Zitate zu "Aufgabe"
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Erich Fromm
Die Aufgabe der Kritik besteht nicht darin, die Ideale herabzusetzen, sondern vielmehr nachzuweisen, daß sie in Ideologien verwandelt wurden, und die Ideologie im Namen des verratenen Ideals zu bekämpfen.
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Mohandas "Mahatma" Karamchand Gandhi
Religion ist Herzenssache. Äußerer Druck berechtigt nicht zur Aufgabe einer angestammten Religion.
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Joachim Gauck
"Die Freiheit in der Freiheit gestalten". Vor 23 Jahren stand ich auf den Stufen des Reichstagsgebäudes in Berlin und ich erinnere mich noch heute an den Klang der Freiheitsglocke, als um Mitternacht die Fahne der Einheit aufgezogen wurde. Es war der Abschluss einer bewegenden Zeit, vom Aufbruch im Herbst 1989 bis zum Tag der Vereinigung - für mich war es die beglückendste Zeit meines Lebens. // Der Freiheitswille der Unterdrückten hatte die Unterdrücker tatsächlich entmachtet - in Danzig, in Prag, in Budapest und in Leipzig. Was niedergehalten war, stand auf. Und was auseinandergerissen war, das wuchs zusammen. Aus Deutschland wurde wieder eins. Europa überwand die Spaltung in Ost und West. // Ich denke auch zurück an die Monate der Einigung, und nicht wenige der Abgeordneten der ersten frei gewählten Volkskammer sind heute unter uns. Wie viel Bereitschaft zur Verantwortung war damals notwendig, um Deutschland zu vereinen, wie viel Entscheidungsmut, wie viel Improvisationsgabe. Wie vieles war zu regeln: diplomatische und Bündnisfragen, grundsätzliche Weichenstellungen, hochwichtige, aber manchmal auch banale Details. Alle, die damals mitwirkten, waren Lernende, manchmal auch Irrende - aber immer waren sie, waren wir Gestaltende! Der 3. Oktober erinnert uns also nicht nur an die überwundene Ohnmacht. Er zeugt auch von dem Willen, die Freiheit in der Freiheit zu gestalten. // All das klingt nach am heutigen Tag, dem Tag der Deutschen Einheit. // Wir blicken zurück auf das, was wir konnten - dankbar für das Vertrauen, das andere in uns setzten, und stolz auf das, was wir seitdem erreicht haben: Ostdeutsche, Westdeutsche und Neudeutsche, alle zusammen - wir alle hier im Lande, zusammen mit Freunden und Partnern in Europa und der ganzen Welt. Das vereinigte Deutschland, es ist heute wirtschaftlich stark, es ist weltweit geachtet und gefordert. Unsere Demokratie ist lebendig und stabil. Deutschland hat ein Gesellschaftsmodell entwickelt, das ein hohes Maß an Einverständnis der Bürger mit ihrem Land hervorgebracht hat. Für viele Länder in der Welt sind wir sogar Vorbild geworden - für Menschen meiner Generation fast unvorstellbar. All das ist Grund zur Dankbarkeit und Freude - einer Freude, die uns heute aber vor allem Ansporn sein soll! // Unser Land steht nun wieder vor einem neuen Anfang - so wie alle vier Jahre. Wir hatten eine Wahl. 44 289 652 Deutsche haben darüber abgestimmt, welche Bürgerinnen und Bürger künftig mitbestimmen werden über die Dinge des öffentlichen Lebens. Meine Damen und Herren Abgeordnete hier: Ich wünsche Ihnen Leidenschaft, Ehrgeiz und Achtsamkeit für all das, was Sie gestalten müssen - und was auf uns zukommt. // Denn vieles fordert uns heute heraus. Besonders auf drei große Herausforderungen möchte ich heute eingehen. Entwicklungen, die nicht jederzeit und nicht für jeden im Alltag spürbar sind, weil sie langfristig wirken. Entwicklungen auch, die nicht mehr allein innerhalb der Landesgrenzen zu regeln sind. // Erstens: In einer Welt voller Krisen und Umbrüche wächst Deutschland neue Verantwortung zu. Wie nehmen wir sie an? Zweitens: Die digitale Revolution wälzt unsere Gesellschaft so grundlegend um wie einst die Erfindung des Buchdrucks oder der Dampfmaschine. Wie gehen wir mit den Folgen um? Beginnen möchte ich allerdings - drittens - mit dem demographischen Wandel. Unsere Bevölkerung wird in beispielloser Weise altern und dabei schrumpfen. Wie