Zitate zu "Gegner"
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Dr. Heinz Fischer
Ich übersehe nicht, dass wir alle in den letzten Jahren und Jahrzehnten dazugelernt haben und wichtige Schritte zur Aufarbeitung unserer Geschichte und unserer Schuld gesetzt wurden. Auch der nunmehr verstorbene Altbundespräsident hat dazugelernt. Er hat berührende letzte Worte zu Papier gebracht, er hat Fehler einbekannt und er hat vor allem seine Hand auch in Richtung seiner Kritiker und Gegner ausgestreckt. Er hat Versöhnung angestrebt. Ich plädiere dafür, diese Hand nicht auszuschlagen und die menschliche Größe dieser Geste in vollem Umfang anzuerkennen. Ich plädiere für Gerechtigkeit und für die Bereitschaft zur Versöhnung. Und ich plädiere für weitere ernsthafte und gemeinsame Anstrengungen zum Zwecke einer um Objektivität bemühten Aufarbeitung der Grauzonen unserer jüngeren Geschichte.
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Franzobel
Im Prinzip kann Österreich natürlich jederzeit jeden Gegner schlagen.
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Prof. Dr. Sigmund Freud
Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das - daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden "himmlischen Mächte", der ewige Eros. eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten.
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Dr. Egon Friedell
Mord gehörte in der Renaissance ganz einfach zur Ökonomie des Daseins, wie heutzutage die Lüge zur Ökonomie des Daseins gehört. Würde heute ein Politiker seinem Gegner Zyankali in die Schokolade schütten, würde die ganze zivilisierte Welt in Entsetzen geraten. Dass er aus ähnlichen Motiven betrügt, Tatsachen fälscht, heuchelt und intrigiert, finden wir ganz selbstverständlich. Im Italien des 15. und 16. Jahrhunderts war Mord eine gesellschaftliche Umgangsform, so wie heute jede Art der Korruption und Lüge ein unentbehrliches Ingrediens des öffentlichen und privaten Verkehrs bildet.
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Ferdinando Galiani
Nichts ist häufiger, als daß am Ende eines Streits beide Gegner um die Wette Unsinn reden.
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Mohandas "Mahatma" Karamchand Gandhi
Das Bewußtsein von der Allgegenwart Gottes weckt Achtung vor dem Leben der Gegner und Verständigen.
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Mohandas "Mahatma" Karamchand Gandhi
Das sind keine Reformen, die auf die Gegner keine Rücksicht nehmen, sondern die Gefühle der konservativen Menschen verletzten - statt mit dem Besten, was jene haben, zu wetteifern.
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Mohandas "Mahatma" Karamchand Gandhi
Leid ist das Gesetz des Menschenwesens. Krieg ist das Gesetz des Dschungels. Doch ist das Leid unendlich mächtiger als das Gesetz des Dschungels, denn es bekehrt den Gegner und es öffnet ihm die Ohren für die Stimme der Vernunft.
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Mohandas "Mahatma" Karamchand Gandhi
Willst du einen Gegner überzeugen, so mußt du ihm die besten und edelsten Züge seines Charakters vor Augen führen. Umwirb ihn auf diese Weise. Halte ihm nicht seine Fehler vor.
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Mohandas "Mahatma" Karamchand Gandhi
Ziviler Ungehorsam muß sich durch gänzliche Gewaltlosigkeit auszeichnen, denn er steht auf dem Grundsatz, den Gegner durch Leiden, durch Liebe zu gewinnen.
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Romain Gary
Ein Nachteil der Politik liegt darin, daß manche vernünftige Maßnahme bloß deswegen unterbleibt, weil der Gegner sie vorgeschlagen hat.
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Joachim Gauck
"Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt / schwankt sein Charakterbild in der Geschichte." Wenn je auf einen politisch wirkenden Deutschen dieses Schiller'sche Wort aus dem Prolog zu "Wallenstein" zutrifft, dann auf ihn: Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen, kurz: Fürst von Bismarck - preußischer Ministerpräsident, Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes, Reichskanzler des deutschen Kaiserreiches; kurz: eiserner Kanzler. // Bismarck: Preußen, Junkertum, Kaiserreich, Friedrichsruh, Spiegelsaal, Emser Depesche, Kanzelparagraph, Sozialistengesetz - sind das nicht alles Stichworte einer längst versunkenen Epoche? Stoff höchstens für Denkmäler und Museen? Sind das nicht Geschichten aus grauer Vorzeit? // Dazu eine kleine Zeitrechnung: Otto von Bismarck war noch für 22 Jahre Zeitgenosse Konrad Adenauers. Und wir - zumindest viele von uns - waren noch Zeitgenossen Konrad Adenauers, eines anderen großen Kanzlers der Deutschen. Für mich jedenfalls trifft das zu. So gesehen ist Bismarck also doch noch gar nicht so lange her. // Bismarck hat sich, wie andere geschichtliche Persönlichkeiten, die aus den Zeitläuften besonders herausragen, den zentralen Fragen und Herausforderungen seiner Epoche gewidmet. // "Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf. Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus." // In diesen beiden Versen, die Goethe und Schiller gemeinsam verfasst haben, ohne dass man sagen könnte, wer von den beiden welchen Anteil daran hatte, in diesen sogenannten Xenien drückt sich die ganze deutsche Frage aus, die spätestens seit der französischen Revolution und dann stärker noch seit den Befreiungskriegen die meisten Länder deutscher Zunge beschäftigt: Deutschland - aber wo liegt es, aber was ist es, aber wie kommt es zusammen? // Deutschland: Das ist da zwar längst ein Begriff, aber zu diesem Begriff gibt es keine politische Entsprechung. Die Nation: Eine tiefe, seltsam dringliche Sehnsucht nach Einheit erfasst die deutschen Menschen um 1800, obwohl doch, wie ja die Schiller-Goethe'schen Verse es sagen, Kultur und Geist, Bildung und Humanität blühen und gedeihen - und obwohl die Kultur doch eine Einheit bereits darstellt. Später wird man von Deutschland als einer Kulturnation sprechen, zu der die Königreiche, die Fürsten- und Herzogtümer, Grafschaften und geistlichen Territorien verbunden durch die deutsche Sprache längst geworden waren, obwohl oder gerade weil es eine politische Einheit nicht gab. // Eine Nation sein - diese Idee greift, wir wissen es, auch anderswo um sich im Europa des 19. Jahrhunderts. Geboren ist sie im revolutionären Frankreich, davon ist sie so sehr geprägt, dass man geradezu sagen kann, "Nation" sei der "Eigenname Frankreichs". Nation - das hört sich für die Völker Europas auch sofort nach "Freiheit" an. Denn das gehört nach 1792 doch zusammen: Die eine und unteilbare Nation und die Menschen- und Freiheitsrechte, die in ihr gelten sollen. Dass und wie diese Ideen dann mit Gewalt exportiert werden sollten, worunter gerade Deutschland zu leiden hatte, steht auf einem anderen Blatt. // Nach den Befreiungskriegen, nach der Phase der Restauration und nach der letztlich gescheiterten Revolution von 1848 war in Deutschland die Enttäuschung groß. Nationale Einheit und demokratische Freiheit schienen in weite Ferne gerückt. Dazu kamen die umstürzenden neuen technischen und industriellen Entwicklungen, die eine historisch unerhörte Akzeleration bedeuteten. Städte wuchsen plötzlich, eine Massengesellschaft entstand, der Fortschritt brachte fast jährlich neue Segnungen, und gleichzeitig musste man mit seinen unerwünschten Folgen umgehen. // Die Welt, in der Otto von Bismarck politisch zu wirken begann, war also in jeder Hinsicht in Bewegung. "Das ruhelose Reich" hat Michael Stürmer seine Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überschrieben. Dort heißt es: "Nationale Leitbilder wurden [ ] Ersatzformen des Glaubens, gestiftet durch Verlust der Tradition, provoziert durch das Ende aller Sicherheit und erwachsen aus einem Wandel, über dessen Ziele es so wenig Gewissheit gab wie über die Frage, ob er überhaupt ein Ziel habe. Seit 1848 wurde die Nationalisierung der Massen' Grundzug der Epoche " // Wenn wir heute Bismarcks gedenken, der zu den wirkmächtigsten, natürlich auch umstrittensten Gestalten und Gestaltern der deutschen Geschichte gehört, dann müssen wir vor allem die Fragen anschauen, auf die er mit seinem Wirken eine Antwort zu geben versucht hat. // Es ist erstens die nationale Frage, das heißt, in welcher Form kann und soll Deutschland geeint sein? // Es ist zweitens die internationale Frage: Welchen Platz soll Deutschland in der Welt einnehmen, im europäischen Gleichgewicht der Mächte? // Es ist drittens die innenpolitische Frage: Wie soll das Land aussehen, wie kann innerer Frieden hergestellt werden, wie soll seine kulturelle und besonders seine soziale Verfassung aussehen? // Diese Fragen - wir spüren es - sind nicht einfach historisch überholt. Wir erkennen darin - natürlich verwandelt und mit anderen Vorzeichen - Konturen unserer heutigen Fragen wieder. // So wie immer wieder über die Gestaltung von Einheit in Vielfalt nachgedacht wird - Stichwort Föderalismusreform -, so wie wir über Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt immer wieder neu nachdenken, so beschäftigt uns auch die innere Gestaltung unseres Gemeinwesens, das heute durch Einwanderung und demographischen Wandel vor neuen kulturellen und sozialen Herausforderungen steht. // Beispielhaft ist Bismarcks Energie, sein politischer Wille und seine Leidenschaft, sich so wesentlichen Fragen seiner Zeit zu stellen. Beispielhaft seine Fähigkeit, den richtigen Moment abwarten zu können, beispielhaft auch seine Entschlusskraft und seine Standhaftigkeit. // Wir werden natürlich den Herausforderungen, denen wir heute gegenüberstehen, anders begegnen, ja anders begegnen müssen als Bismarck. Aber nicht deshalb, weil er das Land auf einen abschüssigen Weg geführt hätte. Nein: Es führt eben kein gerader Weg von Bismarck zu Hitler, wie gelegentlich behauptet worden ist. Das ist nicht nur eine unhistorische Spekulation, sondern auch eine ungerechte Beurteilung oder besser: Verurteilung eines Strategen, dem es doch nie um schlichtes Vormachtstreben oder gar so etwas wie ein "Großdeutsches Reich" ging. // Aber was für ihn noch quasi legitime politische Manöver waren, wie etwa Kriege zu führen, um innenpolitische Ziele zu verfolgen oder außenpolitische Interessen zu wahren, das kommt für uns selbstverständlich nicht mehr in Frage - und wo das heute noch anderenorts geschieht, da müssen wir Protest einlegen und nötigenfalls auch Hilfe oder Widerstand leisten. // Die Einheit des Reiches so zu gestalten, dass sich auch die Kleinen nicht übervorteilt fühlen, und dass ein gerechter Ausgleich geschaffen wird, darauf hat Bismarck immer geachtet - und manch einer sieht das als vorbildlich für Europa und dessen Einigungsprozess an, der im gerechten Ausgleich der Einzelinteressen und unter Wahrung der Interessen auch der kleineren Partner gestaltet werden soll. // Eine besondere List der Geschichte ist wohlbekannt, sozusagen die Dialektik des Paternalismus: Um seine sozialistischen Gegner zu bekämpfen, schuf Bismarck die damals weltweit fortschrittlichste Sozialgesetzgebung. Das hat Deutschland nachhaltig geprägt. Gerade die Bismarckzeit zeigt, dass sich soziale Sicherheit und dynamische wirtschaftliche Entwicklung nicht ausschließen, sondern dass sie im Gegenteil einander stärken können und sollten. Inzwischen haben wir allerdings auch gelernt, ohne Bevormundung von oben eine partnerschaftlich strukturierte, soziale Marktwirtschaft zu gestalten. // Ein bleibender Schatten auf Bismarcks Wirken ist sein hartnäckiger, auch unbelehrbarer Drang, Reichsfeinde zu identifizieren und möglichst auszuschließen, namentlich natürlich Katholiken und dann Sozialisten. Zeitgenossen mit Rang und Namen haben ihn dabei unterstützt. Das war er nicht allein. Das war nicht nur kontraproduktiv, es hat auch lange nachwirkende Wunden geschlagen und Vorurteile auf Jahrzehnte befestigt. // Wie lange mussten sich zum Beispiel auch Sozialdemokraten, bis hin zu Willy Brandt, noch als "vaterlandslose Gesellen" oder die katholische Kirche in Deutschland sich als Vertreterin einer "auswärtigen Macht" bezeichnen lassen! Das war Bismarck'sches Denken in Feindbildern. Wir dürfen es durchaus so formulieren, auch wenn Bismarck selbst die eben genannten Frontlinien später nivellierte, wenn er etwa mit dem Zentrum einen Modus Vivendi fand, der sich auf lange Sicht positiv auf das Miteinander in Deutschland auswirken sollte. // Der Blick auf die Bismarck-Ära zeigt uns, wie wichtig es war, dass die frühe Bundesrepublik eine Gesellschaft zu errichten vermochte, in der die Gräben zwischen den Kulturen und Religionen und - sagen wir es mit einem Wort von damals - den Klassen nicht vertieft, sondern überbrückt oder gar überwunden worden ist. // Bismarcks "Revolution von oben", wie man sein Werk genannt hat, hat damals eine historisch lang wirkende und tiefgreifende Antwort gegeben auf die große Frage der Epoche nach dem Ort und der Gestalt Deutschlands. // Wir stehen heute vor ähnlichen großen Fragen. Unsere Antworten werden andere sein. Aber den Mut, sich mit Tatkraft und Optimismus diesen Herausforderungen zu stellen, den können wir von ihm lernen.
