für Ihre Unterstützung dieser bedeutenden Präsidentschaft. Und es ist uns ein tiefes Bedürfnis, in diesen Tagen des Abschieds Ihren Schmerz mitzutragen. Wenn schon für uns, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, der Tod Richard von Weizsäckers ein so großer Verlust ist, dann erst recht doch für seine Familie, seine Kinder, seine Enkel, auch für seine Freunde. Ihnen allen gilt unser Mitgefühl. // Richard von Weizsäcker hat ein wahrhaft biblisches Alter erreicht. Er ist ein Zeuge des Jahrhunderts. In seiner Lebensgeschichte begegnet uns eine Existenz, die noch ganz andere Prägungen erfahren hat als unsere Gegenwart sie kennt. Als er im Stuttgarter Neuen Schloss geboren wurde, war die württembergische Monarchie, der sein Großvater noch gedient hatte, gerade einmal zwei Jahre abgeschafft. // Als gebürtiger Schwabe gehörte er einem Deutschen Reich an, das von Aachen bis Königsberg reichte. Und als er Bundespräsident wurde, gehörten nicht einmal mehr Erfurt und Weimar, Leipzig oder Dresden zu dem Staat, den er repräsentierte, nicht einmal "Unter den Linden" in Berlin oder die Wilhelmstraße, wo 40 Jahre zuvor das Auswärtige Amt seinen Sitz hatte, in dem sein Vater Dienst tat. All das gehörte nicht zu diesem Deutschland, dessen Präsident er wurde. // Richard von Weizsäcker wusste nicht nur intellektuell, was Deutschland durch Diktatur, Völkermord und Krieg verspielt hatte. Er erlebte es sozusagen mit seiner ganzen Biographie einschließlich seiner Familiengeschichte. Vielleicht war er deswegen - wagen wir es ruhig, dieses Wort zu benutzen: berufen dazu, uns Deutschen zu einer endgültigen Klarheit über den Krieg und seine Folgen zu verhelfen. // Im Leben eines jeden Menschen, da gibt es Momente, auf die gleichsam die ganze Existenz zuläuft, Augenblicke, in denen der Mensch "Ja" sagt zu dem, was unvertretbar auf ihn und niemanden anderes jetzt zukommt. Das war für den politischen Menschen Richard von Weizsäcker zweifellos seine Rede am 8. Mai 1985. // Richard von Weizsäcker hat sich mit dieser Rede um sein Vaterland verdient gemacht. Nicht, weil er gesagt hätte, was damals niemand gewusst hat. Er hat vielmehr das gesagt, was 1985 alle wissen mussten, was aber auch 1985 noch immer nicht alle wissen wollten. In einer langen und intensiven Vorbereitung dieser Rede hat er nicht nur Spuren aufgenommen, die frühere Bundespräsidenten gelegt hatten, hat nicht nur Stimmen und Stimmungen der bewegten Jahre nach 1968 wahrgenommen, sondern er hat all dem seine eigenen Erfahrungen beigefügt. Als Zeitgenosse des blutigen Jahrhunderts war es sein eigenes inneres "Ja", das ihn zu einer Erkenntnis geführt hat, die die Öffentlichkeit als Bekenntnis empfunden hat. Es war ein Bekenntnis. // Die zentralen Sätze beschrieben die Erkenntnis, dass die schlimmen Leiden, die die Deutschen selbst erlebten am Kriegsende, nicht als unverschuldetes Schicksal über uns gekommen waren: "Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen." Seine Worte. // Als er mit der Autorität des Staatsoberhauptes den 8. Mai einen Tag der Befreiung nannte, vergaß er nicht diejenigen, für die mit diesem Tag das Schlimmste noch lange nicht zu Ende war oder gar erst begann. Aber für Viele hat er damit dem Lavieren ein Ende gesetzt, so dass sie nun freier in die Vergangenheit sehen und in die Zukunft gehen konnten. Im Laufe der Zeit wuchs deswegen die Zustimmung zu dieser Rede auch bei denen, die erst nicht applaudieren konnten. // Und noch etwas: Richard von Weizsäcker förderte mit dieser Rede und mit seiner Haltung den Mut zur Wahrhaftigkeit. Er lebte diese Wahrhaftigkeit hier selber vor. In dieser Rede ist in eindringlichen Worten ausgedrückt, dass Menschen, dass wir aus eigener Kraft und aus eigener Erkenntnis jene Einsichten formulieren konnten, die uns befreiten zu einem neuen Selbstverständnis. Es waren nicht zuletzt diese Rede und - vergessen wir es nicht - die Politik des Bundeskanzlers Helmut Kohl, die in der Welt das Vertrauen in ein wahrhaft gewandeltes Deutschland befestigten, ein Vertrauen, das den Prozess der Vereinigung Deutschlands enorm unterstützt hat. // So sind wir dankbar, wenn wir zurückschauen: Wir sehen Richard von Weizsäcker, den Mann, der mit der Geschichte und aus der Geschichte lebte - und gerade so den Fragen der Gegenwart ungewöhnlich offen zugetan war; einen Mann, der wusste, was pragmatisches Regieren bedeutete - und gerade deshalb eine Politik ohne Wertegrundlage ablehnte; einen eminent politischen Präsidenten, der notwendigen Kontroversen nicht aus dem Wege ging - und trotzdem auf Konsens zielte; einen Mann des disputierenden Abwägens, vertraut mit den Ambivalenzen und Paradoxien der Politik - und gleichzeitig fähig zu glasklarer Eindeutigkeit in Grundfragen. // In ihm, Richard von Weizsäcker, sahen die meisten Deutschen die Verkörperung guter Präsidentschaft. Das war für die Befreundung der Deutschen mit ihrem Land, mit ihrer Demokratie wichtig. Wir könnten es auch einfacher sagen: Indem sie ihn mochten, lernten die Deutschen sich selber zu mögen. Etwas Heilendes war mit ihm in das politische Leben gekommen. Denn nur wer Vertrauen zu sich selbst hat, wird erfahren, dass auch andere ihm vertrauen. // In tiefer und großer Dankbarkeit tragen wir ihn jetzt hier in Berlin zu Grabe, in der Stadt, die auch durch seinen leidenschaftlichen Einsatz die Hauptstadt eines vereinten Deutschlands geworden ist. // Wir verneigen uns vor Richard von Weizsäcker, einem großen Bundespräsidenten, der, als es an ihm war, das Richtige sagte und das Richtige tat.
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Joachim Gauck
Übermorgen ist es siebzig Jahre her, dass der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging - jener mörderische Schrecken, der von Deutschland ausgegangen war. // Der Krieg ging endlich zu Ende, der unseren Kontinent verwüstete, in dem die Juden Europas ermordet wurden, in dessen Verlauf Millionen von Soldaten und Zivilisten starben, in dessen Folge in vielen Ländern Millionen aus ihrer Heimat vertrieben wurden, als dessen Ergebnis Europa, mitten darin Deutschland, ein halbes Jahrhundert geteilt war. // Dieser Krieg endete erst, als die westlichen Alliierten und die Sowjetunion gemeinsam Deutschland zur Kapitulation gezwungen hatten und uns Deutsche damit auch von der Nazi-Diktatur befreiten. Wir Nachgeborenen in Deutschland haben allen Grund, für diesen aufopferungsvollen Kampf unserer ehemaligen Gegner in Ost und West dankbar zu sein. Er hat es möglich gemacht, dass wir in Deutschland heute in Freiheit und Würde leben können. Wer wäre nicht dankbar dafür? // Hier in Schloß Holte-Stukenbrock erinnern wir in dieser Stunde an eines der größten Verbrechen in diesem Krieg: Millionen von Soldaten der Roten Armee sind in deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben gebracht worden - sie gingen an Krankheiten elendig zugrunde, sie verhungerten, sie wurden ermordet. Millionen von Kriegsgefangenen, die doch nach Kriegsvölkerrecht und internationalen Verabredungen in der Obhut der Deutschen Wehrmacht standen. // Sie wurden auf lange Fußmärsche gezwungen, in offenen Güterwagen verschickt, sie kamen in sogenannte Auffang- oder Sammellager, in denen es anfangs so gut wie nichts gab - keine Unterkunft, keine ausreichende Verpflegung, keine sanitären Anlagen, keine medizinische Betreuung -, nichts. Sie mussten sich Erdlöcher graben, sich notdürftig Baracken bauen - sie versuchten verzweifelt, irgendwie zu überleben. Dann wurden sie in großer Zahl zum Arbeitseinsatz gezwungen, den sie, geschwächt und ausgehungert, wie sie waren, oft nicht zu überleben vermochten. // Wenige hundert Meter von hier war das Kriegsgefangenenlager "Stalag 326 Senne". Mehr als 310.000 Kriegsgefangene waren hier. Sehr viele von ihnen sind umgekommen, Zehntausende sind hier begraben. // Was sagen Zahlen? Wenig - und doch, sie geben Auskunft, sie geben uns zumindest eine Vorstellung von dem Schrecken und von der unbarmherzigen Behandlung, die die Sowjetsoldaten in deutscher Gefangenschaft erlitten haben. Wir müssen heute davon ausgehen, dass von über 5,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen deutlich mehr als die Hälfte umkam. Millionen Schicksale, Millionen Namen, Millionen Lebensgeschichten. Es waren Russen, Ukrainer, Weißrussen, Kirgisen, Georgier, Usbeken, Kasachen, Turkmenen - Soldaten aus allen Völkern, die damals zur Sowjetunion gehörten. // Wenn wir betrachten, was mit den westalliierten Kriegsgefangenen geschah, von denen etwa drei Prozent in der Gefangenschaft umkamen, dann sehen wir den gewaltigen Unterschied: Anders als im Westen war der Krieg im Osten vom nationalsozialistischen Regime von Anfang an als ein Weltanschauungs- und Vernichtungs- und