bewahren wir Lebenschancen und Zusammenhalt? // Tatsächlich wird es immer weniger Jungen zufallen, für immer mehr Ältere zu sorgen. Das schafft eine schwierige Lage, die unsere Kinder und Enkel möglicherweise erheblich einschränken wird. Andererseits entsteht dadurch ein Druck, der manches in Bewegung bringt, ja einfordert, was ohnehin überfällig und richtig ist. Arbeitgeber etwa sind längst dabei, um Zuwanderer zu werben. Oder ältere Menschen erhalten neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt und zudem nutzen immer mehr Ältere die Zeitspanne nach der Berufstätigkeit für bürgerschaftliches Engagement. Immer mehr Frauen streben ins Arbeitsleben und in Führungspositionen. Dort dürfen es noch mehr werden. Die starren Rollenbilder brechen weiter auf. Neue Vereinbarungen zwischen Mann und Frau, zwischen Familie und Beruf werden möglich. // Wenn die Gesellschaft der Wenigeren nicht eine Gesellschaft des Weniger werden soll, dann dürfen keine Fähigkeiten brach liegen. Wir wissen doch, dass es so viele sind, die mehr können könnten, wenn ihnen mehr geholfen und auch mehr abverlangt würde. Ich meine die formal Geringqualifizierten, die zu fördern und einzubinden sind. Ich meine Kinder und Jugendliche aus Elternhäusern, in denen Bildungsehrgeiz oder Bücher einfach fehlen. // Jeder Einzelne ist doch mit ganz eigenen Möglichkeiten geboren - und es ist ganz egal wo, in Thüringen oder Kalabrien, in Bayern oder in Anatolien. Diese Fähigkeiten gilt es zu entdecken, zu entwickeln und Menschen sogar aus niederdrückender Chancenlosigkeit herauszuholen. Bildung auch als Förderung von Urteilskraft, sozialer Verantwortung und Persönlichkeit, Bildung als Grundlage eines selbstbestimmten, erfüllten Lebens - das ist für mich ein Bürgerrecht und ein Gebot der Demokratie. // Unser Ziel muss lauten: Niemand wird zurückgelassen, nicht am Anfang und nicht am Ende eines langen Lebens. Angenommen und gestaltet, vermag der demographische Wandel unsere Gesellschaft fairer und solidarischer, aber auch vielfältiger und beweglicher und damit zukunftsfähig zu machen. // Die Bedingungen dafür zu schaffen, ist vor allem Aufgabe der Politik. Die Politik hat sich zwar auf den Weg gemacht, das sehen wir alle - aber oftmals haben wir den Eindruck, sie bewegt sich nicht immer schnell genug. Wie lange ringen wir nun schon um die frühkindliche Betreuung? Oder um die Verbesserung unserer Pflegesysteme? Oder um Modernisierung in der Einwanderungspolitik und des Staatsbürgerschaftsrechts? // Mir ist bewusst - ich müsste noch über viele innenpolitische Herausforderungen sprechen: über die Energiewende, die erst noch eine Erfolgsgeschichte werden muss. Auch über Staatsverschuldung etwa oder die niedrige Investitionsquote, die nicht ausreicht, um das zu erhalten, was vorige Generationen aufgebaut haben. Und darüber, dass noch nicht ehrlich genug diskutiert wird über die Kluft zwischen Wünschenswertem und dem Machbaren. // Viele können in den kommenden Jahren vieles noch besser machen, damit die Jahrzehnte danach gut werden. So wie wir heute davon profitieren, dass wir vor einem Jahrzehnt zu Reformen uns durchgerungen haben, so kann es uns übermorgen nutzen, wenn wir morgen - meine Damen und Herren Abgeordnete! - wiederum Mut zu weitsichtigen Reformen aufbringen. Denn wir wollen doch zeigen und wir wollen es erleben, dass eine freiheitliche Gesellschaft in jedem Wandel trotz aller Schwierigkeiten neue Entfaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen und für die Vielen erschließen kann. // Entfaltungsmöglichkeiten! Wie viele haben wir in den vergangenen Jahren hinzugewonnen, durch Internet und durch mobile Kommunikation - ein Umbruch, dessen Konsequenzen die meisten bislang weder richtig erfasst noch gar gestaltet haben. Wir befinden uns mitten in einem Epochenwechsel. Ähnlich wie einst die industrielle Revolution verändert heute die digitale Revolution unsere gesamte Lebens- und Arbeitswelt, das Verhältnis vom Bürger zum Staat, das Bild