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Joachim Gauck
Angesichts dieses in jeder Hinsicht herausragenden Gästekreises möchte ich Sie alle - gewissermaßen praemissis praemittendis - als Freunde und Wegbegleiter des Jubilars ganz herzlich willkommen heißen. // Wenn der Bundespräsident eine Tischrede zu Ehren von Helmut Schmidt hält, dann sieht er sich vor eine doppelte Herausforderung gestellt. Zum einen ist schon so viel über den Staatsmann und politischen Publizisten, den Menschen Helmut Schmidt gesagt worden, dass der Jubilar, der Redner und die Zuhörer die Wiederholung fürchten müssen. Zudem ist es einfach ein Ding der Unmöglichkeit, alle Verdienste Helmut Schmidts in einer menschenfreundlichen und dazu noch protokollarisch vorgegebenen Zeit zu würdigen und dabei dann auch noch seiner Persönlichkeit nur annähernd gerecht zu werden. // Ich möchte Ihnen deshalb an diesem heutigen Abend nur das mitteilen und sagen, was mich persönlich an Helmut Schmidt beeindruckt hat, in all den Jahren, in denen ich sein Wirken aus der Ferne und Nähe nun verfolge. Und es wird Sie nicht wundern, dass ich mit dem Weg zur deutschen Einheit beginne. // Das erste Mal bin ich Ihnen, lieber Herr Schmidt, in Rostock begegnet, meiner Heimatstadt, das war auf dem Kirchentag im Juni 1988, wie auch Ihnen, liebe Frau Hamm-Brücher, Sie waren auch dort. Damals, als Deutschland und Europa noch geteilt waren, die Zeit der Perestroika aber bereits angebrochen war, damals hielten Sie eine Rede in der Rostocker Marienkirche, allem Widerstreben der SED zum Trotz. Denn erst nach hartnäckigen und zähen Verhandlungen und Zurückweisung der Forderung der SED, wir, Kirche und Kirchentag, sollten Sie wieder ausladen, was wir nicht taten, sind Sie dann doch nach Rostock gekommen. Weit mehr als 2.500 Menschen waren damals in die Marienkirche gekommen, um Ihnen zuzuhören, und man empfing Sie so, wie man eben ein Idol empfängt. Ein Offizier der Stasi fasste das, was sich bei Ihrer Begrüßung abspielte, laut Stasi-Akten in fünf Wörtern zusammen: "Jubelrufe, lang anhaltender stürmischer Beifall." // Ihre Rede damals gab der Christen- und Bürgergemeinde Kraft. Es war vor allem ein Satz, der vielen, die dabei waren, in Erinnerung geblieben ist. Sie sagten damals: "Jeder von uns weiß, dass wir eine Aufhebung der Teilung nicht erzwingen können. ( ) Und trotzdem darf jeder von uns an seiner Hoffnung auf ein gemeinsames Dach über der deutschen Nation festhalten." Was wir damals noch nicht wussten: Genau in dieser Kirche versammelten sich dann ein Jahr später, 1989, die Rostocker, um jeden Donnerstag mit dem Wort Gottes und den neuen politischen Programmen gegen die kommunistische Diktatur zu protestieren. Und während sie das taten, verwandelten sie sich von Untertanen in Bürger. // Damals hat sich eine Hoffnung erfüllt, zu der wir 1988 noch gar kein rechtes Zutrauen hatten. Seitdem hat sich unendlich viel verändert. Eines aber, lieber Helmut Schmidt, ist unverändert geblieben: Auch heute hören Ihnen die Menschen zu, auch heute bringen sie Ihnen großen Respekt entgegen. Einer Umfrage zufolge sind Sie sogar "das größte lebende Vorbild der Deutschen". // Schon viele haben versucht, das Phänomen Helmut Schmidt zu ergründen. Ich will mich da lieber nicht einreihen. Was ich aber tun möchte, ist, Ihnen zu sagen, warum ich mich freue, Sie heute hier in Schloss Bellevue zu Gast zu haben. Ich freue mich, weil ich Ihre Erfahrung schätze, Ihre politische Urteilskraft und Ihre geistige Unabhängigkeit. Und weil viele Stationen Ihres Lebens auch für mich bedeutsam waren, als Bewohner der DDR und später als Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Sie sind eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte, die fast ein ganzes Jahrhundert erlebt und reflektiert hat."Unser Jahrhundert" - so nannten Sie Ihre Rückschau, die Sie zusammen mit Fritz Stern 2010 veröffentlicht haben. Uns begegnet ein Mann mit republikanischen Werten - zuvörderst aber mit einem deutlichen Ja zu politischer Verantwortung und ausgestattet mit einer im politischen Raum nicht eben häufigen Tugend, dem Mut. // Besonders beeindruckend finde ich, wie offen Sie im Rückblick auch über schwierige Gewissensentscheidungen gesprochen haben. Noch im Zweiten Weltkrieg, in dem Sie als Offizier der Wehrmacht kämpften, standen Sie vor der quälenden Frage: Wann endet die Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Staat, wann beginnt die individuelle Verantwortung und wo die Schuld? // Die Erfahrungen von nationalistischer Hybris, von Krieg und Massenmord haben Sie, wie viele Zeitgenossen, zu einem überzeugten Europäer gemacht. Bei Ihrem Geburtstagsfest im Hamburger Thalia Theater sagten Sie Anfang des Jahres: "Ich wünsche mir, dass die Deutschen begreifen, dass die Europäische Union vervollständigt werden muss - und nicht, dass wir uns über sie erheben." Dass Sie dies sagten, gerade Sie, das hat Gewicht. Ich bin mir sicher: Ihre Denkanstöße leisten einen wichtigen Beitrag, im Vorfeld der Europawahlen im Mai und hoffentlich weit darüber hinaus. // Lassen Sie mich noch einmal zurückschauen in eine schwierige Phase Ihres Lebens. // Als Bundeskanzler sahen Sie sich, vor allem im "Deutschen Herbst" des Jahres 1977, mit dem Terrorismus der Roten Armee Fraktion konfrontiert und vor die Frage gestellt: Darf sich ein demokratischer Staat erpressen lassen, darf er Gefangene gegen Geiseln austauschen? Was soll man tun, wenn die Staatsräson in Konflikt gerät mit dem Leben von Einzelnen? Sie haben damals mit Ihrem Gewissen gerungen, und ich bewundere Sie für einen Satz, der so einfach klingt und einem doch so schwer über die Lippen kommt: Er lautet: "Ich bin verstrickt in Schuld." // Dies sehr klar zu erkennen und zu benennen und gleichwohl die beständige Pflicht zum Handeln zu akzeptieren, zeichnet einen großen Politiker aus. // Lieber Herr Schmidt, Sie haben immer wieder Mut und Pflichtbewusstsein, Führungskraft und Standfestigkeit bewiesen, auch in Situationen, die Sie persönlich und politisch an Ihre Grenzen brachten. Der NATO-Doppelbeschluss zum Beispiel war im ganzen Land, auch in Ihrer Partei, der SPD, heftig umstritten - aber die Geschichte hat Ihnen Recht gegeben. Sie haben erlebt, wie es ist, wenn man in der Politik nicht wegen eines Versagens, sondern wegen einer politischen Entscheidung plötzlich den Rückhalt verliert, wenn es einsam wird auf dem Gipfel der Macht. Sie haben auch erlebt, was es ausmacht, die Gestaltungsmacht zu verlieren und die Regierungsverantwortung dann dem politischen Gegner zu überlassen. Sie kennen den bitteren Geschmack der politischen Niederlage. Sie wissen besser als ich, dass solche Lebensphasen auch eine Einladung enthalten. Eine dunkle Einladung zu Fatalismus, Pessimismus oder gar zu Zynismus. // Sollte Ihre Psyche jemals solche Einladungen erhalten haben, so haben Sie es vermocht, sie auszuschlagen. // Später, außer Dienst, als politischer Publizist und Herausgeber der ZEIT, haben Sie sich immer wieder in die öffentlichen Debatten eingemischt, und das tun Sie bis heute. Ihre Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Moral, orientiert an Ihren vier"Hausapothekern" Marc Aurel, Immanuel Kant, Max Weber und Karl Popper, haben das politische Denken dieses Landes beeinflusst. Sie sind ein Verteidiger unseres parlamentarischen Systems, der nicht müde wird, den friedlichen Meinungsstreit und den Kompromiss als demokratische Tugenden zu würdigen und für pragmatische, verantwortungsvolle Politik zu werben. // Wer Ihr publizistisches und politisches Lebenswerk in der Gesamtschau betrachtet, der ist überwältigt von der thematischen Vielfalt. Einer Ihrer"Hausapotheker", Marc Aurel, dessen "Selbstbetrachtungen" Sie als Soldat stets im Tornister trugen, hat einmal geschrieben: "Tue nichts widerwillig, nichts ohne Rücksicht aufs allgemeine Beste, nichts übereilt, nichts im Getriebe der Leidenschaft." Das klingt in meinen Ohren - verzeihen Sie - stark nach Helmut Schmidt - nach einem Mann, der sich ganz der Sache hingibt, sorgfältig arbeitet, auch viel Zeit am Schreibtisch verbringt. Ein Arbeitsethos übrigens, das auch geeignet ist, einem gefährlichen Vorurteil zu begegnen: dem Vorurteil nämlich, Politik sei ein dubioses Geschäft, das vor allen Dingen von Leichtgewichten betrieben werde. // Fleiß, Pflicht und Vernunft, Weber und Kant, das alles klingt erst mal kühl, rational, streng. Ich glaube, zu Ihrer Beliebtheit heute hat ebenso eine andere Seite Ihrer Persönlichkeit beigetragen, die es seit langem gibt. Ich meine den Mut, die eigene Meinung deutlich und ohne andauernde Rückversicherung zu sagen. Manchmal durchaus eigensinnig, dann wieder hinreißend sozialdemokratisch. Ein Weltbürger mit universellen Interessen - und zugleich immer in Hamburg-Langenhorn -, bodenständig und beständig brahmseeverbunden. Ich schweige von Sturheit, möglicherweise norddeutsch, denn ich möchte nicht vom Rauchen sprechen. // Lieber Herr Schmidt, nun zum Schluss muss dann aber der Satz kommen, auf den ich mich schon lange gefreut habe und den ich als Präsident der Bundesrepublik Deutschland mit großer Dankbarkeit ausspreche: Sie haben sich verdient gemacht um unser Land. Ihr tätiges Leben für unsere Republik, Ihre Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen - all das macht Sie zu einem Vorbild für aktuelle und künftige Politikergenerationen. Die Demokratie braucht Menschen wie Sie. // Bitte erheben Sie Ihr Glas auf Helmut Schmidt und Frau Ruth Loah. Auf Ihre Gesundheit und Ihr Wohl!