Ausrottungskrieg geplant - und in der Regel auch geführt, denken wir zum Beispiel an diese schreckliche jahrelange Belagerung Leningrads mit dem Ziel des Aushungerns einer Millionenstadt. Denken wir an die Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung in allen besetzten Ländern, ganz besonders aber in der Sowjetunion. Das geschah bewusst und vorsätzlich und auf ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers. Die Wehrmacht setzte diese Befehle bereitwillig um. Es war der Generalstabschef Halder, der im Mai 1941 formulierte: "Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad". Dementsprechend sollten die Gefangenen behandelt werden, und das ist bei den Völkern der ehemaligen Sowjetunion bis heute in unauslöschlicher Erinnerung. // Als die Sowjetunion sich ganz zu Beginn des Krieges bereit erklärt hatte, über das Rote Kreuz mit dem Deutschen Reich eine Vereinbarung über die Behandlung der Kriegsgefangenen zu schließen, da lehnte Hitler das brüsk ab - und er sorgte dafür, dass seine Ablehnung in Millionen von Flugblättern auch seinen Soldaten bekannt wurde. Denn er hatte ein Ziel, und es war eindeutig: Kein deutscher Soldat sollte glauben, dass er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft überhaupt überleben könnte. Alle sollten bis zum letzten Atemzug kämpfen und sich auf keinen Fall ergeben. Das Schicksal derjenigen seiner Soldaten, die dann doch gefangen wurden, war dem Obersten Befehlshaber vollkommen gleichgültig. // Nun schauen wir auf die andere Seite. Auf der anderen Seite dekretierte Stalin: Wenn ein sowjetischer Soldat gefangen werde, habe er nicht bis zuletzt gekämpft, konnte gleichsam also nur desertiert sein, also irgendwie ein Verrätersein. Deswegen erwarteten bei Kriegsende sehr viele in die Heimat entlassene sowjetische Kriegsgefangene erneute Lagerhaft, oft sogar der Tod. Wir können nur ahnen, wie viele Mütter, wie viele Ehefrauen, wie viele Bräute, wie viele Kinder noch nach Kriegsende vergeblich gewartet haben; und auch wie schwer es für sie war, damals dieser ihrer Toten zu gedenken. // Als Deutsche fragen wir uns aber zuerst nach deutscher Schuld und Verantwortung. Und für uns bleibt festzuhalten, dass der millionenfache Tod derer, die unter der Verantwortung der Deutschen Wehrmacht starben, "eines der größten deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs" gewesen ist. Viele wollten das nach dem Krieg noch sehr lange Zeit nicht wahrhaben. Aber spätestens heute wissen wir: Auch die Wehrmacht hat sich schwerer und schwerster Verbrechen schuldig gemacht. // Aus mancherlei Gründen ist dieses grauenhafte Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein gekommen - es liegt bis heute in einem Erinnerungsschatten. Das mag damit zu tun haben, dass die Deutschen in den ersten Jahren nach dem Krieg vor allem an ihre eigenen Gefallenen und Vermissten gedacht haben, auch an die Kriegsgefangenen, die zum Teil noch bis 1955 in der Sowjetunion festgehalten wurden. // Das mag sicher auch daran liegen, dass die Schreckensbilder von der Eroberung des deutschen Ostens durch die Rote Armee vielen Deutschen den Blick auf die eigene Schuld verstellten. Diejenigen, die wegschauen und sich nicht erinnern wollten, sahen sich dann zudem später durch die Besatzungs- und Expansionspolitik der Sowjetunion und durch die Errichtung einer kommunistischen Diktatur mit Rechtsferne, Unfreiheit und Unterdrückung in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands bestätigt. In der DDR wurde zwar die Erinnerung an das heldenhafte sowjetische Brudervolk groß geschrieben, aber der amtlich verordnete Heldenmythos ließ auf der anderen Seite wenig Raum für die Empathie mit denjenigen, die als Kriegsgefangene in Deutschland keine strahlenden Sieger waren, sondern Opfer, Entrechtete, Geschlagene. // In späteren Jahren haben in Westdeutschland und auch im wiedervereinigten Deutschland die Erinnerung an den Völkermord an den Juden und die beginnende Scham darüber die Auseinandersetzung mit anderen Verbrechen einfach überlagert. // Dabei sind doch die Verbrechen des Nationalsozialismus zutiefst miteinander verbunden. Sie haben alle dieselbe Wurzel: Sie stammen aus der Vorstellung, dass auch unter Menschen nur das Recht des Stärkeren gelte, und dass der Stärkere das Recht habe, über das Lebensrecht der Anderen zu entscheiden, über Wert, über Unwert ihres Lebens. So wurden die Juden, wie die Sinti und Roma ausgesondert, gedemütigt, ermordet, dann die Behinderten oder Homosexuellen. So wurden dann auch die Völker im Osten als "minderwertig" diffamiert, weswegen man mit ihnen ohne Rücksicht auf Humanität und Menschenrechte, auch ohne Rücksicht auf die Regeln des Völker- und Kriegsrechts verfahren dürfe. // Im Protokoll der Besichtigung eines Kriegsgefangenenlagers durch Propagandaminister Goebbels hält ein Regierungsbeamter fest: // "Der Zweck der Fahrt sollte sein, [ ] einmal die in den Wochenschauen gezeigten Untermenschen in Natur vorzuführen. [ ] // Die Fahrt brachte insofern nicht das gewünschte Ergebnis, als die Gefangenen fast durchweg Weißrussen waren und daher durchschnittlich ein durchaus menschliches Aussehen hatten. [ ] // Sie bekommen außerordentlich wenig Beköstigung und haben Tag und Nacht keinerlei Schutz vor dem Wetter. Meines Erachtens werden diese Gefangenen sowieso hinter ihrem Drahtzaun verrecken. [ ]" // Hybris, Allmachtswahn, Herrenmenschentum, Zynismus, das sind die Kennzeichen nationalsozialistischer Ideologie und eben auch nationalsozialistischer verbrecherischer Praxis. // Erschütternd ist immer noch, wenn wir sehen, in wie kurzer Zeit ganz normale Männer und Frauen, einmal mit dieser Ideologie vergiftet, zu Komplizen der Unterdrückungspraxis gemacht werden und manche sogar zu unbarmherzigen Menschenschindern und Mördern werden konnten. // Wir stehen hier und erinnern an dieses barbarische Unrecht und an die Verletzung aller zivilisatorischer Regeln. Wir erinnern daran im Namen der Humanität, im Namen der Gleichheit und der Würde, die unterschiedslos allem zukommt, was Menschenantlitz trägt. Im Namen der Menschenrechte, die uns verpflichten, die uns binden und leiten und für deren Geltung wir eintreten, stehen wir hier. // Wir sind an einer Stätte versammelt, an der auf den ersten Blick kaum etwas das Ausmaß dessen erkennen lässt, weswegen wir hier sind. Gedenksteine markieren Gräberreihen, die längst von Gras bewachsen sind. Es scheint so, als habe die vergangene Zeit fast jede sichtbare und fühlbare Erinnerung an das ausgelöscht, was hier einst Menschen Menschen angetan haben. // So wie wir hier in Schloß Holte-Stukenbrock unsere Erinnerung und unser historisches Gedächtnis anstrengen müssen, damit wir auf dieser Grasfläche einen Schreckensort für hunderttausende Menschen erkennen können, so geht es uns wohl überhaupt mit dem Eingedenken vergangenen Leids: Was spurlos verwehen sollte, das rufen wir in unser Gedächtnis. Wenigstens vor unserem inneren Auge soll in Umrissen noch einmal aufscheinen, was hier furchtbare Wirklichkeit war, was uns durch Fotos, Statistiken, Karteikarten, Erzählungen, Augenzeugenberichte unabweisbar und unwiderlegbar sagt: Das ist hier geschehen, mitten in Deutschland. Und es ist ja nicht irgendwie"geschehen". Es wurde "gemacht", es wurde "verübt", planmäßig und mit bösem Kalkül und ewig unfassbar. Von Menschen, mit denen wir Sprache, Herkunft und Nationalität teilen, von Menschen, deren Verbrechen heute Teil unserer Geschichte sind. // Wir müssen unseren Willen anstrengen, um die Wahrheit auszuhalten, um nicht immer unwillkürlich zu denken: Das kann doch unmöglich wahr sein - das, was hier im "Stalag 326" und an hunderten von anderen, über ganz Deutschland verteilten Orten menschenmöglich war -, und was hier aber doch tatsächlich stattgefunden hat. // Wir müssen aber nicht nur unseren Verstand anstrengen, nicht nur unser Vorstellungsvermögen aktivieren und unsere historischen Kenntnisse erweitern. Wir müssen - zuerst und zuletzt - auch unser Herz und unsere Seele öffnen für das, was wir kaum glauben wollen. Es geht um eine wirkliche Empathie, ein wirklich bewegendes, unser Inneres, unser Herz, unsere Seele bewegendes Gedenken. // Ich danke heute ganz ausdrücklich allen dafür, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten für ein solches immer neues Bewusstmachen und Einfühlen eingesetzt haben. Es waren ehrenamtlich Engagierte, die Spuren ausfindig gemacht und Erinnerung wachgehalten haben. // Damit diese Erinnerung nicht verwelkt, darum gab und gibt es die Initiative "Blumen für Stukenbrock", darum gibt es jetzt, dank unermüdlicher, überwiegend ehrenamtlicher Initiative die Dokumentationsstätte. Es gibt einen vorbildlich engagierten