vom Ich und vom Anderen. Ja, wir können sagen: Unser Bild vom Menschen wird sich ändern. // Nie zuvor hatten so viele Menschen Zugang zu so viel Information, nie zuvor konnte man weltweit so leicht Gleichgesinnte finden, war es technisch einfacher, Widerstand gegen autoritäre Regime zu organisieren. Manchmal denke ich: Hätten wir doch 1989 damals in Mittel- und Osteuropa uns so miteinander vernetzen können! // Die digitalen Technologien sind Plattformen für gemeinschaftliches Handeln, Treiber von Innovation und Wohlstand, von Demokratie und Freiheit, und nicht zuletzt sind sie großartige Erleichterungsmaschinen für den Alltag. Sie navigieren uns zum Ziel, sie dienen uns als Lexikon, als Spielwiese, als Chatraum, und sie ersetzen den Gang zur Bank ebenso wie den ins Büro. // Wohin dieser tiefgreifende technische Wandel führen wird, darüber haben wir einfachen "User" bislang wenig nachgedacht. Erst die Berichte über die Datensammlung der Dienste befreundeter Länder haben uns mit einer Realität konfrontiert, die wir bis dahin für unvorstellbar hielten. Erst da wurde den meisten die Gefahr für die Privatsphäre bewusst. // Vor 30 Jahren, erinnern wir uns, wehrten sich Bundesbürger noch leidenschaftlich gegen die Volkszählung und setzten am Ende das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch. Dafür hat unser Bundesverfassungsgericht gesorgt. Und heute? Heute tragen Menschen freiwillig oder gedankenlos bei jedem Klick ins Netz Persönliches zu Markte. Viele der Jüngeren vertrauen sozialen Netzwerken sogar ihr ganzes Leben an. // Ausgeliefertsein und Selbstauslieferung sind kaum voneinander zu trennen. Es schwindet jene Privatsphäre, die unsere Vorfahren doch einst gegen den Staat erkämpften und die wir in totalitären Systemen gegen Gleichschaltung und Gesinnungsschnüffelei so hartnäckig zu verteidigen suchten. Öffentlichkeit erscheint heute vielen nicht mehr als Bedrohung, sondern als Verheißung, die Wahrnehmung und Anerkennung verspricht. // Sie verstehen nicht oder sie wollen nicht wissen, dass sie so mit bauen an einem digitalen Zwilling ihrer realen Person, der neben ihren Stärken eben auch ihre Schwächen enthüllt - oder enthüllen könnte. Der ihre Misserfolge und Verführbarkeiten aufdecken oder gar sensible Informationen über Krankheiten preisgeben könnte. Der den Einzelnen transparent, kalkulierbar und manipulierbar werden lässt für Dienste und Politik, Kommerz und Arbeitsmarkt. // Wie doppelgesichtig die digitale Revolution ist, zeigt sich besonders am Arbeitsplatz. Vielen Beschäftigten kommt die neue Technik entgegen, weil sie erlaubt, von Hause oder gar im Café zu arbeiten und die Arbeitszeit völlig frei zu wählen. Gleichzeitig wird aber die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit verwischt, was ständige Verfügbarkeit bedeuten kann - rund um die Uhr. // Historisch betrachtet, sind Entwicklungssprünge nichts Neues. Im ersten Moment erleben wir sie allerdings ratlos, vielleicht auch ohnmächtig. Naturgemäß hinken dann Gesetze, Konventionen und gesellschaftliche Verabredungen der technischen Entwicklung hinterher. Wie noch bei jeder Innovation gilt es auch jetzt, die Ängste nicht übermächtig werden zu lassen, sondern als aufgeklärte und ermächtigte Bürger zu handeln. So sollte der Datenschutz für den Erhalt der Privatsphäre so wichtig werden wie der Umweltschutz für den Erhalt der Lebensgrundlagen. Wir wollen und sollten die Vorteile der digitalen Welt nutzen, uns gegen ihre Nachteile aber bestmöglich schützen. // Es gilt also, Lösungen zu suchen, politische und gesellschaftliche, rechtliche, ethische und ganz praktische: Was darf, was muss ein freiheitlicher Staat im Geheimen tun, um seine Bürger durch Nachrichtendienste vor Gewalt und Terror zu schützen? Was aber darf er nicht tun, weil sonst die Freiheit der Sicherheit geopfert wird? Wie muss der Arbeitsmarkt aussehen, damit der allzeit verfügbare Mensch nicht zu so etwas wie einem digitalen Untertanen wird? Wie existieren Familie und