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Joachim Gauck
Auf einem Historikertag darf man doch sicher mit einem Kaiser beginnen. Ich beginne mit dem letzten deutschen Kaiser, Franz Beckenbauer. Er erzählt gelegentlich von einem Ereignis, bei dem er selber ausnahmsweise einmal Verlierer war. Es handelt sich um das Vorrundenspiel der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland 1974, genauer gesagt in der Bundesrepublik Deutschland, bei dem die Auswahl der DDR gegen die der Bundesrepublik 1:0 gewann. // Franz Beckenbauer soll dann, wie auch andere Akteure damals, immer sinngemäß gesagt haben: "Ohne die Niederlage gegen die DDR wären wir '74 nie Weltmeister geworden. Denn nur dadurch wurden wir radikal mit unseren Schwächen konfrontiert, die wir dann in der Folge abstellen konnten". Also: Eine schmähliche Niederlage, ausgerechnet gegen die DDR, bereitete für die Mannschaft der Bundesrepublik den großen Triumph, die Weltmeisterschaft vor. // Ich erzähle diese deutsch-deutsche Sportanekdote natürlich, weil sie auf direkte und einschlägige Weise zum Thema passt, das Sie sich gegeben haben, wenn Sie hier auf dem 50. Deutschen Historikertag über Gewinner und Verlierer sprechen wollen. Ich gestehe, dass mich dieses Thema naturgemäß sehr fasziniert, und mich interessiert daran besonders der immer wieder - nicht nur im Sport - zu beobachtende dialektische Umschlag zwischen Sieg und Niederlage. // Bevor ich näher darauf zu sprechen komme, zunächst ein Wort zum heutigen Anlass und zum heutigen Ort: Göttingen. // "In Göttingen schien die Sonne." So beginnt Walter Kempowski in seinem Roman "Herzlich Willkommen" die Kapitel, die von der Studentenzeit des Erzählers handeln. // "In Göttingen schien die Sonne": Dieser oberflächlich so schlichte Satz ist die Überschrift über ein ganz neues Leben für jenen nicht mehr so ganz jungen Erzähler. Als Kind hatte er den Krieg und die Nazizeit erlebt und die Zerstörung seiner - und übrigens auch meiner - Heimatstadt Rostock, er hatte den Verlust allen Familienbesitzes erlitten, und war dann selber von der sowjetischen Besatzungsmacht aus politischen Gründen gefangen und gequält worden, hatte acht Jahre Zuchthaus in Bautzen erlebt, mit Einzelhaft. All das hatte er hinter sich. Und zudem musste er mit der Schuld leben, dass durch ihn auch seine Mutter und sein Bruder in Haft gekommen waren. Kurz: Er hatte selber schon genügend Geschichte, ja, sogar Weltgeschichte am eigenen Leib erlebt und erlitten. // Der kommt nun, Mitte der 1950er Jahre, hierher ins sonnenbeschienene Göttingen, in die bemüht heile Welt der westlich-westdeutschen Nachkriegszeit, um an der Pädagogischen Hochschule zu studieren, unter anderem Geschichte - dort ausgerechnet, wo die Geschichte nicht nur stillzustehen, sondern, wie er findet, gar nicht stattgefunden zu haben scheint: "Göttingen, das war eine Stadt, als wenn nichts gewesen wäre, eine Stadt, so wie man sie in älteren Fotobänden abgebildet sieht, in Brauntönen, Fachwerkgassen im Gegenlicht." // Nun wissen wir heute, dass auch in Göttingen die Zeit nie stehen geblieben ist. Auch das ehemals so beschauliche Städtchen beherbergt heute eine Universität mit bald 30.000 Studentinnen und Studenten. Das wollen wir in diesem Zusammenhang gern erwähnen, und die Universität und die Stadt sind stolz darauf, diesen Historikertag hier mit all den Gästen zu begehen. Ein fast unüberschaubares Programm wartet auf Sie, die rund 3.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Und dass auch die deutsche und internationale Geschichtswissenschaft gigantische Fabrikationsstätten historischen Wissens und historischer Publikation geworden sind, wird uns bei einem solchen Anlass recht deutlich bewusst. Das alles ist beeindruckend, und ich freue mich, bei Ihnen zu sein und wünsche Ihnen viel Erfolg. // Alles auf Erden ist Geschichte, alles hat Geschichte. Aber was gewinnen wir eigentlich, wenn wir uns damit befassen? Ist es nicht belastend oder gar kränkend, wenn wir uns vor Augen führen, dass nichts denkbar ist ohne ein Vorher, und dieses Vorher, das haben nicht wir, sondern andere gemacht? Lange vor uns sind Entscheidungen getroffen worden, die auch uns binden, obwohl wir nicht dazu gehört wurden. Dazu zählt auch Schuld, die wir nicht selber auf uns geladen haben, an der wir aber heute noch zu tragen haben. // Aber was vor uns geschah, ist oft ja auch Wohltat und Gewinn: Lange vor uns sind die Kämpfe ausgetragen worden, die uns auch heute noch Freiheiten schenken, für die wir selber nicht streiten mussten. Lange vor uns sind die Leistungen erbracht worden, aufgrund derer wir heute Wohlstand, Frieden und Sicherheit genießen. // Es gibt also, auch in den Zeiten der scheinbar generellen Machbarkeit und des Anspruchs auf unbedingte individuelle Autonomie, so etwas wie ein Schicksal, etwas Unverfügbares, von dem sich niemand voll und ganz emanzipieren kann. // Aber genau hier erscheint dann die wirkliche Aufgabe. Zwar sind wir für unsere Vergangenheit nicht verantwortlich, für den Umgang mit ihr aber allemal. Und ist es nicht dieser Umgang, der oftmals darüber entscheidet, wie wir unsere Gegenwart und Zukunft zu gestalten vermögen? // Wir haben zwar unsere Vorgeschichte nicht gemacht, wir können nichts dafür, wie sie verlaufen ist, dafür glauben wir aber, dass wir besser als unsere Vorfahren wissen, was zum Beispiel an ihren Entscheidungen falsch und was richtig gewesen ist. Wir haben - wie wir denken, und sicher oft zu recht - bessere und tiefere Einsichten. Und wir können oft nur den Kopf schütteln über die Einstellungen, Urteile und eben auch über die Entscheidungen von früher. Wir sind sozusagen kognitive Geschichtsgewinner oder vielmehr: Wir könnten es sein, wenn wir bereit sind zu lernen und genau hinzuschauen. // Nehmen wir nur die Beispiele, die die großen Gedenktage des laufenden Jahres bieten, allen voran der 100 Jahre zurückliegende Beginn des Ersten Weltkrieges. In aller Deutlichkeit sehen wir heute, dass damals auf allen Seiten weitgehende Wahrnehmungsverweigerungen geherrscht haben müssen, die bis zu partieller Blindheit gingen. // Heute sehen wir eine Unfähigkeit, Folgen bestimmter Entscheidungen in den Blick zu nehmen. Oder wir erkennen auch heute eine zynische Einstellung der Herrschenden oder Befehlenden gegenüber dem Leid der Untertanen. // Auch erblicken wir eine maßlose Selbstüberschätzung und eine unbedachte Bereitwilligkeit, die Katastrophe in Kauf zu nehmen und das alte Europa eine "Welt von gestern" werden, also untergehen zu lassen. // Extrem unverständlich erscheint es uns heute, dass die Eliten von 1914 den Krieg als reinigendes Feuer empfinden konnten, dass ihr Unbehagen oder ihr Überdruss gegenüber der Moderne positive Untergangsphantasien hervorbringen konnte, ohne dass Einigkeit auch nur über die Konturen einer "neuen" Welt geherrscht hätte. // Ebenso sehen wir heute, um nur ein Beispiel aus einem anderen Zeitabschnitt zu nennen, welche Fehler zum Beispiel die Westmächte vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges gemacht haben: Genannt wird dann oft das Münchner Abkommen mit Hitler. // Aber wissen wir es wirklich besser als die Akteure von damals? Oder wissen wir lediglich mehr, nämlich wie die Geschichte weiterging? Im Augenblick des Geschehens kann niemand die Geschichte des Geschehens selber erzählen. Robert Musil, der im Ersten Weltkrieg Teilnehmer an den so absurden wie barbarischen Dolomitenschlachten war, hielt sarkastisch fest: "So also sieht Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts." // Nur weil wir später dran sind, können wir heute die Geschichte erzählen. Und erzählen heißt ja, einen sinnvollen, plausiblen Zusammenhang zwischen den Fakten und den Ereignissen herzustellen. // Beides ist übrigens wichtig: Wenn die Historiker einerseits penibel und klar Fakten ermitteln und erforschen, Quellen aufsuchen und präsentieren, und wenn sie andererseits Geschichte in Geschichten zu erzählen wissen, die uns Sinn erschließen können durch eine bestimmte Perspektive der Erzählung. Gerade dieses Erzählen kann die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen und auf diese Weise auch ethische und politische Fragen an uns heute stellen. // Dass wir heute vieles genauer sehen können, weil wir später dran sind, das darf uns nicht zu Besserwisserei und Hochmut verleiten. Im Gegenteil: Als kognitive Geschichtsgewinner lernen wir Skepsis und gewinnen die ständige Bereitschaft zur Überprüfung unseres eigenen gegenwärtigen Handelns. Wenn zum Beispiel, wie wir immer wieder feststellen, unsere Vorfahren von Vorurteilen geleitet wurden oder intellektuellen Moden folgten: Mit welchem Recht und mit welcher Sicherheit können wir eigentlich glauben, dass wir nicht selber zeitgeistigen Plausibilitäten oder schlichten Fehlurteilen aufsitzen? Es besteht aber genauso die Gefahr, dass Geschichte ideologisch missbraucht oder instrumentalisiert wird. // Mir ist zum Beispiel in Erinnerung, dass nicht nur Teile der Medien, sondern auch Lehre und Forschung im Westen die Erfahrungen mit der konkreten kommunistischen Herrschaft, die Konstruktion von der Ohnmacht der Vielen und der Übermacht der Wenigen nur unzureichend darzustellen vermochten. // Das gewinnen wir in der Beschäftigung mit der Geschichte: Skepsis und kritisches Bewusstsein. Wenn die Geschichte auch nur selten eindeutige Handlungsoptionen für die Gegenwart bereitstellen kann, die sich aus historischer Erfahrung gleichsam von selber ergeben, so