Förderverein, kundige Führungen und Ausstellungen. Angehörige von Opfern, die von weit her kommen und nach Spuren der Erinnerung an ihre Väter oder Großväter suchen, sie werden liebevoll betreut und begleitet. // Einer, der selber als Gefangener hier war, Leo Frankfurt, ist heute hier und wird gleich noch zu uns sprechen. Es bewegt mich sehr, dass Sie hier sind, Herr Frankfurt. Es ist so etwas wie ein gnädiges Geschenk an uns, es beschämt uns und es beglückt uns gleichzeitig. Danke! // Und es sind unter uns Mitglieder der Familie Basanov, deren Vater, Schwiegervater und Großonkel Basan Erdniev hier Lagerhäftling war und hier begraben ist. Wir haben eben kurz inne gehalten an der Stelle, an der Sie sich erinnern an Ihren Vater. Auch für Ihr Kommen, liebe Familie Basanov, bedanke ich mich und freue mich sehr, dass Sie mich an diesem Tag begleiten und unter uns sind. // Zu den Initiativen, die hier wertvolles Engagement beweisen, gehört auch die Geschichts-AG des Gymnasiums Schloß Holte-Stukenbrock. Es gibt das Anne-Frank-Projekt und das schulübergreifende Theaterprojekt. Alle diese jungen Menschen haben die Aufgabe übernommen, die Erinnerung weiter zu tragen. Das gilt auch für die Polizeischüler, die hier ausgebildet werden, und die sich sehr genau bewusst sind, was die Geschichte dieses Ortes bedeutet. Und gekommen sind heute auch junge Soldaten der Bundeswehr, für die historisches Bewusstsein selbstverständlich ist. // Es gab und gibt, dank der freiwilligen Initiativen hier und an anderen, ähnlichen Orten in unserem ganzen Land, diesen hartnäckigen, alltäglichen Widerstand gegen das Vergessen. Das ist gut so, das gehört zu unserer Kultur. So sind heute auch Vertreter der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste hier, auch Vertreter von Gegen Vergessen/Für Demokratie und vom Deutsch-Russischen Museum Karlshorst. Ihnen und den Vielen, die in unserem Land selbstlose Erinnerungs- und Gedenkarbeit leisten, danke ich heute und hier ganz ausdrücklich. Sie helfen bei einer Aufgabe, die sich auch siebzig Jahre nach Kriegsende noch stellt: auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Erinnerungsschatten heraus zu holen. // Nicht weit von hier stehen wir vor dem Gelände, das Tod und Verderben gebracht hat, auf dem die Schreie, das Seufzen und das Stöhnen der geschundenen Leiber und Seelen unsichtbar eingeschrieben bleiben. // Dies ist einer der Orte, an denen wir schmerzhaft und intensiv empfinden, dass die Toten für die Lebenden eine Verpflichtung sind. Sagen wir also heute, siebzig Jahre nach dem Ende des Krieges, "Ja"zu dieser Verpflichtung. Versprechen wir uns gegenseitig, dass wir, was an uns ist, tun, um ein menschenwürdiges und friedliches Leben für alle zu ermöglichen und zu beschützen.
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Joachim Gauck
Vor ziemlich genau zwei Monaten saß ich in einem Flüchtlingslager, in einem Zelt, es war in Kahramanmaras, an der türkisch-syrischen Grenze. Ich saß mit Vater, Mutter, Großvater zusammen, und die erzählten von dem Krieg, der sie vertrieben und zu Opfern von Terror gemacht hatte. Sie waren ängstlich, aber sie waren geborgen. Sie hatten vier Kinder. Das jüngste war dort im Lager geboren. Und jetzt warteten sie. // Ich frage mich manchmal, ob die Menschen, die ich dort getroffen habe, überlebt hätten, wenn sie über das Mittelmeer geflüchtet wären? Hätten die Kleinen es geschafft, wäre das Jüngste geboren worden, wer hätte überlebt, wären alle gestorben? // In Situationen wie diesen merkt jeder: Menschen zu begegnen, das ist etwas anderes, als nur Zahlen zu begegnen oder Statistiken. Man blickt in Gesichter - verstörte, verängstigte -, hört die dramatischen Geschichten, spürt die Hoffnung auf Hilfe aus der Ferne, aus der Fremde. Irgendwoher muss sie doch kommen. // Aber natürlich müssen sich Fachleute, die sich mit dem Thema Flüchtlinge befassen, auch über Statistiken beugen, müssen Zahlen kennen, sie verfolgen. Müssen erkennen, wie groß der Druck ist, der von diesem Teil der Weltbevölkerung ausgeht, die nicht beheimatet ist. Wenn wir Zahlen und Statistiken sehen, erkennen wir, was wir tun können, wo wir stehen. Also muss man auch ein paar Zahlen nennen. // Sie alle hier im Raum wissen: Bund und Länder haben beschlossen, weitere 10.000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Das empfinde ich als richtig, wichtig und wertvoll. 5.400 Syrer haben dank der ersten beiden Kontingente auf gefahrlosem Wege Schutz in Deutschland gefunden. // Aber der Bürgerkrieg dauert nun schon seit 2011. Die Toten, kann keiner mehr zählen, von mehr als 150.000 ist die Rede. Und auch wenn kein anderer europäischer Staat mit vergleichbaren humanitären Programmen auf den dramatischen Konflikt reagiert hat, auch wenn die, die in Deutschland aufgenommen werden, bessere Bedingungen vorfinden als in den meisten anderen Ländern der Welt: Der überwiegende Teil der rund 32.000 Syrer, die seit Beginn der Gewalt nach Deutschland kamen, hat sich auf anderen Wegen durchschlagen müssen, auch auf dem illegalen und lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer. // Millionen sitzen in der Krisenregion fest, als Flüchtlinge im eigenen Land oder in Lagern in der Türkei und in Jordanien. Was dort geleistet wird, haben Daniela Schadt und ich mit eigenen Augen gesehen. Im Libanon leben derzeit mehr als eine Million Flüchtlinge. Das ist, gerechnet auf die Bevölkerung, als wären unter uns in Deutschland 20 Millionen Flüchtlinge anwesend. // "Tun wir wirklich alles, was wir tun könnten?" Das habe ich immer wieder gefragt, auch in der Weihnachtsansprache habe ich das getan. Sie, liebe Gastgeber, zitieren es in der Ankündigung zu diesem Symposium. Zahlen und Statistiken geben auch hier einen Eindruck. // In den ersten fünf Monaten dieses Jahres wurden in Deutschland insgesamt 54.956 Erstanträge auf Asyl gestellt - mehr als doppelt so viele wie im selben Zeitraum im vergangenen Jahr. In absoluten Zahlen kommen in kein anderes Land Europas mehr Asylbewerber. Gemessen an der Bevölkerungszahl aber liegt Deutschland in Europa längst nicht an der Spitze, sondern auf Platz 9, deutlich hinter Schweden, auch hinter Österreich, hinter Ungarn und Belgien. // Blicken wir nur auf uns selbst, dann neigen wir nicht selten zur Selbstgerechtigkeit. Ziehen wir aber auch in Betracht, wie viele andere dieselben oder ähnliche Probleme lösen, dann werden wir wohl zwangsläufig demütiger. // Wer macht sich bewusst, dass sogenannte Binnenflüchtlinge den absolut größten Teil der Flüchtlinge in der Welt ausmachen? Wer weiß schon, dass insgesamt nur ein kleiner Teil der weltweit mehr als 51 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen Schutz in Europa sucht - und ein noch kleinerer tatsächlich findet? Dass meistens die ärmsten Länder für die Armen aus ihrer Nachbarschaft aufkommen? Setzt man die Zahl der Flüchtlinge ins Verhältnis zur Wirtschaftskraft der Länder, so sind nach der aktuellen Statistik des UNHCR die drei größten Aufnahmeländer Pakistan, Äthiopien und Kenia. // "Tun wir alles, was wir tun könnten?" Eine Antwort liegt - nach den genannten Zahlen - nahe: Wir, das heißt Deutschland und auch Europa, tun viel. Aber nicht so viel, wie es selbst manchmal scheint. // Nun hat sich Politik leider nie allein am humanitär Gebotenen zu messen, sondern immer auch am politisch Machbaren. // Das ist ein Satz, der mir schwer über die Lippen geht. Ich möchte es eigentlich anders. Aber wir leben in einem Land, in dem wir es mit Menschen zu tun haben, die ihrerseits mit vielen Begrenzungen leben müssen. Und deshalb richtet Politik ihr Augenmerk eben immer auch auf das Machbare. In diesem Satz steckt so etwas wie eine doppelte Abgrenzung: Abgrenzung gegenüber denen, die wünschen, wir sollten unsere Tore weit aufmachen für alle Mühseligen und Beladenen. Aber auch gegenüber denen, die meinen, die Grenze des Machbaren sei doch längst erreicht und wir müssten uns noch viel besser abschotten als wir es bisher getan haben. // Flüchtlingspolitik wird immer eine schwierige Politik bleiben. Und ich sehe nirgendwo eine Patentlösung. Wir werden nie allen Bedrohten und Verfolgten Zuflucht und Zukunft bieten können. // Der Asylkompromiss von 1993 hat den dramatisch gestiegenen Antragszahlen damals nach dem Ende der Teilung Europas Rechnung getragen, allerdings auf eine bis heute umstrittene Weise. Und ich will nicht verhehlen, in mir klingt eine Feststellung von Burkhard Hirsch aus dem Jahr 2002 nach, die ich als Warnung empfinde: "Die Geschichte des Asylrechts ist auch eine Geschichte der Abwehr von Zuwanderung." // Vielleicht ist es diese Befürchtung, die mich vor einiger Zeit veranlasst hat zu sagen: Wir könnten mehr tun. Wir könnten manches besser