Freundschaften neben den virtuellen Beziehungen? Wie können Kinder und Jugendliche das Netz nutzen, ohne darin gefangen zu werden? // Wir brauchen also Gesetze, Konventionen und gesellschaftliche Verabredungen, die diesem epochalen Wandel Rechnung tragen. // Gerade in Demokratien muss Politik schon reagieren, wenn ein Problem erst am Horizont auftaucht. Und sie muss ständig nachjustieren, sobald die Konturen klarer hervortreten. Das ist übrigens eine ihrer Stärken. // Diese Stärke ist es auch, die wir für eine weitere Herausforderung unserer Zeit brauchen: die europäische Integration. Ohne Zweifel ist das Europa in der Krise nicht mehr das Europa vor der Krise. Risse sind sichtbar geworden. // Die Krise hat Ansichten und Institutionen verändert, sie hat Kräfte und Mehrheiten verschoben. Die Zustimmung zu mehr Vergemeinschaftung nimmt ab. Nicht die europäischen Institutionen, sondern nationale Regierungen bestimmen wesentlich die Agenda. Zudem tauchen in Ländern, denen die Rezession vieles abverlangt, alte Zerrbilder eines dominanten Deutschlands auf. // Dies alles will diskutiert und abgewogen sein. Die gute Nachricht lautet: Ein starkes Band aus Mentalität, Kultur und Geschichte, es hält Europa zusammen. Entscheidend ist aber unser unbedingter Wille zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft. Europa, so spüren wir jetzt, kennt nicht nur eine Gestalt, auch nicht nur eine politische Organisationsform seiner Gemeinschaft. Da haben wir zu streiten und zu diskutieren über die beste Form der Zusammenarbeit, nicht aber über den Zusammenhalt Europas! Und unsere Einigungen haben wir so zu kommunizieren, dass die europäischen Völker die Lösungen akzeptieren und mittragen können. Es bleibt die Aufgabe der Politik - und als Bundespräsident nehme ich mich da überhaupt nicht aus - das Europa Verbindende zu stärken. // Was ist nun die Aufgabe Deutschlands in Europa und in der Welt? Manche Nachbarländer fürchten ja eine starke Rolle Deutschlands, aber andere wünschen sie sich. Auch wir selbst schwanken: Weniger Verantwortung, das geht eigentlich nicht länger, aber an mehr Verantwortung müssen wir uns erst noch gewöhnen. // Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb die politische Denkerin Hannah Arendt: "Es sieht so aus, als ob sich die Deutschen nun, nachdem man ihnen die Weltherrschaft verwehrt hat, in die Ohnmacht verliebt hätten." Deutschland hatte, wir wissen es alle, Europa in Trümmer gelegt und Millionen Menschenleben vernichtet. Was Arendt als Ohnmacht beschrieb, hatte damals eine politische Ratio. Das besiegte Deutschland musste sich erst ein neues Vertrauen erwerben und seine Souveränität wiedererlangen. // Vor wenigen Wochen, bei meinem Besuch in Frankreich, da wurde ich allerdings mit der Frage konfrontiert: Erinnern wir Deutsche auch deshalb so intensiv an unsere Vergangenheit, weil wir eine Entschuldigung dafür suchen, den heutigen Problemen und Konflikten in der Welt auszuweichen? Lassen wir andere unsere Versicherungspolice zahlen? // Es gibt natürlich Gründe, diese Auffassung zu widerlegen oder ihr zu widersprechen. Die Bundeswehr hilft, in Afghanistan und im Kosovo den Frieden zu sichern. Deutschland stützt den Internationalen Strafgerichtshof, es fördert ein Weltklimaabkommen und engagiert sich stark in der Entwicklungszusammenarbeit. Deutschlands Beiträge und Bürgschaften helfen, die Eurozone zu stabilisieren. // Trotzdem, es mehren sich die Stimmen innerhalb und außerhalb unseres Landes, die von Deutschland mehr Engagement in der internationalen Politik fordern. In dieser Liste findet sich ein polnischer Außenminister ebenso wie Professoren aus Oxford oder Princeton. Ihnen gilt Deutschland als schlafwandelnder Riese oder als Zuschauer des Weltgeschehens. Einer meiner Vorgänger, Richard von Weizsäcker, ermuntert Deutschland, sich stärker einzubringen für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik. // Es stellt sich tatsächlich die Frage: Entspricht unser Engagement