kann sie uns doch vor Selbstgefälligkeit und Unbelehrbarkeit warnen. // Historisch gebildet zu sein, das heißt doch eigentlich: seiner Endlichkeit, seiner Fehlbarkeit und der Offenheit der Geschichte eingedenk zu sein. Wer so historisch reflektiert lebt, der denkt zweimal nach, bevor er handelt, und er bemüht sich, mit Einsicht in das Notwendige zu handeln, mit Rücksicht auf die anderen und mit Hinsicht auf die denkbaren Folgen, auch die sogenannten unwahrscheinlichen. // Eines lernen wir aus der Geschichte auf jeden Fall: Es gibt, und damit sind wir wieder hier, bei Ihrem Thema, es gibt meistens Gewinner und Verlierer. Wir sollten uns nicht lange mit Klagen darüber aufhalten, dass das so ist, sondern fragen: Wie geht der Verlierer mit dem Verlieren, der Gewinner mit dem Gewinnen um? Und auch: Wie verhält sich der Verlierer zum Gewinner und der Gewinner zum Verlierer? // Kommen wir zunächst auf den jungen Mann zurück, der, ohne Zweifel ein Verlierer, schwer geprüft nach Göttingen kommt, wo für ihn, nach all der erlebten Lebensfinsternis, die Sonne scheint. Was macht er hier? Hadert er endlos mit dem unverdienten Schicksal? Sinnt er auf Rache? Reicht es ihm aus, alle Welt seine Verletzungen spüren zu lassen? Nein, so ist es nicht. Er lässt sich ganz auf Neues ein, er ist sehnsüchtig nach neuer Erfahrung, nach Leben, nach Lernen, nach Liebe. Er - und man darf und soll in dem Erzähler Kempowski selber erkennen - er bleibt nicht der Gefangene seiner Vergangenheit. Indem er sie gestaltet, wird er zum Gewinner: Er schreibt die Erinnerungen an seine Gefangenschaft auf, er führt Interviews mit seiner Mutter und mit Verwandten, er sammelt die verlorenen Bücher seiner Kindheit. Er, der schuldlos acht Jahre seines Lebens im Zuchthaus verloren hat, wird später zu einem unermüdlichen Sammler, zum Historiker und Erzähler, zuerst seiner selbst, dann seiner Familiengeschichte, dann der Geschichte der Deutschen in diesem Jahrhundert. // Aus dem Verlierer, aus dem Opfer wird aus eigener innerer Kraft der Schriftsteller Walter Kempowski, der mit dem "Echolot" und der "Deutschen Chronik" ein Werk schafft, das auch international seinesgleichen sucht. Der unter die Räder der Geschichte geraten war, zum Objekt der Mächtigen, hat sich selber zum Schöpfer und zum Subjekt seiner Geschichte und der seines Volkes geschrieben. Sieht so ein Verlierer aus oder - ob zwar gezeichnet und unter die "gebrannten Kinder" zu rechnen - nicht eben doch ein Gewinner? // Was am Beispiel dieses Einzelnen zu zeigen ist, das gilt auch für Nationen, für Völker oder Völkergruppen. Wo steht denn geschrieben, dass Verlierer Verlierer bleiben müssen? Und kommt es nicht tatsächlich alles darauf an, wie im Nachhinein mit der Niederlage umgegangen wird - wie im Übrigen auch mit dem Sieg? // Achten wir beim Nachdenken darüber nicht nur auf bewaffnete Konflikte, sondern auch auf andere Entwicklungen, die von Siegern und Verlierern sprechen lassen. // Da ist zum Beispiel die Geschichte der Industrialisierung. Uns steht einerseits die Rasanz des Fortschritts vor Augen, mit den Eisenbahnen, den großen Fabriken, die allüberall entstehen, den Erfindungen des Funks zum Beispiel, dem Verlegen der ersten Seekabel, und so weiter - und andererseits wissen wir doch alle um die Berichte über das erbärmliche soziale Elend, ob sie nun geschrieben waren von Friedrich Engels über "die Lage der arbeitenden Klasse in England" oder ob es die Protokolle des evangelischen Theologen Johann Hinrich Wichern sind, der über die himmelschreiende Not der Ärmsten in Hamburg berichtete. // Da gab es ohne jeden Zweifel echte Verlierer, und es gab Verlorene und Mühselige und Beladene, Erniedrigte und Beleidigte. Und doch war diese Entwicklungsphase auf lange Sicht ein wichtiger Ausgangspunkt für eine unglaubliche Verbesserung der Lebensumstände für alle, an der viele mitwirkten und die weltgeschichtlich ohne Beispiel ist. Zugespitzt gefragt: Hat ein König um 1800 so leben können wie der durchschnittliche Europäer im Jahre 2014? Nie hat es sich - in diesem Teil der Erde, in dem wir leben dürfen - leichter und angenehmer leben lassen, nie konnten vor allem Krankheit und Armut besser bekämpft werden als heute. Und - schauen wir wieder zurück - durch die sozialistische Arbeiterbewegung, durch christliche Gesellschaftslehre, durch demokratische Parteien und Gewerkschaften haben der Arbeiter und der sogenannte "kleine Mann" Recht, Würde und Stimme bekommen. Ob das Wissen darum, dass das passieren würde, ein Trost gewesen wäre für die damaligen Verlierer der Geschichte, das steht auf einem anderen Blatt, einem Blatt, das ich etwas später gesondert aufschlagen werde. // Gewinner und Verlierer: Manchmal changiert das Bild, der Verlierer sieht wie der Sieger aus oder umgekehrt. // Wir sprechen zum Beispiel in Westeuropa vom Ersten Weltkrieg als der "Urkatastrophe" des Jahrhunderts - und zwar unabhängig davon, ob wir in England oder Frankreich zu den Siegern oder ob wir in Deutschland zu den Verlierern des Krieges gehören. Bei anderen Kriegsteilnehmern aber denkt man ganz anders. // Ich hatte vor kurzem acht Historiker aus acht europäischen Ländern zu einer Diskussionsveranstaltung ins Schloss Bellevue eingeladen. Es ging um die Frage, wie in den verschiedenen Ländern heute an den Ersten Weltkrieg erinnert wird. Dabei wurde vollkommen klar, dass die Polen oder die Tschechen und Slowaken oder auch Serben oder Kroaten, Esten, Letten und Litauer keineswegs von einer Urkatastrophe sprechen, da doch ihre Staaten oder Staatenbünde erst durch den Ersten Weltkrieg und nach dem Zerfall der Großreiche gegründet oder wiedergegründet werden konnten. Die neuen Nationen sind also Gewinner, obwohl die aus ihnen stammenden Soldaten zum Teil oft auf Seiten der Verlierer-Imperien gekämpft hatten. // Und wie geht man mit dem Verlieren um? Nehmen wir unser Land, Deutschland. Der erste Blick nach 1918: Auf der einen Seite spüren die Deutschen damals so etwas wie ein Aufatmen, als mit der Niederlage im November endlich die Republik und die Demokratie kommen. Aber nicht alle haben dieselben Gefühle. Alle aber drücken schwer die Reparationen, die der Versailler Vertrag, der auch von Ressentiment und Rache geprägt war, dem Land auferlegt hat. Und es drückt schwer die als ungerecht empfundene Behauptung, der Alleinschuldige am Krieg gewesen zu sein. Und man glaubt nicht an die Realität der militärischen Niederlage. Man lügt sich das Gegenteil vor und behauptet und tröstet sich mit der Legende: der vom Dolchstoß. // Diese Hypothek, so wissen wir es alle, lastet schwer auf der jungen Republik, bei allem guten Willen und aller aufrichtigen Anstrengung besonnener und überzeugter Demokraten. Zu viele bleiben damals abseits. Trotz "roaring twenties" und großer Aufschwünge in den goldenen Zeiten vergraben sich viele in Gram und hadern verstockt mit dem Schicksal. Andere sind einfach nur verelendet. Die soziale Not der Wirtschaftskrise tut ein Übriges. Rachephantasien wachsen, andere Schuldige werden gesucht und gefunden: mal sind es Juden oder Bolschewisten, für manchen schlicht die Demokratie, die einige Verächter schlicht "das System" schimpfen. Eine Selbstvergewisserung mit klarem Blick für die tatsächlichen Gegebenheiten bleibt größtenteils aus. Von rechts und links wird die schwache Republik angegriffen und verraten. So erobern Hitler und die Nazis ein Land, das nicht mit sich ins Reine gekommen war. // Wie anders geht das Land nach 1945 mit der Niederlage um! Da blieb kein Raum für Lebenslügen wie 1918. Und die, die es versucht haben, sind mit diesem Versuch gescheitert. Militärisch war Deutschland eindeutig besiegt und moralisch, auch nach eigener schmerzhafter Einsicht einiger, später dann vieler seiner Bürger, zutiefst diskreditiert. Weder der Verlust von Gebieten noch Reparationszahlungen führten zu so bedeutenden revanchistischen Kräften, dass sie dauerhaft politisch durchsetzungsfähig gewesen wären. Aber das Land konnte mit der Niederlage auch deshalb anders umgehen, weil es von den Siegern anders behandelt wurde, also schon bald wieder in den Kreis der möglichen, dann der tatsächlichen Partner aufgenommen wurde. Zwar stellen der beginnende Kalte Krieg und die Aufteilung des Landes in zwei Blöcke eine besondere Situation dar, aber zumindest im Westen wurden Chancen geboten, gesehen und ergriffen. // Eine entschiedene Haltung der ausgestreckten Hand seitens der Sieger hat - zunächst für einen Teil unseres Landes - zu einer glücklichen neuen Geschichte geführt. Schon 1944 hatte das Britische Foreign Office für die britischen Soldaten, die nach Deutschland gehen sollten, in diesem Geist einen Leitfaden geschrieben, der noch heute lesenswert ist. Die Haltung lässt sich zusammenfassen in der Aufforderung: Be smart, be firm, be fair. Oder ausführlicher: "Es ist gut für die Deutschen, wenn sie sehen, dass Soldaten der britischen Demokratie gelassen und selbstbewusst sind, dass sie im Umgang mit einer besiegten Nation streng, aber zugleich auch fair und anständig sein können. Die Deutschen müssen selber fair und anständig werden, wenn wir später mit ihnen in Frieden leben wollen." // Ich versage mir an dieser Stelle einen Exkurs darüber, dass die Besiegten der sowjetischen Besatzungszone weder freundliche Sieger noch eine erfreuliche Zukunftsperspektive hatten. Das muss ich auslassen, denn in diesem Falle würde ja der größte Gegner der Historikerzunft, nämlich der Zeitzeuge, auf der Bühne stehen. // Umso größer