tun. Wir müssten es tun in Achtung der Rechte, zu denen wir uns doch verpflichtet haben. Vor allem sollten wir es gemeinsam tun, als Europäer. // Viele Ältere von uns haben selbst noch erlebt, wie Europa ein Kontinent der Flüchtlinge und Vertriebenen war. Dieser Kontinent hat durch eine Geschichte von Gewalt und Kriegen zu den Werten gefunden, auf die wir heute unsere Gemeinschaft in Europa gründen: Menschenrechte und Demokratie, Solidarität und Offenheit - nicht Ängstlichkeit und Abwehr. // In der Flüchtlingspolitik stellt uns das vor ein Dilemma: Einerseits hat die Europäische Union ein legitimes Interesse daran, ihre Außengrenzen zu überwachen und sich vor unkontrollierter Zuwanderung zu schützen. Andererseits muss sie sich fragen lassen, inwieweit sie dadurch die Rechte oder sogar das Leben derer gefährdet, die aus begründeter Furcht vor Verfolgung Schutz suchen. // Das Jahr ist nun gerade zur Hälfte herum - und schon jetzt sind mehr als 50.000 Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeerraum angekommen, mehr als im gesamten vergangenen Jahr. Darin spiegelt sich auch der bewaffnete Konflikt in Syrien, der zu den anderen, weiter bestehenden Krisenregionen hinzugekommen ist. Ein neuer Konflikt im Irak existiert, wir alle wissen es. // Die wachsende Zahl der Bootsflüchtlinge ist aber auch eine Reaktion auf die zunehmende Abschottung der südöstlichen Landgrenzen der Europäischen Union. Mehr und mehr Fluchtwillige suchen also den Weg, der lebensgefährlich ist, über das Mittelmeer. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten sind vermutlich rund 23.000 Menschen beim Fluchtversuch übers Meer umgekommen. Sie sind verdurstet, ertrunken oder gelten als vermisst. // Und kaum ein Tag vergeht, ohne dass von neuen Flüchtlingen die Rede ist. Auch der heutige nicht. Wie die meisten von Ihnen wahrscheinlich wissen, ist heute Morgen eine Nachricht herumgegangen, die uns erschüttert hat: Wieder ist ein Boot mit 30 Toten vor der Küste Siziliens entdeckt worden. // Ich kann mich an solche Nachrichten nicht gewöhnen. Niemand in Europa sollte sich daran gewöhnen. Wir sind doch stolz darauf, dass zwei Dutzend Staaten - darunter solche, die über Jahrhunderte hinweg miteinander im Krieg lagen - ihre Grenzkontrollen untereinander abgeschafft und einen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" geschaffen haben. Der europäische Gipfel von Tampere, auf dem 1999 über ein gemeinsames Asylsystem verhandelt wurde, war sich übrigens einig: "Es stünde im Widerspruch zu den Traditionen Europas, wenn diese Freiheit den Menschen verweigert würde, die wegen ihrer Lebensumstände aus berechtigten Gründen in unser Gebiet einreisen wollen." So heißt es dort. // Und nun die Bilder der Särge im Hangar des Flughafens von Lampedusa, die Bilder der kletternden Menschen am Stacheldrahtzaun der Exklaven Ceuta oder Melilla - sie passen doch nicht zu dem Bild, das wir Europäer von uns selber haben. // Was können, was müssen wir also tun? // Die Bundesrepublik hat bei ihrer Gründung einen fundamentalen Satz in ihre Verfassung geschrieben: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" - ein damals noch ganz nahes und ganz uneingeschränktes Echo auf die Leidensgeschichten ungezählter Deutscher, die vor der nationalsozialistischen Diktatur fliehen mussten. Wir sollten uns an Hannah Arendt erinnern, die nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts von Staaten- und Schutzlosigkeit von Menschen das Recht, Rechte zu haben, einforderte. // Sowohl unsere Verfassung als auch die Genfer Flüchtlingskonvention halten uns dazu an, Menschen Zuflucht zu gewähren, die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werden. Mögen sich die Gründe für die Flucht in den vergangenen Jahrzehnten auch verändert haben, so bleiben die Kernpunkte der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 bis heute gültig. // Für mich gilt daher: Eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik hat sicherzustellen, dass jeder Flüchtling von seinen Rechten auch Gebrauch machen kann - nicht zurückgewiesen zu werden ohne Anhörung der Fluchtgründe, gegebenenfalls auch Schutz vor Verfolgung zu erhalten. Auch die Hohe See ist kein rechtsfreier Raum, auch dort gelten die Menschenrechte. Dabei beziehe ich mich nicht zuletzt auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. // Eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik hat also nicht nur die europäischen Grenzen zu schützen, sondern auch Menschenleben an den Grenzen Europas. Solange Asylsuchende nur in Deklarationen, nicht aber in der Realität in allen Mitgliedsländern die gleichen Bedingungen von Schutz und Hilfe erleben, werden sich alle europäischen Regierungen fragen lassen müssen, was sie tun, um die Aufnahme-, Verfahrens- und Anerkennungsstandards auch tatsächlich in allen Ländern anzugleichen. // Und schließlich haben wir unter Europäern die entstehenden Lasten der Solidarität gerechter, transparenter und solidarischer zu teilen. Ich höre mit Interesse, dass Sie hier beim Symposium auch darüber debattieren werden, wie Lösungen aussehen könnten, die etwa Druck von den Grenzländern nehmen könnten und auch darüber, wie wir als Deutsche Teil einer fairen Lastenteilung sein können. // Eines sollten wir nicht tun: einander vorrechnen, was erst der andere tun muss, bevor wir uns selbst bewegen. Denn die Flüchtlinge, die an Italiens oder Maltas Küsten landen, sind nicht allein die Flüchtlinge Maltas oder Italiens. Es sind nicht allein die Flüchtlinge von Lampedusa. Es sind Flüchtlinge, die in unserem Europa Schutz suchen. Sie haben Rechte, die zu achten wir uns als Europäer gemeinsam verpflichtet haben. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung als Europäer, sie menschenwürdig zu behandeln. // Unser Land hat angefangen - etwa mit den Kontingenten für syrische Flüchtlinge -, auch auf die neuen Herausforderungen zu reagieren, als Teil unserer Verantwortung in der Welt. Die Bürgerkriegsflüchtlinge brauchen vor allem vorübergehenden Schutz, den wir ihnen mit humanitären Aufnahmeprogrammen bieten können. Die meisten von ihnen wollen doch zurück, wenn es nur irgend geht. // Jene Flüchtlinge aber, die nicht zurückkehren können, weil sie sonst verfolgt oder gar getötet würden, oder weil die Gewalt in ihrem Heimatland einfach nicht beendet ist, sie brauchen eine dauerhafte Lebensperspektive im Exil. Gut, dass Deutschland seit zwei Jahren in einem Resettlement-Programm besonders Schutzbedürftige aufnimmt. Wer mit Menschen spricht, die - oft nach quälenden Jahren der Ungewissheit - endlich ankommen können, der weiß, wie sehr man sich wünschen muss, noch mehr von ihnen würden diese Chance erhalten. Es ist gut, dass die Große Koalition bereit ist, das Resettlement-Programm auszubauen. Die Zahlen sprechen für sich: gesucht werden aktuell Plätze für 170.000 Flüchtlinge. Deutschland nimmt derzeit 300 pro Jahr auf, die gesamte EU ungefähr 5.000, dieUSA alleine hingegen mehr als 50.000. // Insgesamt geht es meines Erachtens darum, die Verfahren für die Flüchtlinge gerechter und effektiver zu gestalten. Schnellere Prüfungen, wie sie im Koalitionsvertrag verabredet wurden, bringen, wenn sie fair bleiben, allen Seiten schneller Klarheit. Zu einer effektiveren Flüchtlingspolitik gehört aber auch, dass wir diejenigen auf humane Weise zurückweisen, die nach den gültigen Kriterien keine Fluchtgründe haben, die zur Aufnahme, jedenfalls bei uns in der Bundesrepublik, berechtigen würden. Ich wünsche mir eine Solidarität, die wir auch leben können. // Es ist gut, dass sich in Bereichen, die lange umstritten waren, inzwischen etwas bewegt: bei der Lockerung der Residenzpflicht etwa oder beim Arbeitsverbot für Asylbewerber. Ich habe vor etlicher Zeit das Übergangswohnheim in Bad Belzig besucht. Und dort habe ich gesehen, dass viele, die dort untätig bleiben müssen, darunter leiden, sich nicht selbst ein besseres Leben erarbeiten zu können. Sie müssen einfach sitzen und warten. Das legt sich schwer auf ihr Gemüt. Die allermeisten von ihnen wollen doch keine Almosenempfänger sein. Gut also, wenn die Zeit des Arbeitsverbots gekürzt wird. Schwierig, wenn die bleibenden Beschränkungen weiterhin die Chance auf einen Arbeitsplatz erschweren. // Grundsätzlich sollten wir überlegen, wie mehr Durchlässigkeit zwischen den Zugangswegen "Asyl" und "Arbeitsmigration" geschaffen werden kann. Denn wer einmal vergeblich um Asyl gebeten hat, wird kaum noch durch ein anderes Tor Einlass finden, auch wenn er oder sie Qualifikationen hat, die hierzulande durchaus gebraucht werden. Viele der Flüchtlinge, die es bis nach Deutschland geschafft haben, sind hochmobil, flexibel, mehrsprachig, leistungs- und risikobereit. // Wir wissen: Die Grenzen sind oft fließend zwischen politisch erzwungener, wirtschaftlich erzwungener oder tatsächlich freiwilliger Migration. Zwar können und wollen wir die Unterscheidung nicht aufgeben, wer schutzbedürftig ist und wer nicht. Das Recht auf Asyl ist nicht verhandelbar. Wohl aber sollten wir - im nationalen wie im europäischen Rahmen - versuchen, unterschiedliche Zuzugsmöglichkeiten vom Studium bis zum Familiennachzug zu gewährleisten. // Erlauben Sie mir eine kleine Abschweifung: Wir sind hier in der Französischen Friedrichstadtkirche, an einem Ort, der - wie auch viele Familiennamen in unserem Land - an eine der berühmtesten Flüchtlingsgruppen der Vergangenheit erinnert: an die Hugenotten. Unser Bundesminister des Inneren hat also einen - ich gebe zu: sehr weit zurückreichenden - Migrationshintergrund. Als seine Vorfahren in diese Gegend kamen, hatten sie eine lange Geschichte von Verfolgung, Bürgerkrieg und Duldungen hinter sich. Damals gab man den Neuankömmlingen die Möglichkeit, sich durch eigene Arbeit einen Platz in der neuen Heimat zu erarbeiten - durchaus zum Vorteil des Aufnahmelandes. Auch daran sollten wir denken in einer Gesellschaft, in der viel über den demografischen Wandel, Bevölkerungsrückgang und drohenden Fachkräftemangel diskutiert wird. // Migration, das haben Studien längst erwiesen, kann ein starker Entwicklungsmotor sein, übrigens auch für die Herkunftsländer. Oder, wie es der berühmte Ökonom John Kenneth Galbraith formulierte: "Migration ist die älteste Maßnahme gegen Armut". Darauf sollten wir bauen, im besten Fall zum allseitigen Nutzen: mit Programmen, die so gestaltet sind, dass sie sowohl den Migranten selbst helfen als auch den Gesellschaften, von denen sie aufgenommen werden - und auf längere Sicht auch den Gemeinschaften und Gesellschaften, die sie verlassen haben. Wir wissen inzwischen zum Beispiel, dass Migranten dreimal so viel Erspartes in ihre Herkunftsländer überweisen wie öffentliche Entwicklungsgelder fließen. Schwerer zu berechnen, aber nicht minder wichtig sind die Kenntnisse und nicht zuletzt die Werte, die sie in ihre Heimat bringen, wenn sie zurückkehren. // "Tun wir wirklich schon alles, was wir tun sollten?" Die Antwort auf diese Frage hängt nicht allein von finanziellen Ressourcen ab oder von politischen Programmen, sondern mindestens ebenso von der Art und Weise, wie ehrlich, pragmatisch und nüchtern die Politik und die Gesellschaft die Herausforderungen der Flüchtlingspolitik diskutiert. Dabei würde deutlich, dass die Zahlen und Proportionen, die ich eingangs nannte, keineswegs so erschreckend sind, dass unsere Hilfsbereitschaft schon überfordert wäre. Solidarität ist zuerst und vor allem eine Grundlage unseres menschlichen Miteinanders und im Übrigen ist sie Kennzeichen unserer Demokratie. // Diejenigen, die kommen, sind Menschen, die oft Schlimmes erlebt und Unterstützung nötig haben. Ich bin den zivilgesellschaftlichen Organisationen dankbar, auch den Kirchen, den Wohlfahrtsverbänden, den Anwälten, all den Ehrenamtlichen, die sich seit vielen Jahren für humane Verbesserungen in der Asylpolitik einsetzen und sich immer wieder gegen diejenigen wenden, die gegen Zuwanderer hetzen oder gar Brandsätze auf Asylbewerberheime werfen. Bewundernswert ist auch das Engagement vieler Kommunen, der Bürgerinnen und Bürger für die ganz konkreten Bedürfnisse von Flüchtlingen. Viele Gemeinden begreifen diese nicht länger als lästige Gäste auf Zeit, sondern als Menschen, denen - egal, wie lange sie bleiben wollen - Brücken in unsere Gesellschaft gebaut werden müssen, weil das auch im Sinne unserer Gesellschaft ist. Es gibt ungezählte Initiativen, die auf die unterschiedlichste Weise Begegnungen fördern und damit auch das Verständnis für die Situation von Asylsuchenden. // Das macht Mut. Wir wollen doch offen sein und offen bleiben für den Wunsch von Menschen, frei zu sein so wie wir das wollen: frei zu sein von Verfolgung, von Gewalt, von Tod. Wir wollen doch dieser ihrer Sehnsucht folgen und wir können dennoch in unserer Politik geerdet bleiben. Mit Verständnis für die Gründe, die Menschen haben, ihre Heimat zu verlassen. Mit Rücksicht, auch auf die Grenzen der Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft. Aber vor allem mit Weitsicht bezüglich der Chancen von Zuwanderung. Wir müssen es sehen wollen. Und wir sehen all dies im Bewusstsein unserer gemeinsamen Verantwortung als Europäer. // Wir wissen: Es wird nie möglich sein, genug zu tun. Aber wenn wir das uns Mögliche nicht tun, versagen wir nicht nur vor unserem Nächsten, sondern wir verlieren auch die Neigung zu uns selbst, unsere Selbstachtung.
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Joachim Gauck
Wie sollte man eine Rede an der Universität, die Johann Wolfgang von Goethe im Namen führt, anders beginnen, als mit dem wohl berühmtesten Seufzer der deutschen Literaturgeschichte: "Habe nun ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert mit heißem Bemüh'n." // Zugegeben, ein ziemlich überraschungsfreier Start in diese Rede. Und wahrscheinlich hätte ich mir das "ach!" verkniffen, wenn nicht vor kurzem in einem Blog der Brief einer Hochschulabsolventin an ihre Universität zu lesen gewesen wäre, der den Monolog des Faust mehr als 200 Jahre später gewissermaßen in unsere Gegenwart übersetzt: // Ich zitiere: "Liebe Uni, ich habe Dich mir anders vorgestellt, jahrelang hatte ich von dir geträumt. Von Diskussionen, von Austausch, von dem Gefühl der Freiheit . Ich hatte mir vorgestellt, wie wir an der Universität wilde Debatten führen. Keynes! Marx! Weber! Liebe Uni, ich dachte Du wärst ein Ort zum Streiten [ ] Diese Leidenschaftslosigkeit war unerträglich " // Nun, es gab natürlich eine Menge leidenschaftlicher Antworten auf diesen vehementen Klagebrief, dem eigentlich nur noch die Faustische Beschwerde fehlte: "Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor". Viele stimmten der Autorin zu, viele widersprachen aber auch und berichteten von guten Erfahrungen mit ihrer Universität, ihrem Studium und ihren Professoren. // Ich hatte an dieser Stelle das Gefühl, wonach sehnt sich wohl diese Schreiberin? - hoffentlich nicht etwa nach den wilden Zeiten von 1970, als eine der merkwürdigen Seiten dieser Universität geschrieben wurde. Auf Vorschlag von Jürgen Habermas sollte der Adorno-Lehrstuhl neu besetzt werden, und man kam auf einen der wohl bedeutendsten Marxismus-Forscher der Zeit, auf Leszek Kolakowski. Aber Kolakowski war gerade von seiner kommunistischen Führung in Polen gemaßregelt worden. Nun passierte das Merkwürdige: An dieser schönen freien Universität gab es linke, linksextreme und marxistische Mehrheiten, die ihn wegen fehlender marxistischer Linientreue abwiesen. Der arme Mann musste dann in die akademische Wüste nach Oxford. Soviel zum Zeitgeist. // Die Universität und ihr Zustand, sie lassen die Gemüter nicht kalt. Und das ist gut so. Denn wenn es um die Bildung kommender Generationen geht, steht immer die Zukunft einer ganzen Gesellschaft auf dem Spiel. Deshalb sollen Universitäten blühen und gedeihen, und zwar zuallererst im Interesse der Studierenden. Hier in Frankfurt sind es 46.000, die durch bestmögliche universitäre Bildung entscheidende Chancen für einen gelingenden Lebensweg erhalten, die aber auch als gut gebildete und gut ausgebildete Absolventen Leistungen erbringen sollen, die dann für die ganze Gesellschaft wertvoll sind. Umgekehrt gilt übrigens das Gleiche: Wenn es um die Zukunft der Universität geht, steht immer auch die Frage zur Debatte, was eine Gesellschaft von ihren Hochschulen erwartet und was sie deshalb bereit ist, für ihre Hochschulen zu tun. Aber dazu kommen wir später. Nur Gutes! // Die Frankfurter Universität, zu deren 100. Geburtstag ich heute von ganzem Herzen gratuliere, sie scheint mir ein gutes Beispiel zu sein, um dieses Wechselspiel zwischen einer Gesellschaft und ihren Hochschulen ein wenig näher zu beleuchten. Diese Universität ist nämlich aus verschiedenen Gründen herausragend: einer davon ist, das wissen wir fast alle oder alle hier im Raum, ihre Entstehungsgeschichte, die sich von anderen Universitäten nun doch deutlich unterscheidet. Zur Gründung der älteren Universitäten in Deutschland führte meist der Wille eines Landesherrn, den Ruhm seines Fürstentums und manchmal auch seinen eigenen zu mehren und die Wirtschaftskraft des Territoriums zu stärken - letzteres durchaus ehrenwerte Motive. // Zur Gründung der Universität Frankfurt vor 100 Jahren aber führte nicht Fürsten-, sondern Bürgerwille. Frankfurts Bürger, zumindest hinreichend viele, waren der Überzeugung, dass höhere Bildung das Beste ist, was einem Menschen überhaupt passieren kann. Als"Bildungsbürger" ein rundum positiver Begriff war, "Bürger" im vollsten und eigentlichen Sinne nur der gebildete Bürger war, da begriff man in Frankfurt, dass die Gründung einer Universität so etwas wie eine selbstverständliche Bürgerpflicht war. Mit Recht sind deshalb die Frankfurter Universität und mit ihr die Stadt Frankfurt stolz darauf, dass diese Hochschule eine Bürgeruniversität ist. // Eine Bürgeruniversität lebt vom Engagement. Das war und ist hier in Frankfurt in reichem Maße zu finden, weil man weiß, was eine Universität, eine sehr gute und sehr gut ausgestattete Universität einer Stadt und einer Gesellschaft geben kann, in geistiger wie auch in materieller Hinsicht. Zum einen hilft Bildung, die Welt zu verstehen und zu deuten, und damit auch, in der Gemeinschaft freier Bürger miteinander zu leben. Zum anderen aber bietet sie auch schlicht handfeste Vorteile. // Machen wir uns nichts vor: Wissenschaftliche Bildung wurde schon vor 100 Jahren auch als ein Wirtschaftsfaktor verstanden. Und das war auch richtig so, das müssen wir nicht bekritteln. Darüber hinaus war aber auch die Vorstellung lebendig, dass Bildung durch Wissenschaft der Schlüssel zur Entfaltung der Persönlichkeit sei, zum selbständigen Denken, zum Gebrauch des eigenen Verstandes und damit zur Emanzipation, zur Befreiung von alten Autoritäten und von den Zwängen der Natur. // Bildung und Emanzipation, oder anders ausgedrückt, vielleicht umfassender: Bildung und Freiheit gehörten und gehören zusammen. Deshalb finde ich es schön, dass wir heute dieses Gründungsjubiläum hier an dieser Stätte, hier in der Paulskirche feiern, einem der vornehmsten Orte der deutschen Demokratie- und Freiheitsbewegung. // Die Geschichte der Universitäten, die Geschichte auch der Frankfurter Universität, ist ein Teil der europäischen Freiheitsgeschichte und ein Teil der europäischen Wahrheitsgeschichte. // Wahrheit und Freiheit sind Geschwister. So wie Forschung und Lehre Freiheit brauchen, um sich zu entfalten und ungehindert nach Wahrheit zu suchen und zu streben, so ist die politische Freiheit darauf angewiesen, dass die Wahrheit zugelassen, dass um sie gerungen und dass sie unzensiert öffentlich gemacht werden kann. Dass die Wahrheit frei macht, das gilt auch für die Bildung, die uns - gemäß dem berühmten Wort von Immanuel Kant - dazu frei macht, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen, ohne die Anleitung eines anderen. // So sind, seit ihrer Erfindung im Mittelalter, Universitäten urbane Orte der Emanzipation. Einer der ersten, die man als Professor fast im modernen Sinne ansprechen kann, ist der Theologe und Philosoph Petrus Abälard. Er entwickelte am Anfang des 12. Jahrhunderts an der jungen Pariser Universität eine wissenschaftliche Methode, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat. // "Sic et non" heißt seine bedeutendste Schrift. Darin wird die Methode der kritischen, wissenschaftlichen Befragung aller Autoritäten erstmals systematisch begründet und durchgeführt. Abälard listet in 158 Abschnitten Widersprüche in den Texten der Kirchenväter auf, die zuvor einfach unhinterfragte und unhinterfragbare Autoritäten waren. Und er zeigt, dass alleine die vernunftgeleitete Interpretation zur Wahrheit führt. Zitat: "Indem wir nämlich zweifeln, gelangen wir zur Untersuchung und durch diese erfassen wir die Wahrheit." // Freiheit von Vorurteilen, kritische Befragung aller Autoritäten, genaue Analyse und Interpretation der Quellen, Vernunft als oberste Instanz: Das ist sozusagen die erste "kritische Theorie" des Abendlandes, und sie bleibt wesensbestimmend für jegliche wissenschaftliche Arbeit, überall bis heute. Dass sie keineswegs leicht durchzusetzen war, zeigt nicht nur, aber auch die Geschichte Abälards, die von Kämpfen, Verurteilungen, Verbannungen geprägt ist. So wird es immer sein: Emanzipation und die Befreiung von Autoritäten, sie werden nie als Geschenk verteilt. Sie müssen immer erkämpft werden. // Die Kontinuität akademischen Denkens, wie es unsere Hochschulen geprägt hat, ist vor allem eine Kontinuität des kritischen Bewusstseins. Was in Paris mit "Sic et non" beginnt, das führt über die großen "Kritiken" des Königsbergers bis zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. // Wir wissen allerdings auch und wir dürfen das auch heute an einem solchen Festtag nicht verschweigen, dass die Universität nicht automatisch und nicht immer die aufgeklärte Stimme der Vernunft gewesen ist. Nicht immer hat der Geist die wichtigste Rolle gespielt und nicht immer die interesselose Suche nach der Wahrheit. Auch der Ungeist, ja, die bewusste Lüge, Rassismus, Antisemitismus sind in Universitäten in Deutschland zu Hause gewesen. Intellektualität, wir wissen es leider, ist noch kein wirksamer Schutz gegen Barbarei. Das ist eine der bitteren Lehren aus den Erfahrungen des Dritten Reiches. Auch die Frankfurter Universität hat sich in diesen finsteren Jahren sehr schnell und sehr gründlich von ihren jüdischen Lehrenden und Lernenden getrennt. "Säuberung" nannte man das damals. Dabei verdankte sie doch ihre Gründung zu einem guten Teil dem jüdischen Bürgertum dieser Stadt. Und ein großer Teil des akademischen Glanzes speiste sich aus den Leistungen der Juden, die hier lehrten. // Aus allen deutschen Städten übrigens verschwanden mit den Juden doch Säulen der Gesellschaft: Philanthropie, kultureller Glanz, wissenschaftliche Exzellenz, auch ein aufgeklärter Patriotismus, Verluste ohne Gleichen. Und dazu die Gejagten und all die getöteten Menschen. Im Bewusstsein dieser Verluste und des verzögernden Erkennens und des Benennens der Schuld, die zu diesen Verlusten führte, hatte nun die Gesellschaft eine große Aufgabe nach dem Krieg. Und hier in Frankfurt hat die Frankfurter Universität nach dem Dritten Reich und nach dem Krieg versucht, an ihre glanzvollen Zeiten anzuknüpfen. Ich stelle mir das äußerst schwierig vor, in diesen Zeiten, in denen äußere und innere Zerstörung das Land prägte. Aber es gelang. Einige Gelehrte sind sogar aus dem Exil zurückgekehrt, um beim geistigen Aufbau eines besseren Deutschlands von Frankfurt aus mitzuhelfen. Jeder kennt noch die Namen von Adorno und Horkheimer, die die Kritische Theorie der Frankfurter Schule entwickelten, die fast zur Überschrift für eine geistige Grundhaltung, ja, für eine wichtige Phase in der Geschichte der jungen Bundesrepublik wurde. All das war eng mit Frankfurt verbunden. // Die Geschichte der Frankfurter Bürgeruniversität ist eine Erfolgsgeschichte. Aber auf Erfolgen kann man sich nicht ausruhen. Jede Zeit stellt die Universitäten vor neue Herausforderungen, aber auch vor neue Chancen. // Die ungeheure Steigerung der Studierendenzahlen seit den 1960er Jahren, damit auch die steigende Zahl von Dozenten und Professoren, all das hat einen anderen Typ von Universität geschaffen, als man sie noch bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts kannte. // Das ist ein beispielloser bildungspolitischer Sprung: Wo früher eine akademische Laufbahn nur einer schmalen Elite eines Jahrgangs vergönnt war, sind es heute mehr als ein Drittel. Der Anteil der jungen Menschen eines Jahrgangs, die ein Studium aufnehmen, stieg seit Anfang der 1950er Jahre von etwa fünf auf etwa fünfzig Prozent. Ich weiß um die damit verbundenen Probleme, die gelegentlich auch zu besprechen sind. Das will ich aber an dieser Stelle nicht tun. Diese Steigerung hat den Charakter der Hochschulen grundlegend verändert, und sie musste natürlich auch gestaltet und sie musste finanziert werden. Um die Frage der Hochschulfinanzierung wird bis heute gerungen. Viele Dozenten und Professoren klagen, dass sie sich angesichts der Fülle der Aufgaben vom Kern ihrer Profession, von Forschung und Lehre, entfernen, ja, manchmal entfernen müssen. Es galt und gilt also, eine neue Balance zu finden zwischen Forschung und Lehre, zwischen Spitze und Breite. // Eine Herausforderung, die die Gründer der Frankfurter Universität vor 100 Jahren ebenfalls noch nicht in dieser Deutlichkeit vor Augen hatten, war der Beitrag, den Bildung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und zum sozialen Aufstieg jeder und jedes Einzelnen leisten kann und soll. Jetzt fällt mein Blick auf unsere Gesellschaft, wie sie sich heute darstellt. Wir leben heute in einer Einwanderungsgesellschaft. Mehr als ein Drittel der in Deutschland lebenden unter Fünfjährigen verfügt über einen Migrationshintergrund. Das gesamte Bildungssystem muss - sollte ich sagen: müsste - sich dieser Aufgabe stellen. Es gibt inzwischen viele Initiativen, die diese Herausforderung angenommen haben. Gleich zu Beginn meiner Amtszeit stand ich hier an derselben Stelle, um die Teilnehmer der Start-Stipendien-Initiative zu begrüßen und zu