ist mein Respekt für eine Haltung, die den gegenwärtigen Feind schon als künftigen Partner sieht. Sie verhindert die Perpetuierung von Sieg und Niederlage, von Rache und Vergeltung, und sie wird so einem neuem Krieg oder der Bereitschaft, ihn zu führen, vorbeugen. // Von ähnlicher Art waren im Übrigen die Friedensschlüsse von Münster und Osnabrück, die 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendeten und auch die Friedensordnung des Wiener Kongresses 1815, also vor bald genau 200 Jahren. Man ersparte sich das Aufrechnen, auch die moralische Verurteilung des Feindes. So schuf man, im Gegensatz zu Versailles, eine Friedensordnung, die fast 100 Jahre hielt. Allerdings gab es auch hier neue Verlierer, nun waren sie im Innern der Staaten. Denn die neue Internationale der Fürstenhäuser, die in weiten Teilen die alte geblieben war, sicherte ihren Frieden auch gegen die freiheitlichen Bestrebungen ihrer eigenen Bürger. Ich bin dankbar, dass vorhin die Göttinger Sieben erwähnt wurden - anderer Zeitzusammenhang, aber dasselbe Problem. // Ein anderes Beispiel: Nach 1945 konnte eine Gruppe aus unserer Bevölkerung, die sich nach dem jüngsten Krieg ganz besonders als Verlierer fühlen musste, die Chance ergreifen, zu Gewinnern zu werden. Ich spreche von den Flüchtlingen und Vertriebenen, die zu Millionen ihre Heimat, Haus und Hof, also praktisch alles verloren hatten. Sie hatten eine fundamentale Erfahrung gemacht: Was ihnen blieb, war nur ihr Können, ihre handwerklichen Fähigkeiten, ihr Fleiß, ihr Glaube, ihre Bildung. "Was du gelernt hast, kann dir keiner nehmen!" Diese Erfahrung wurde damals in vielen Familien weitergegeben. Und überdurchschnittlich viele von ihnen haben in der Nachkriegszeit weit überdurchschnittliche Bildungsabschlüsse erzielt. Vieltausendfach sind hier Aufstiegsgeschichten zu erzählen, führte die persönliche Entfaltung sozusagen auf die Gewinnerstraße. // Dennoch, wir wissen es, konnten oder wollten manche den unwiederbringlichen Verlust ihrer Heimat und das erlittene Unrecht nicht akzeptieren. Andere, viele aber, fühlten sich einer besseren Zukunft in neuer Heimat verpflichtet und wurden so zu Wegbereitern der Verständigung mit unseren östlichen Nachbarn - und so noch einmal zu Gewinnern für unser Land. // Von Gewinnern und Verlierern hat man auch im Zuge der deutschen Wiedervereinigung gesprochen. Ich kann das nur sehr bedingt nachvollziehen. Wo für alle Freiheit anbricht, wo für alle Freizügigkeit, Recht und demokratische Mitwirkung ermöglicht werden, wo für alle die Chancen eröffnet werden, sich frei zu entfalten, da kann doch vom Verlieren eigentlich nur reden, wer Privilegien eines Unrechtsstaates genossen hat. // Aber schauen wir genauer hin: Es existieren zweierlei Verlusterfahrungen. Neben der politisch gewollten Ablösung der politischen Eliten und ihres sehr kleinen Herrschaftszentrums musste eine sehr große Zahl Beschäftigter in Funktionseliten der öffentlichen Verwaltungen, des Parteiapparates, von Polizei, Militär und Geheimpolizei in eine unsichere Zukunft überwechseln. Dabei ist weniger der Verlust an materieller Sicherheit als der Verlust einer sich über zwei Generationen herausgebildeten Rollensicherheit von Bedeutung für die Lebensgefühle der Betroffenen. // Und auch wer sich als unpolitischer Zeitgenosse an die Defizite mit der Zeit gewöhnt hatte - und es gab eine ganze Sammlung von Defiziten -, wer sich privat in den berühmten "Nischen" ein lebbares Leben errichtet hatte, war dann, als sich alles änderte, häufig überfordert vom neuen System, reagierte also, wenn nicht mit Ablehnung des Neuen, so doch mit starken Fremdheitsgefühlen - und das besonders natürlich, wenn man seine Arbeit verloren hatte und das Gefühl hatte, nicht mehr wirklich gebraucht zu werden. Aber alles in allem sind die Deutschen und insbesondere die Ostdeutschen insgesamt Gewinner der Vereinigung. // In der Dialektik der Gewinner- und Verlierergeschichte werden immer wieder, wenn wir genauer hinschauen und etwas tiefer blicken, zwei Muster offenbar, die zu den grundlegenden abendländischen Erlebnis- und Erzählmustern gehören und die bis heute prägend sind. Sie haben beide eine religiöse, genauer, eine christliche Wurzel. // Da ist einmal die Geschichte des absoluten Verlierers, der, selber gewaltlos und friedlich, unschuldig verhaftet und sogar hingerichtet wird. Von den religiösen und staatlichen Autoritäten vernichtet. Seine Anhänger verzagt, verstreut, verloren. Doch wenig später entsteht in ihrem Kreis die Botschaft, er sei von den Toten auferweckt worden, also von Gott selber gerechtfertigt, von der höchsten Instanz. In dieser mythosgleichen Geschichte des Jesus aus Nazareth findet der denkbar größte Umschlag von Niederlage in Sieg statt. // Und diese Geschichte, sie trat nun selber einen Siegeszug an: erzählt zunächst von einer kleinen, verfolgten Verlierersekte, erobert sie Schritt für Schritt das römische Weltreich. Es war diese Geschichte und die mit ihr begründete Praxis der Nächstenliebe zu den Verlierern und Verlorenen, die ohne Gewalt, ohne politische Tricks, ohne strategische Planung plötzlich gegen alle anderen Geschichten gewann. Dass das unschuldige Leiden nicht vergeblich erlitten wurde, dass es einen Sinn hat und Rechtfertigung erfährt, das war eine Hoffnung, der sich Menschen seither gerne hingaben und hingeben. // Das andere, korrespondierende Muster der Geschichte vom Verlieren und doch Gewinnen, handelt vom selbst verschuldeten Leid. Diese individuelle Schuld- und Leidenserfahrung kann zu Einsicht, Reifung, dann zu Versöhnung und zu neuem Anfang führen - auch für sie gibt es eine Geschichte in der Bibel, etwa die, die vom verlorenen Sohn handelt. // Ob selbstverschuldet oder schuldlos erlitten: Leid muss nicht sinnlos sein, es kann zu Läuterung, Besinnung, neuem Selbstvertrauen führen. Bis heute lieben wir deshalb Geschichten, ob in Büchern oder Filmen, ob in der Oper oder im Theater, in denen die Helden ein schweres Schicksal erleiden, daran fast endgültig zu zerbrechen drohen und zu scheitern drohen, dann aber, vielleicht geläutert, vielleicht mit neuer Kraft und Stärke, alle Widrigkeiten besiegen und gleichsam wieder auferstehen, aufstehen. // An diese Erzähl- und Erlebnismuster muss ich denken, wenn ich mir und uns die Frage stelle: Was ist nun mit den Opfern, die keine neue Zukunft mehr hatten, was ist mit den wirklichen und endgültigen Verlierern, den Verlierern der Geschichte, die nicht erhöht wurden, die keine Chance zu einer Läuterung bekamen und denen jeder Triumph versagt blieb? Mit den Opfern von Völkermord und Holocaust, von Krieg, was ist mit den Opfern von Naturkatastrophen, Hungersnöten, Epidemien? Mit den unschuldig leidenden Kindern? Was ist mit denen, die ein metaphysischer Trost nicht erreicht, denen die gerade zitierten Geschichten von Tod und Auferstehung fremd oder unglaubwürdig, jedenfalls nicht zugänglich sind? // Hierauf, das weiß ich, können Historiker, aus ihrem Beruf heraus jedenfalls, keine Antwort geben. Die Frage nach dem Sinn von Leid, nach dem Sinn oder der Rechtfertigung von jedem einzelnen Leidenden, jedem einzelnen Opfer, sie kann nicht historisch beantwortet werden. // Aber diese Frage könnte nach meinem Verständnis doch die Geschichtsschreibung durchaus begleiten. Auch wenn die Geschichte, wie man sagt, von den Siegern geschrieben wird, ist doch immer auch die Geschichte der Marginalisierten zu erzählen, der Unterdrückten, der Geschlagenen. Und das geschieht doch auch schon. Es gibt doch schon einen erprobten Perspektivenwechsel. // Geschichtsschreibung kann ihnen keinen Sinn zusprechen, aber Geschichtsschreibung kann ihnen ihre Würde lassen, diesen Opfern, über die wir eben gesprochen haben. Sie kann ihnen ihre Würde lassen oder wiedergeben, wenn sie ihre Stimmen zu Wort kommen lässt oder wenn sie die zum Schweigen Gebrachten in Forschung und Lehre in die Erinnerung einbringt - und in der Schule. // Hier, im Gedächtnis des Leids, liegt jene "gefährliche Erinnerung", wie der Theologe Johann Baptist Metz es nannte und von der er oft so eindringlich gesprochen hat, die wir wieder brauchen, damit sie uns immer wieder beunruhigt und aus jeder Selbstgenügsamkeit aufrüttelt. Er, Metz, formulierte vor nun 40 Jahren für die Synode der deutschen Katholiken die folgenden bewegenden Sätze: "Die vergangenen Leiden zu vergessen und zu verdrängen, hieße uns der Sinnlosigkeit dieser Leiden widerspruchslos zu ergeben. Schließlich macht auch kein Glück der Enkel das Leid der Väter wieder gut, und kein sozialer Fortschritt versöhnt die Ungerechtigkeit, die den Toten widerfahren ist. Wenn wir uns zu lange der Sinnlosigkeit des Todes und der Gleichgültigkeit gegenüber den Toten unterwerfen, werden wir am Ende auch für die Lebenden nur noch banale Versprechen parat haben." // Erinnerung in diesem starken Sinne ist die Erinnerung daran, dass auch unsere Existenz sich dem Opfer anderer, vor uns Lebender verdankt, das nicht vergeblich gewesen sein soll und nicht vergeblich gewesen sein darf. Und dass wir in unserem Leben dazu aufgerufen sind, Leid nach Möglichkeit zu verhindern, Menschen, so es an uns liegt, nicht zu Opfern werden zu lassen. Das kann durch Unterlassen des Bösen geschehen oder durch Tun des Guten. // Etwas liegt mir zum Schluss noch am Herzen, es hat auch mit Gewinnen und Verlieren zu tun. Manchmal frage ich mich, ob die Geschichte nicht dabei ist, über die Gegenwart und über die Zukunft zu siegen. Hat man noch vor nicht allzu langer Zeit anklagend von der" Geschichtslosigkeit" und "Geschichtsvergessenheit" der Gegenwart gesprochen, so scheint mir heute geradezu das Gegenteil zuzutreffen. Unaufhörlich, so sieht es aus, sind wir mit der Geschichte, mit Jubiläen, Gedenktagen, Erinnerungen, Denkmälern oder Denkmalplanungen konfrontiert. Wo ist nur die Zukunft hin? // Oft haben wir den Eindruck, die Zukunft, sie käme sozusagen von allein, und zwar mit rasender Geschwindigkeit, sie sei im Grunde das Werk einiger weniger Ingenieure, Softwarefirmen, Investoren und vielleicht auch noch von Politikern. Dazu kommt das Gefühl: Die Welt ist heute so komplex geworden, dass die Folgen vieler Entscheidungen nicht mehr abzusehen sind. Die gegenwärtigen Krisen tun ein Übriges, um uns ratlos zu machen und viele von uns zu lähmen. // Aber die Zukunft, sie kommt nicht von selbst, früher nicht und heute nicht. Wenn wir uns auch daraufhin einmal die Geschichte anschauen, dann sehen wir, dass - jenseits aller Zufälle und unbeabsichtigten Wechselwirkungen - das meiste bewusst von Menschen gemacht, von Menschen bewirkt worden ist - oder auch von Menschen verhindert. Wer die Hand in den Schoß legt und glaubt, die Zukunft würden schon andere für ihn gestalten, der macht sich selber schnell zum Opfer und wird sehr schnell auf eine ungute Verliererstraße geraten. // Alles, was wir heute so intensiv genießen, Frieden, Freiheit, unseren Wohlstand - was Menschen in so vielen Teilen der Welt so bitter fehlt - ist das mühsam genug erreichte Werk von Menschen. Und es ist zerbrechlich und endlich, wie alles Menschenwerk. Es muss verteidigt, erneuert, wo nötig, neu errungen werden. Es gibt kein Ende der Geschichte. // Wenn die Geschichte keinen Schluss kennt, dann gilt aber auch, dass es nie zu spät ist, gegenwärtiges Leid und Unglück zu wenden. Dann ist Hoffnung sinnvoll, dann kann uns Hoffnung zu entschiedenem Handeln motivieren. // Wir haben es zu einem großen Teil selber in der Hand, ob wir uns im Spiel dieser Welt als Gewinner oder als Verlierer beschreiben können. Wenn die Geschichte auch oft als Lehrmeisterin wenig brauchbar ist: Gute und ermutigende Beispiele, wie aus vermeintlichen Verlierern durch eigenen Mut und eigene Tatkraft, aber auch durch solidarisches Handeln, Gewinner werden können, die gibt es in Fülle. // Meine eigene Lebenserfahrung - und nun meldet sich doch der Zeitzeuge - sie lehrt mich, dass es nicht umsonst ist, sich stark zu machen für eine andere, bessere Zukunft, für eine Veränderung der Verhältnisse. Sicher, so etwas wie die Friedliche Revolution 1989 in Mittelosteuropa und der DDR - so etwas geschieht nicht alle Tage. Aber was wir dort erlebt haben, das bleibt ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass Geschichte selbst in Situationen, die unabänderlich erscheinen, beeinflussbar und gestaltbar ist. // Wir haben es, zu einem Teil wenigstens, auch in der Hand, dass das Spiel dieser Welt weniger Verlierer und mehr Gewinner haben kann. Es liegt auch an uns, ob wir auf Kosten anderer siegen wollen oder ob wir dafür sorgen, dass möglichst viele zu Gewinnern werden. Es liegt auch an uns, dass Verlierer eine neue und gerechte Chance bekommen. Es gehört zu der Verantwortung, zu der unser Land sich in Wort und Tat bekennen muss und bekannt hat, dass Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, in welch mühsamen und kleinen Schritten auch immer, auch und gerade durch unseren Beitrag wachsen mögen. // Die Geschichte gibt uns kein unfehlbares Wissen darüber, was in einer gegebenen Situation richtig ist. Aber wir können aus der historischen Erfahrung ganz gewiss eine Überzeugung gewinnen: Wer sich für Freiheit und Menschenwürde eingesetzt hat, für das Recht und die Gerechtigkeit, für Anstand, für Menschlichkeit, der mag vielleicht eine Zeit lang auf der verlorenen Seite gewesen sein - auf der falschen war er nicht.
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Joachim Gauck
Fast 40 Jahre ist es jetzt her, dass Willy Brandt Bundeskanzler war, mehr als 20 Jahre ist er nun nicht mehr unter uns. // Und doch fällt es mir schwer, in der Vergangenheitsform über ihn zu reden. Ich spreche sicher vielen aus dem Herzen, wenn ich sage: Willy Brandt ist noch immer gegenwärtig - mit allem, was er verkörpert: mit seiner Liebe zur Freiheit, mit seinem Streben nach Frieden und Gerechtigkeit, mit seiner Überzeugung, dass jede Zeit eigene Antworten will und dass wir selbst die Welt verändern müssen. // Wie sehr wirkt er damit nach, wie sehr fordert er uns alle damit heute heraus! // Die eine große Sehnsucht seines Politikerlebens, für die er so lange gekämpft hatte, als Berliner Bürgermeister, als Außenminister und Bundeskanzler - die Sehnsucht, es möge zusammenwachsen, was zusammengehört. Sie nahm noch zu seinen Lebzeiten reale Gestalt an. Gerechter Dank der Geschichte für einen, der furchtlos, geschickt und pragmatisch nach Wegen gesucht hat, wo andere nur Mauern sahen! Vor kurzem habe ich in alten Unterlagen vier handgeschriebene Blätter gefunden: meine Begrüßungsrede für Willy Brandt, der am 6. Dezember 1989 zu uns in die Marienkirche nach Rostock kam. Da war Willy Brandt schon viele Jahre ohne Staatsamt - und doch derjenige, auf den sich ganz selbstverständlich unsere Blicke richteten, weil er verkörperte, wonach wir uns sehnten. "Da begegnen wir uns nun: wir, das Volk, und Sie, der große Politiker", habe ich damals gesagt. Und: "Ihr Wort ist uns wichtig". So ist es auch heute noch - im Präsens! // Darum ist Willy Brandts 100. Geburtstag Gelegenheit zur Rückschau auf ein Jahrhundert voller Schrecken und Aufbrüche und auf das, was sich - auch ihm sei Dank - zum Guten gewandelt hat. Es ist zugleich eine gute Gelegenheit, vorauszuschauen auf das, was vor uns liegt und was Willy Brandt uns für die Zukunft aufgetragen oder doch nahegelegt hat. // So manches, was Willy Brandt in früheren Zeiten entgegenschlug, ist heute jungen Leuten kaum noch verständlich zu machen: dass einer, der den nationalsozialistischen Ungeist bekämpfen half, noch Jahrzehnte nach dem Ende des Hitlerregimes bei vielen als "Vaterlandsverräter" galt und sich fragen lassen musste, was er im Exil eigentlich gemacht habe. Unglaublich, heute, dass sein Kniefall in Warschau - diese Geste der Trauer und der Überwältigung, die auch kommende Generationen noch kennen werden - dass diese Geste vielen seiner Landsleute damals übertrieben erschien. Und später, viel später dann die Pfiffe von Unbelehrbaren vor dem Schöneberger Rathaus, als Willy Brandt mit Helmut Kohl und anderen am 10. November 1989 die Maueröffnung feierte - wie unverständlich, von heute aus betrachtet! // Heute können wir wieder ohne Nationalismusverdacht unsere Nationalhymne singen - auch das ist ein wenig Willy Brandts Verdienst. Viele konnten dank seiner wieder "ja" sagen zu unserem Land. 1972 hieß ein SPD-Wahlslogan: "Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land." So schlecht konnte dieses Land doch gar nicht sein, wenn einer wie er es trotz allem liebte! Vor allem aber hat er, der "andere Deutsche", der Europäer und Weltbürger, im Ausland glaubwürdig und zugleich selbstbewusst für neues Vertrauen geworben. // Inzwischen sind wir wieder ein "Volk der guten Nachbarn". Wir wissen um die Abgründe der deutschen Geschichte. Verantwortung für diese Geschichte zu übernehmen - so hatte es Willy Brandt schon früh gesehen - bedeutet nicht, Enthaltsamkeit zu üben in gegenwärtigen Konflikten. Im Gegenteil: Aus der Einsicht in das Vergangene erwuchs für ihn die Verantwortung für die Probleme und die Chancen der Gegenwart. 1973 erklärte er als erster deutscher Bundeskanzler vor der UN-Generalversammlung: "Wir sind [ ] gekommen, um - auf der Grundlage unserer Überzeugungen und im Rahmen unserer Möglichkeiten - weltpolitische Verantwortung zu übernehmen." Vor 40 Jahren war das, wohlgemerkt! Heute ist unserem vereinten Deutschland ungleich größere Verantwortung zugewachsen. Wir sind gut beraten, sie unseren Überzeugungen und Möglichkeiten entsprechend anzunehmen. // Von Willy Brandts Haltung in Konflikten lernen heißt: geduldig sein, Vertrauen schaffen und scheinbar unerbittliche Gegner einander schrittweise annähern. Wir sind ja manchmal geneigt zu vergessen, wie aktuell etwa die Bedrohung durch Nuklearwaffen ist, auch weit nach dem Ende des Kalten Krieges. Den gemeinsamen Aktionsplan zwischen Iran, den fünf UN-Vetomächten und Deutschland könnte man - bei aller gebotenen Vorsicht - als einen der hoffnungsvollsten Anfänge der vergangenen Jahre bezeichnen. // In vielem, was Willy Brandt sehr früh schon bewegte, sind wir auch heute noch lange nicht angekommen. Beispiel Entwicklungspolitik: Tatsächlich lebt nach wie vor ein größerer Teil der Weltbevölkerung in Armut. Beispiel Klimawandel und Umweltverschmutzung: Sie abzubremsen ist dringlicher denn je - die Folgen gerade für die Verletzlichsten erkannte Brandt als einer der ersten. Beispiel Zusammenleben der Verschiedenen: Schon früh sprach er vom "Recht der Ebenbürtigkeit, der Gleichheit und der guten Nachbarschaft" als Grundlage des Miteinanders. Ich bin mir sicher, Willy Brandt hätte auch heute viel zu sagen über das, was wir so sperrig "Integration" nennen und was doch so viel mit der Anerkennung von Unterschieden und dem Streben nach dem Gemeinsamen zu tun hat. Und er, der politische Emigrant, würde gewiss auch Partei ergreifen für die, die heute fliehen vor Unterdrückung und Gewalt. Wir wollen nicht vergessen, dass Willy Brandt, der von