beglückwünschen. Eine große deutsche Stiftung hat der Tatsache Rechnung getragen, dass wir eine besondere Förderung dieser Gruppe von Auszubildenden brauchen, die - mit einem Migrationshintergrund ausgestattet - nicht dieselben Startmöglichkeiten haben wie Kinder aus dem deutschen Bildungsbürgertum. Wir müssen verstehen, dieser Realität von Einwanderung gerecht zu werden, sie als praktische Aufgabe zu sehen. Und ich bin dankbar für die Initiativen und die Personen, die sich hier auf diesem Feld engagieren, Hilfe in der Sprachförderung oder durch kulturelle Beiträge. Im Sport haben wir inzwischen gelernt, dass jedes Talent Förderung verdient und dass diese Förderung alle bereichert. Die gleiche Einsicht wünsche ich mir auch in der Bildung und in der Wissenschaft: von der Kita über die Schule bis zur Universität. An jeder dieser Stationen können wir noch viel mehr tun, um allen jungen Menschen in diesem Land ein gelingendes Leben zu ermöglichen. // Nach meinem Verständnis kann und muss die Universität eine aktive Rolle bei der Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft spielen, vielleicht sogar eine aktivere Rolle als gegenwärtig schon üblich. Ausländische Studierende und junge Menschen mit Migrationsgeschichte brauchen Hilfe. In manchen Fällen ist finanzielle Unterstützung notwendig, etwa durch spezielle Stipendienprogramme. Am wichtigsten aber sind Vorbilder und Ermutigung, und zwar schon lange vor der Immatrikulation. Es darf nicht sein, dass die Herkunft eines Menschen - sei es die soziale oder die ethnisch-kulturelle - darüber entscheidet, welche Zukunft dieser Mensch hat! Der Schlüssel, um solche Herkunftsbarrieren zu überwinden, der heißt Bildung. Die Geschichte von Bildung als Emanzipation, sie geht also weiter. Und sie muss weitergehen. // Ist die alte "Bürgeruniversität" auch diesen neuen Herausforderungen gewachsen? Hier in Frankfurt haben Sie eine klare Antwort auf diese Frage gefunden. Sie haben das Prinzip der Bürgeruniversität neu für sich entdeckt, Sie haben sich ganz bewusst zu Ihren Wurzeln bekannt. Denn seit 2008 ist die Goethe-Universität wieder Stiftungsuniversität. Das Modell soll dazu dienen, Hochschulen und Bürgergesellschaft stärker zu verbinden. Es eröffnet großherzigen und weitblickenden Stiftern und Förderern die Möglichkeit, Verantwortung für die Universität zu übernehmen. Der Umbau zur Stiftungshochschule stärkt die Eigenverantwortung der Institution. Die Stiftungshochschule kann zugleich ein Wir-Gefühl und eine Identität entwickeln, die Lehrende und Lernende verbindet und eine starke Verbindung zum gesellschaftlichen Umfeld herstellt. // Es zeigt sich immer wieder: Bildung und wissenschaftliche Spitzenleistung brauchen so eine förderliche Umgebung. In Frankfurt gibt es dieses bildungsfreundliche Umfeld. Kooperation und Austausch sind damit wesentliche Erfolgsfaktoren dieser Universität, die sich nie als Elfenbeinturm, sondern immer als bürgerschaftliches Forum begriffen hat. Auch dazu kann man heute wahrlich gratulieren. // Eines will ich aber an dieser Stelle auch deutlich sagen: Das Lob der Förderer und der Stifter und der Ruf nach weiterem bürgerschaftlichen Engagement für gute Bildung darf keineswegs dazu führen, dass der Staat sich aus seiner Verantwortung im Bildungswesen zurückzieht. Stifter sind keine Ausfallbürgen in Zeiten knapper Kassen - sie schaffen einen Mehrwert. // Es ist darüber hinaus richtig und wichtig, an neue Mittel und Wege zu denken, um Kräfte zu bündeln. So überlegen richtigerweise Bund und Länder seit der vergangenen Legislaturperiode, wie sie den Bildungsföderalismus fortentwickeln können, um den gestiegenen Anforderungen Rechnung zu tragen. Das wird am Ende allen nutzen: den Studierenden, die attraktive Studienbedingungen vorfinden, den Hochschulen, die ihre Stärken weiter ausbauen können, und unserem Land als Wissenschaftsnation. // Die Konzentration der Kräfte ist auch deshalb wichtig, weil gute Hochschulen heute in einem weltweiten Wettbewerb stehen. In diesem Wettbewerb wird der Frankfurter Universität ihre Besonderheit als Bürgeruniversität, aber auch die öffentliche Unterstützung, zugute kommen. // Europa, so hat neulich der indische Autor Pankaj Mishra geschrieben, habe seine Leuchtkraft verloren. Es habe früher mit seiner kulturellen und intellektuellen Kraft Vertrauen in die Allgemeingültigkeit seiner Erfahrungen und Lösungen erzeugt. Und dieses Vertrauen sei nun heute verlorengegangen. // Ich teile bei weitem nicht alles, was dieser Autor ausführt. Eines aber, was er sagt, halte ich doch für so wichtig, um es hier vorzutragen: Europa, so schreibt er, müsse die eigene kritische und kosmopolitische Tradition wiederbeleben, es brauche Offenheit, Widerspruch und kein homogenes Weltbild. // Wozu uns ein indischer Autor hiermit aufruft, ist doch nichts weiter als die alte und ewig junge Beschreibung von Aufgabe und Wesen der europäischen Universität, die in ihren guten Zeiten immer weltoffen war und die immer bereit war, auch fremde Erfahrungen aufzunehmen. Gehen wir also ans Werk. Gehen wir daran, diese, unsere europäische Universität wieder so lebendig werden zu lassen, dass es intellektuell gleichermaßen Herausforderung und Freude ist, an ihr zu lehren und zu lernen. // Enden wir, wie wir begonnen haben, mit Goethe: Als er im Alter von 16 Jahren daran ging, ein Studium aufzunehmen, gab es diese Frankfurter Universität noch nicht. So ging er nach Leipzig. Von dort schrieb er am 13. Oktober 1765 an seinen Vater: // "Sie können nicht glauben, was es eine schöne Sache um einen Professor ist. Ich bin ganz entzückt gewesen, da ich einige von diesen Leuten in ihrer Herrlichkeit sah!" Das waren noch Zeiten: Professoren in ihrer Herrlichkeit! Das ist irgendwie endgültig passé. Aber könnte es nicht möglich sein, die Universität als Ganzes, als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, von Stiftern, Förderern und Bildungspolitikern zu einer neuen Herrlichkeit zu führen? Ich wüsste nicht, was ich dieser Goethe-Universität zu Frankfurt am heutigen Tage besseres wünschen könnte.
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Joachim Gauck
Wir feiern heute Abend eine der schönsten Transformationsgeschichten, die unser Land zu erzählen hat. Das Deutschlandradio ist ja nicht nur ein "Kind der Einheit", sondern es ist noch viel mehr. Gewiss ist dieser Sender - mit seinen heute drei Programmen - vor allem ein Produkt der Einheit. Aber gleichzeitig war und ist er aber auch ein Motor der Einheit. Er hat die Überwindung der Teilung begleitet, reflektiert und kommentiert. Und schließlich war das Deutschlandradio auch ein Labor der Einheit. Wie in nur wenigen anderen Institutionen haben hier Menschen mit Ost- und Westbiografien - ganz unterschiedlichen Ost- und Westbiografien übrigens - zusammen etwas Neues geschaffen. // Heute spiegelt das Deutschlandradio mit seinen Hörfunkprogrammen unser geeintes Deutschland in einem größer gewordenen Europa, in einer Welt, die sich beständig verändert. Darum bin ich gern zu Ihnen gekommen! // Es war keine leichte Geburt, damals, vor 20 Jahren. Es waren heikle Fragen zu klären. Etwa: Was soll mit dem Erbe der Hörfunksender der DDR geschehen, die als Instrumente sozialistischer Propaganda diskreditiert waren? Oder: Was tun mit RIAS und Deutschlandfunk, die mit der Vereinigung unseres Landes ihre ursprüngliche Bestimmung verloren hatten? Oder: Wie verfahren mit den Klangkörpern der Sender, das Bläserensemble des DSO haben wir gerade gehört. Die Konflikte von damals kennen viele von Ihnen natürlich weit besser als ich - Sie waren dabei. Ich will das auch nicht alles im Einzelnen nachzeichnen, das kann ich gar nicht, nur so viel will ich andeuten: Es gab auch mächtig Streit unter den Hebammen, jede hätte das Kind gern allein auf die Welt begleitet. // Am Ende stand eine bis heute einzigartige Konstruktion, die unseren Ehrengästen aus dem Ausland, von BBC und Radio France, vermutlich merkwürdig erscheint: Die ARD, das ZDF und alle 16 Bundesländer wurden per Staatsvertrag gemeinsam Träger von zwei Hörfunksendern unter einem Dach, mit Programmauftrag für ganz Deutschland. // Mindestens ebenso bemerkenswert wie das Kind aber waren die Eltern: Es gab ja deren gleich drei - und jedes Elternteil stand seinerseits für ein Stück deutscher Zeitgeschichte. // Dem Deutschlandfunk bin ich bis heute - wie übrigens viele aus dem Osten - von Herzen dankbar. Er war die bundesdeutsche Antwort auf den Deutschlandsender der DDR und hat - wie wenige andere Institutionen - die Verbindung zwischen Ost und West gehalten, als manche Landsleute im Westen schon nichts mehr über die DDR hören wollten. Der Deutschlandfunk folgte diesem Zeitgeist