den Nationalsozialisten Ausgebürgerte, damals in Norwegen aufgenommen und eingebürgert wurde! Tusen takk! Ich bin gespannt, was Sie, sehr geehrter Herr Gahr Støre, und Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, uns gleich über Willy Brandts Wirken berichten werden. // Ich kann nur jedem, der es noch nicht getan hat, wärmstens empfehlen, in den Briefen, Notizen, Tagebuchaufzeichnungen, Redemanuskripten und Memoranden der "Berliner Ausgabe" zu blättern - ich habe das Glück, die zehn Bände griffbereit in meinem Amtszimmer stehen zu haben. Willy Brandt hat immer wieder Worte gefunden für das, was andere bewegte. Und er hat andere mit seinen Worten bewegt. Als Berliner Bürgermeister in den Tagen des Mauerbaus: "Wir fürchten uns nicht!" Als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler: "Wir wollen mehr Demokratie wagen!". Oder, am Ende seines Lebens: "Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum - besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll." // So soll Willy Brandt uns noch heute prägen und ermutigen: mit seiner Haltung zu seinem Land, über das er weiter hinausblickte als die allermeisten, das er liebte mit all seinen Schwächen und zugleich verbessern wollte, und zwar durch praktische Politik, die sich im Alltag bewähren sollte, um das Leben der Menschen besser zu machen. Er hatte Träume. Aber er gab nicht vor, das Ziel der Politik ein für alle Mal zu kennen. Er sah das Offene, das Unfertige. Manchmal, so meinte er, gebe es keine Lösung. Doch handlungsfähig sind wir nicht erst dann, wenn wir das Ende einer Entwicklung benennen können. Wir sind es bereits, wenn wir darum ringen, das zu verändern, was in unserer Macht und unseren Möglichkeiten liegt, auch wenn es sich nur um das etwas Bessere handelt. Immer warb er dafür, dass sich heute für Veränderungen einsetzen muss, wer morgen besser leben will. // Wir ehren Willy Brandt darum nicht allein für das, was er getan hat, sondern auch für das, wozu er andere motiviert hat. Sein ganzes politisches Leben war eine Einladung zum Mitgestalten und Weiterdenken - übrigens auch dazu, sich nicht zufrieden zu geben mit einer alles andere ausschließenden Wahrheit, an die er, Willy Brandt, nicht mehr glauben konnte, wie er sagte: "Ich glaube an die Vielfalt und also an den Zweifel". Den produktiven Zweifel auszuhalten, ohne ihn als dominierende Lebensform zu kultivieren, auch dazu kann uns Willy Brandt motivieren. // In einer der vielen Fernsehrunden rund um den Geburtstag hat eine junge SPD-Genossin bekannt, sie fühle sich Willy Brandt zwar nicht als Person nahe, wohl aber in dem, was sie tue. Das hätte ihn gefreut. // Es hätte ihn auch gefreut zu sehen, wie viele hier zusammengekommen sind, um "danke" zu sagen, aus allen Teilen unserer Gesellschaft, aus seiner zweiten Heimat Norwegen und anderen Ländern, denen er verbunden war. Er hätte den Dank vielleicht mit dem bescheidenen Satz quittiert, den er sich angeblich einmal - mit feiner Selbstironie - als Inschrift auf seinem Grabstein wünschte: "Man hat sich bemüht". Nehmen wir sein Vermächtnis an. Es heißt: Seid nicht gleichgültig! Setzt Euch auseinander und ringt um die bessere, nicht die nächstbeste Lösung! Erkennt, was Ihr verändern und verbessern könnt. Sagt "ja" zu unserem Land, zu unseren Aufgaben und Möglichkeiten! Und habt Mut, Geduld und Zuversicht.
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Joachim Gauck
Übermorgen ist es siebzig Jahre her, dass der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging - jener mörderische Schrecken, der von Deutschland ausgegangen war. // Der Krieg ging endlich zu Ende, der unseren Kontinent verwüstete, in dem die Juden Europas ermordet wurden, in dessen Verlauf Millionen von Soldaten und Zivilisten starben, in dessen Folge in vielen Ländern Millionen aus ihrer Heimat vertrieben wurden, als dessen Ergebnis Europa, mitten darin Deutschland, ein halbes Jahrhundert geteilt war. // Dieser Krieg endete erst, als die westlichen Alliierten und die Sowjetunion gemeinsam Deutschland zur Kapitulation gezwungen hatten und uns Deutsche damit auch von der Nazi-Diktatur befreiten. Wir Nachgeborenen in Deutschland haben allen Grund, für diesen aufopferungsvollen Kampf unserer ehemaligen Gegner in Ost und West dankbar zu sein. Er hat es möglich gemacht, dass wir in Deutschland heute in Freiheit und Würde leben können. Wer wäre nicht dankbar dafür? // Hier in Schloß Holte-Stukenbrock erinnern wir in dieser Stunde an eines der größten Verbrechen in diesem Krieg: Millionen von Soldaten der Roten Armee sind in deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben gebracht worden - sie gingen an Krankheiten elendig zugrunde, sie verhungerten, sie wurden ermordet. Millionen von Kriegsgefangenen, die doch nach Kriegsvölkerrecht und internationalen Verabredungen in der Obhut der Deutschen Wehrmacht standen. // Sie wurden auf lange Fußmärsche gezwungen, in offenen Güterwagen verschickt, sie kamen in sogenannte Auffang- oder Sammellager, in denen es anfangs so gut wie nichts gab - keine Unterkunft, keine ausreichende Verpflegung, keine sanitären Anlagen, keine medizinische Betreuung -, nichts. Sie mussten sich Erdlöcher graben, sich notdürftig Baracken bauen - sie versuchten verzweifelt, irgendwie zu überleben. Dann wurden sie in großer Zahl zum Arbeitseinsatz gezwungen, den sie, geschwächt und ausgehungert, wie sie waren, oft nicht zu überleben vermochten. // Wenige hundert Meter von hier war das Kriegsgefangenenlager "Stalag 326 Senne". Mehr als 310.000 Kriegsgefangene waren hier. Sehr viele von ihnen sind umgekommen, Zehntausende sind hier begraben. // Was sagen Zahlen? Wenig - und doch, sie geben Auskunft, sie geben uns zumindest eine Vorstellung von dem Schrecken und von der unbarmherzigen Behandlung, die die Sowjetsoldaten in deutscher Gefangenschaft erlitten haben. Wir müssen heute davon ausgehen, dass von über 5,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen deutlich mehr als die Hälfte umkam. Millionen Schicksale, Millionen Namen, Millionen Lebensgeschichten. Es waren Russen, Ukrainer, Weißrussen, Kirgisen, Georgier, Usbeken, Kasachen, Turkmenen - Soldaten aus allen Völkern, die damals zur Sowjetunion gehörten. // Wenn wir betrachten, was mit den westalliierten Kriegsgefangenen geschah, von denen etwa drei Prozent in der Gefangenschaft umkamen, dann sehen wir den gewaltigen Unterschied: Anders als im Westen war der Krieg im Osten vom nationalsozialistischen Regime von Anfang an als ein Weltanschauungs- und Vernichtungs- und Ausrottungskrieg geplant - und in der Regel auch geführt, denken wir zum Beispiel an diese schreckliche jahrelange Belagerung Leningrads mit dem Ziel des Aushungerns einer Millionenstadt. Denken wir an die Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung in allen besetzten Ländern, ganz besonders aber in der Sowjetunion. Das geschah bewusst und vorsätzlich und auf ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers. Die Wehrmacht setzte diese Befehle bereitwillig um. Es war der Generalstabschef Halder, der im Mai 1941 formulierte: "Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad". Dementsprechend sollten die Gefangenen behandelt werden, und das ist bei den Völkern der ehemaligen Sowjetunion bis heute in unauslöschlicher Erinnerung. // Als die Sowjetunion sich ganz zu Beginn des Krieges bereit erklärt hatte, über das Rote Kreuz mit dem Deutschen Reich eine Vereinbarung über die Behandlung der Kriegsgefangenen zu schließen, da lehnte Hitler das brüsk ab - und er sorgte dafür, dass seine Ablehnung in Millionen von Flugblättern auch seinen Soldaten bekannt wurde. Denn er hatte ein Ziel, und es war eindeutig: Kein deutscher Soldat sollte glauben, dass er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft überhaupt überleben könnte. Alle sollten bis zum letzten Atemzug kämpfen und sich auf keinen Fall ergeben. Das Schicksal derjenigen seiner Soldaten, die dann doch gefangen wurden, war dem Obersten Befehlshaber vollkommen gleichgültig. // Nun schauen wir auf die andere Seite. Auf der anderen Seite dekretierte Stalin: Wenn ein sowjetischer Soldat gefangen werde, habe er nicht bis zuletzt gekämpft, konnte gleichsam also nur desertiert sein, also irgendwie ein Verrätersein. Deswegen erwarteten bei Kriegsende sehr viele in die Heimat entlassene sowjetische Kriegsgefangene erneute Lagerhaft, oft sogar der Tod. Wir können nur ahnen, wie viele Mütter, wie viele Ehefrauen, wie viele Bräute, wie viele Kinder noch nach Kriegsende vergeblich gewartet haben; und auch wie schwer es für sie war, damals dieser ihrer Toten zu gedenken. // Als Deutsche fragen wir uns aber zuerst nach deutscher Schuld und Verantwortung. Und für uns bleibt festzuhalten, dass der millionenfache Tod derer, die unter der Verantwortung der Deutschen Wehrmacht starben, "eines der größten deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs" gewesen ist. Viele wollten das nach dem Krieg noch sehr lange Zeit nicht wahrhaben. Aber spätestens heute wissen wir: Auch die Wehrmacht hat sich schwerer und schwerster Verbrechen schuldig gemacht. // Aus mancherlei Gründen ist dieses grauenhafte Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein gekommen - es liegt bis heute in einem Erinnerungsschatten. Das mag damit zu tun haben, dass die Deutschen in den ersten Jahren nach dem Krieg vor allem an ihre eigenen Gefallenen und Vermissten gedacht haben, auch an die Kriegsgefangenen, die zum Teil noch bis 1955 in