nicht. "Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden" - diesem Auftrag aus der Präambel des Grundgesetzes fühlte er sich stets verpflichtet. Zugleich aber hat er auch den Blick nach Europa und in die Welt geweitet. // Der Deutschlandfunk sei "Frequenz gewordene Zuverlässigkeit", schrieb die "taz" vor zwei Jahren zum 50. Geburtstag, "so etwas wie der Bundespräsident unter den Radiosendern: politisch engagiert, aber neutral und auf die großen Zusammenhänge bedacht". Das will ich nun nicht kommentieren, nur so viel: In ganz Deutschland - übrigens gerade auch in jenen Regionen, die früher in der DDR als "Tal der Ahnungslosen" bezeichnet wurden - danken es die Hörerinnen und Hörer bis heute mit großer Treue. // Auch der RIAS spielt in meinen Erinnerungen eine wichtige Rolle, eine frühe sogar. Denn damals habe ich dort Ernst Reuter gehört, als Jugendlicher. Ich habe gehört, wie er die Freiheit dieser Stadt beschworen hat, in schwierigen Zeiten. Und in den Tagen um den 17. Juni 1953 hing ich, der 13-Jährige, am Radio und hörte gebannt - wenn das Programm nicht gerade gestört wurde -, was auf den Straßen in Berlin passierte. Der Klang der Freiheitsglocke, bis zuletzt ein Markenzeichen im RIAS, hat sich mir tief eingeprägt - wie schön, dass diese Tradition bis heute fortgeführt wird! // Das dritte Elternteil nun, der Deutschlandsender Kultur, war seinerseits ein Kind der friedlichen Revolution und mit der bin ich nun einmal sehr tief verbunden. Er hatte nach dem Mauerfall Teile des ehemaligen Staatsrundfunks der DDR beerbt und dank der Unterstützung des"Runden Tisches" den 3. Oktober 1990 überlebt. In ihm spiegelt sich der Enthusiasmus der neu gewonnenen Freiheit, auch die Lust aufs Experiment. // RIAS und DS Kultur, diese scheinbar grundverschiedenen Programme aus Ost und West, zum Deutschlandradio Berlin zu vereinen, das war wahrlich eine Herausforderung, ja eigentlich ein Wagnis. Aber war es nicht bei genauem Hinsehen genauso mit der Herstellung der Deutschen Einheit? Und so, wie die Deutsche Einheit im Großen gelang, so gelang auch im Deutschlandradio Berlin die "Einheit im Kleinen": mit Euphorie und Aufbruchstimmung, aber auch mit einer gehörigen Portion Veränderungsskepsis und auch mit mancher Enttäuschung. Es gab Besitzstandsdenken und gegenseitiges Misstrauen - hier einstiger "Klassenfeind", dort Mitarbeiter des Staatsrundfunks. Aber genauso gab es auch Hilfsbereitschaft und Offenheit für das Neue. // Dieser Festakt ist ein schöner Anlass, all jenen "Danke" zu sagen, die damals unvoreingenommen aufeinander zugegangen sind. Die erst einmal gefragt haben: Was ist das für ein Mensch? Oder: Wie finden wir zusammen? Danke an all diejenigen, die gesagt haben: Wie spannend diese Zeiten sind, welch ein Glück, sie gemeinsam gestalten zu dürfen! Die nicht dem Alten nachgetrauert haben, oder auch dem verlorenen Zauber des Übergangs. Es war wichtig und es war wertvoll für das Zusammenwachsen, dass hier an dieser Stelle nicht einfach "abgewickelt" wurde, sondern Ost- und Westdeutsche gemeinsam etwas entwickelt haben, journalistische Standpunkte und Formate nämlich. // So wurde am Berliner Standort die neue Hauptstadt publizistisch vorbereitet, bevor noch Parlament und Regierung vom Rhein an die Spree kamen. So spiegelt sich im Deutschlandradio, worüber wir uns freuen und worauf wir mit Stolz blicken dürfen - das Glück der Wiedervereinigung, die unsere Nachbarn in je eigener Weise unterstützten und die dann in das Zusammenwirken unseres Kontinents einmündete. // Nun ist das Kind der Deutschen Einheit längst volljährig. Im Herbst feiern wir den 25. Jahrestag der großen Demonstrationen des Bürgermuts im Osten und den darauf folgenden Mauerfall. Heute sortiert hoffentlich niemand mehr im Deutschlandradio nach "Ossis" und "Wessis". Doch der Programmauftrag seiner Sender bleibt bestehen: die Deutschen, die politisch wie regional so unterschiedlich geprägt sind, miteinander zu verbinden. Und das in einem aufgeklärten nationalen Diskurs, wie in einer Vermittlung der verschiedenen kulturellen Traditionen. // Wir sind froh über Deutschlands eigenständige und selbstbewusste Länder. Bei uns, das wissen wir lange, ist kulturell nirgendwo "Provinz". Gerade deshalb braucht unser Land beides: Programme, die regionale Identitäten wiederspiegeln und stärken. Und Programme, die föderale Vielfalt bündeln und hörbar machen, mit Korrespondenten in Schwerin und Stuttgart, in München und Magdeburg. // Unser Land ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur zusammengewachsen, sondern es ist zugleich erwachsener geworden. Es ist nicht mehr so viel mit sich selbst beschäftigt, sondern schaut mehr und mehr nach draußen, nach Europa und in die Welt. Auch darum brauchen wir ein nationales Hörfunkangebot, das über Ereignisse in Algier und Ankara, in Kiew und Kopenhagen informiert und seinerseits Deutschlands Stimme im Ausland prägt. // Wer heute die Vielfalt unserer Hörfunklandschaft, zu der die Programme des Deutschlandradios gehören, mit fremden Ohren zu hören versucht, der kann keinen Zweifel daran haben, wie wertvoll eine öffentlich-rechtliche, aber dennoch staatsferne Säule unseres dualen Rundfunksystems ist. Die Rundfunkfreiheit des Grundgesetzes gewährleistet deshalb eine Medienlandschaft, die an Vielfalt ausgerichtet ist und eine politische Instrumentalisierung des Rundfunks verhindert. Für die heute gefeierten Programme bedeutet diese grundgesetzliche Gewährleistung: Was für ein Privileg, bundesweit und werbefrei senden zu dürfen! Welch ein Privileg, nicht auf Quote schielen zu müssen! Welch ein Privileg, noch in ganzen Sätzen Radio machen zu dürfen! // Wie alle Privilegien sind auch diese unter scharfer Beobachtung all jener, die sie nicht genießen, und auch derjenigen, die dafür bezahlen. Ihre Aufgabe, meine Damen und Herren, besteht darum auch darin, diesen Zustand, in dem Sie sich befinden, kontinuierlich zu begründen. Verlangt sind bisweilen Gratwanderungen: innovativ zu sein und neue Technologien zu nutzen - nicht aber um den Preis der Qualitätsminderung. Themen abseits vom Meinungshauptstrom zu finden - ohne dabei in einer Nische zu versickern. Komplexe Zusammenhänge auch komplex darzustellen - aber nicht zum Umschalten zu verleiten. Und wie wichtig Verantwortungsbewusstsein im Journalismus ist, das sehen wir gerade in Zeiten, in denen manche Medien zu Empörungsverstärkern mutieren, die Urteile fällen, bevor ein Sachverhalt überhaupt geklärt ist. // Die Preise, die Ihre Programme und Ihre Macherinnen und Macher in den letzten Jahren bekommen haben, zeigen: Sie werden Ihrer Verantwortung gerecht. Einen ganz frischen Preisträger haben Sie heute Abend mit der Moderation beauftragt - Kompliment, lieber Herr Scheck! // Es gäbe noch vieles zu sagen. Zu den irrwitzigen Veränderungen, die gerade die Art und Weise der menschlichen Kommunikation revolutionieren. Denken wir mal zurück: Im Jahr des Mauerfalls schrieb ein gewisser Tim Berners-Lee am Kernforschungszentrum CERN ein Papier mit dem lapidaren Titel "Informations-Management - Ein Vorschlag". Heute ist die Welt ohne seine Erfindung, das World Wide Web, kaum noch vorstellbar - und der Globus, den hier, oben auf dem Dach dieses Gebäudes, die Giganten stemmen, bekommt eine ganz neue Bedeutung. // So unmittelbar wie das Radio heute, können auch andere Medien sein. Was bleibt, ist das Bedürfnis nach verlässlicher Information, nach verständlicher Einordnung, nach Orientierung in einer Gegenwart, die viele doch als immer unübersichtlicher empfinden. Und genau dies ist ein ungeheuer wichtiger Auftrag. Denn unsere Demokratie ruht auf der Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, sich in der Unübersichtlichkeit nicht zu verlieren oder zu verirren, sondern sich eine eigene Meinung bilden zu können. // Dem Deutschlandradio, seinen Programmen und allen Verantwortlichen sage ich sowohl als Hörer als auch als Präsident: herzlichen Dank! Sie haben uns in den vergangenen 20 Jahren durch allen Wandel hindurch zuverlässig begleitet. Sie haben mit Verantwortungsbereitschaft Veränderung gewagt. Ich wünsche Ihnen den Mut, sich weiter zu wandeln, wenn es notwendig ist und die Weisheit zu erkennen, wann das notwendig ist. Und damit alles Gute für die kommenden Jahre!
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Théophile Gautier
Diese Kathedralen der neuen Menschheit sind die Treffpunkte der Nationen, das Zentrum, in dem alles zusammenfließt, der Kern gigantischer Sterne, mit Strahlen aus Eisen, die sich bis zum Ende der Welt erstrecken.
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Emanuel Geibel
Lüge, wie sie schlau sich hüte, bricht am Ende stets das Bein; kannst du wahr sein nicht aus Güte, lern' aus Klugheit wahr zu sein.