der Sowjetunion festgehalten wurden. // Das mag sicher auch daran liegen, dass die Schreckensbilder von der Eroberung des deutschen Ostens durch die Rote Armee vielen Deutschen den Blick auf die eigene Schuld verstellten. Diejenigen, die wegschauen und sich nicht erinnern wollten, sahen sich dann zudem später durch die Besatzungs- und Expansionspolitik der Sowjetunion und durch die Errichtung einer kommunistischen Diktatur mit Rechtsferne, Unfreiheit und Unterdrückung in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands bestätigt. In der DDR wurde zwar die Erinnerung an das heldenhafte sowjetische Brudervolk groß geschrieben, aber der amtlich verordnete Heldenmythos ließ auf der anderen Seite wenig Raum für die Empathie mit denjenigen, die als Kriegsgefangene in Deutschland keine strahlenden Sieger waren, sondern Opfer, Entrechtete, Geschlagene. // In späteren Jahren haben in Westdeutschland und auch im wiedervereinigten Deutschland die Erinnerung an den Völkermord an den Juden und die beginnende Scham darüber die Auseinandersetzung mit anderen Verbrechen einfach überlagert. // Dabei sind doch die Verbrechen des Nationalsozialismus zutiefst miteinander verbunden. Sie haben alle dieselbe Wurzel: Sie stammen aus der Vorstellung, dass auch unter Menschen nur das Recht des Stärkeren gelte, und dass der Stärkere das Recht habe, über das Lebensrecht der Anderen zu entscheiden, über Wert, über Unwert ihres Lebens. So wurden die Juden, wie die Sinti und Roma ausgesondert, gedemütigt, ermordet, dann die Behinderten oder Homosexuellen. So wurden dann auch die Völker im Osten als "minderwertig" diffamiert, weswegen man mit ihnen ohne Rücksicht auf Humanität und Menschenrechte, auch ohne Rücksicht auf die Regeln des Völker- und Kriegsrechts verfahren dürfe. // Im Protokoll der Besichtigung eines Kriegsgefangenenlagers durch Propagandaminister Goebbels hält ein Regierungsbeamter fest: // "Der Zweck der Fahrt sollte sein, [ ] einmal die in den Wochenschauen gezeigten Untermenschen in Natur vorzuführen. [ ] // Die Fahrt brachte insofern nicht das gewünschte Ergebnis, als die Gefangenen fast durchweg Weißrussen waren und daher durchschnittlich ein durchaus menschliches Aussehen hatten. [ ] // Sie bekommen außerordentlich wenig Beköstigung und haben Tag und Nacht keinerlei Schutz vor dem Wetter. Meines Erachtens werden diese Gefangenen sowieso hinter ihrem Drahtzaun verrecken. [ ]" // Hybris, Allmachtswahn, Herrenmenschentum, Zynismus, das sind die Kennzeichen nationalsozialistischer Ideologie und eben auch nationalsozialistischer verbrecherischer Praxis. // Erschütternd ist immer noch, wenn wir sehen, in wie kurzer Zeit ganz normale Männer und Frauen, einmal mit dieser Ideologie vergiftet, zu Komplizen der Unterdrückungspraxis gemacht werden und manche sogar zu unbarmherzigen Menschenschindern und Mördern werden konnten. // Wir stehen hier und erinnern an dieses barbarische Unrecht und an die Verletzung aller zivilisatorischer Regeln. Wir erinnern daran im Namen der Humanität, im Namen der Gleichheit und der Würde, die unterschiedslos allem zukommt, was Menschenantlitz trägt. Im Namen der Menschenrechte, die uns verpflichten, die uns binden und leiten und für deren Geltung wir eintreten, stehen wir hier. // Wir sind an einer Stätte versammelt, an der auf den ersten Blick kaum etwas das Ausmaß dessen erkennen lässt, weswegen wir hier sind. Gedenksteine markieren Gräberreihen, die längst von Gras bewachsen sind. Es scheint so, als habe die vergangene Zeit fast jede sichtbare und fühlbare Erinnerung an das ausgelöscht, was hier einst Menschen Menschen angetan haben. // So wie wir hier in Schloß Holte-Stukenbrock unsere Erinnerung und unser historisches Gedächtnis anstrengen müssen, damit wir auf dieser Grasfläche einen Schreckensort für hunderttausende Menschen erkennen können, so geht es uns wohl überhaupt mit dem Eingedenken vergangenen Leids: Was spurlos verwehen sollte, das rufen wir in unser Gedächtnis. Wenigstens vor unserem inneren Auge soll in Umrissen noch einmal aufscheinen, was hier furchtbare Wirklichkeit war, was uns durch Fotos, Statistiken, Karteikarten, Erzählungen, Augenzeugenberichte unabweisbar und unwiderlegbar sagt: Das ist hier geschehen, mitten in Deutschland. Und es ist ja nicht irgendwie"geschehen". Es wurde "gemacht", es wurde "verübt", planmäßig und mit bösem Kalkül und ewig unfassbar. Von Menschen, mit denen wir Sprache, Herkunft und Nationalität teilen, von Menschen, deren Verbrechen heute Teil unserer Geschichte sind. // Wir müssen unseren Willen anstrengen, um die Wahrheit auszuhalten, um nicht immer unwillkürlich zu denken: Das kann doch unmöglich wahr sein - das, was hier im "Stalag 326" und an hunderten von anderen, über ganz Deutschland verteilten Orten menschenmöglich war -, und was hier aber doch tatsächlich stattgefunden hat. // Wir müssen aber nicht nur unseren Verstand anstrengen, nicht nur unser Vorstellungsvermögen aktivieren und unsere historischen Kenntnisse erweitern. Wir müssen - zuerst und zuletzt - auch unser Herz und unsere Seele öffnen für das, was wir kaum glauben wollen. Es geht um eine wirkliche Empathie, ein wirklich bewegendes, unser Inneres, unser Herz, unsere Seele bewegendes Gedenken. // Ich danke heute ganz ausdrücklich allen dafür, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten für ein solches immer neues Bewusstmachen und Einfühlen eingesetzt haben. Es waren ehrenamtlich Engagierte, die Spuren ausfindig gemacht und Erinnerung wachgehalten haben. // Damit diese Erinnerung nicht verwelkt, darum gab und gibt es die Initiative "Blumen für Stukenbrock", darum gibt es jetzt, dank unermüdlicher, überwiegend ehrenamtlicher Initiative die Dokumentationsstätte. Es gibt einen vorbildlich engagierten Förderverein, kundige Führungen und Ausstellungen. Angehörige von Opfern, die von weit her kommen und nach Spuren der Erinnerung an ihre Väter oder Großväter suchen, sie werden liebevoll betreut und begleitet. // Einer, der selber als Gefangener hier war, Leo Frankfurt, ist heute hier und wird gleich noch zu uns sprechen. Es bewegt mich sehr, dass Sie hier sind, Herr Frankfurt. Es ist so etwas wie ein gnädiges Geschenk an uns, es beschämt uns und es beglückt uns gleichzeitig. Danke! // Und es sind unter uns Mitglieder der Familie Basanov, deren Vater, Schwiegervater und Großonkel Basan Erdniev hier Lagerhäftling war und hier begraben ist. Wir haben eben kurz inne gehalten an der Stelle, an der Sie sich erinnern an Ihren Vater. Auch für Ihr Kommen, liebe Familie Basanov, bedanke ich mich und freue mich sehr, dass Sie mich an diesem Tag begleiten und unter uns sind. // Zu den Initiativen, die hier wertvolles Engagement beweisen, gehört auch die Geschichts-AG des Gymnasiums Schloß Holte-Stukenbrock. Es gibt das Anne-Frank-Projekt und das schulübergreifende Theaterprojekt. Alle diese jungen Menschen haben die Aufgabe übernommen, die Erinnerung weiter zu tragen. Das gilt auch für die Polizeischüler, die hier ausgebildet werden, und die sich sehr genau bewusst sind, was die Geschichte dieses Ortes bedeutet. Und gekommen sind heute auch junge Soldaten der Bundeswehr, für die historisches Bewusstsein selbstverständlich ist. // Es gab und gibt, dank der freiwilligen Initiativen hier und an anderen, ähnlichen Orten in unserem ganzen Land, diesen hartnäckigen, alltäglichen Widerstand gegen das Vergessen. Das ist gut so, das gehört zu unserer Kultur. So sind heute auch Vertreter der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste hier, auch Vertreter von Gegen Vergessen/Für Demokratie und vom Deutsch-Russischen Museum Karlshorst. Ihnen und den Vielen, die in unserem Land selbstlose Erinnerungs- und Gedenkarbeit leisten, danke ich heute und hier ganz ausdrücklich. Sie helfen bei einer Aufgabe, die sich auch siebzig Jahre nach Kriegsende noch stellt: auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Erinnerungsschatten heraus zu holen. // Nicht weit von hier stehen wir vor dem Gelände, das Tod und Verderben gebracht hat, auf dem die Schreie, das Seufzen und das Stöhnen der geschundenen Leiber und Seelen unsichtbar eingeschrieben bleiben. // Dies ist einer der Orte, an denen wir schmerzhaft und intensiv empfinden, dass die Toten für die Lebenden eine Verpflichtung sind. Sagen wir also heute, siebzig Jahre nach dem Ende des Krieges, "Ja"zu dieser Verpflichtung. Versprechen wir uns gegenseitig, dass wir, was an uns ist, tun, um ein menschenwürdiges und friedliches Leben für alle zu ermöglichen und zu beschützen.
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Balthasar Gracián y Morales
Es ist ein Kniff der Unwürdigen, als Gegner großer Männer aufzutreten, um auf indirektem Wege zu der Berühmtheit zu gelangen, welcher sie auf direktem Wege, durch Verdienste, nie teilhaft geworden wären.
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Balthasar Gracián y Morales
Man muß sich nicht aus Eigensinn auf die schlechtere Seite stellen, wenn sich der Gegner bereits auf die bessere gestellt hat.
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Sigmund Graff
Die Gefährlichkeit des Bösen wächst mit der Anständigkeit seiner Gegner.
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Sigmund Graff
Die meisten bekämpfen fremde Gedanken, um eigene zu entwickeln oder vorzutäuschen. Der Gegner ist ihr Stecken und Stab, ohne den sie nicht bis zur nächsten Ecke kämen, oder die stabile Säule, an der sich ihr Kletterpflanzentalent effektvoll hochranken kann.