der Bedeutung unseres Landes? Deutschland ist bevölkerungsreich, in der Mitte des Kontinents gelegen und die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Zur Stärke unseres Landes gehört, dass wir alle Nachbarn als Freunde gewannen und in internationalen Allianzen zu einem verlässlichen Partner geworden sind. So eingebunden und akzeptiert, konnte Deutschland Freiheit, Frieden und Wohlstand sichern. Diese politische Ordnung und unser Sicherheitssystem gerade in unübersichtlichen Zeiten zu erhalten und zukunftsfähig zu machen - das ist unser wichtigstes Interesse. // Deshalb ist es richtig, wenn andere ebenso wie wir selbst fragen: Nimmt Deutschland seine Verantwortung ausreichend wahr etwa gegenüber den Nachbarn im Osten, im Nahen Osten oder am südlichen Mittelmeer? Welchen Beitrag leistet Deutschland, um die aufstrebenden Schwellenländer als Partner der internationalen Ordnung zu gewinnen? // Und wenn wir einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anstreben: Welche Rolle sind wir dann bereit, bei Krisen in ferneren Weltregionen zu spielen? // Unser Land ist keine Insel. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, wir könnten verschont bleiben von den politischen und ökonomischen, den ökologischen und militärischen Konflikten, wenn wir uns an deren Lösung nicht beteiligen. // Ich mag mir nicht vorstellen, dass Deutschland sich groß macht, um andere zu bevormunden. Aber ich mag mir genauso wenig vorstellen, dass Deutschland sich klein macht, um Risiken und Solidarität zu umgehen. Und liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ein Land, das sich so als Teil eines Ganzen versteht, muss weder bei uns Deutschen auf Abwehr noch bei unseren Nachbarn auf Misstrauen stoßen. // Nun habe ich Ihnen an diesem Tag der Deutschen Einheit einiges vorgetragen zur Rolle Deutschlands in der Welt, zur digitalen Revolution und zum demographischen Wandel. Was aber ist die Grundmelodie? Ich sehe unser Land als Nation, die nach Jahrzehnten demokratischer Entwicklung "Ja" sagt zu sich selbst. Als Nation, die das ihr Mögliche und ihr Zugewachsene tut, solidarisch im Inneren wie nach außen. Als Nation, die in die Zukunft schaut und dort nicht Bedrohung sieht, sondern Chancen und Gewinn. // Wir hatten eine Wahl - und wir haben sie weiterhin! Der 3. Oktober zeigt: Wir sind nicht ohnmächtig. Und handlungsfähig, das sind wir nicht erst dann, wenn wir das Ende einer Entwicklung kennen. Wir sind es bereits, wenn wir Verantwortung annehmen, mit dem, was wir jetzt wissen, jetzt können, gestaltend eingreifen. // Wir, zusammen einzigartig, schauen uns an diesem Festtag um. Wir sehen, was uns in schwierigen Zeiten gelungen ist. Und wir sind dankbar für all das, was gewachsen ist. Und eine Verheißung kann uns zur Gewissheit werden: Wir müssen glauben, was wir konnten. Dann werden wir können, woran wir glauben.
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Joachim Gauck
Der Tag der Deutschen Einheit. Das ist für unser Land seit 25 Jahren ein Datum der starken Erinnerungen, ein Anlass für dankbaren Rückblick auf mutige Menschen. Auf Menschen, deren Freiheitswille Diktaturen ins Wanken brachte, in Danzig, Prag und Budapest. Auf Menschen auch in Leipzig, Plauen und so vielen anderen Orten der DDR, die mit der Friedlichen Revolution die Vereinigung beider deutscher Staaten überhaupt erst vorstellbar werden ließen. Ich begrüße mit besonderer Freude diejenigen unter uns, die damals dabei waren. Wir wären heute nicht hier, wenn Sie damals nicht aufgestanden wären! // Am 3. Oktober denken viele von uns an den Klang der Freiheitsglocke, an die Freudentränen nicht nur vor dem Reichstag, an die Aufbruchsstimmung, die uns beherrschte, ja: an großes Glück. // Aber in diesem Jahr ist doch manches anders. So mancher fragt: Warum zurückblicken? Hat die Bundesrepublik momentan nicht drängendere Probleme, drängendere Themen als dieses Jubiläum? Was können wir feiern in einer Zeit, in der hunderttausende Männer, Frauen und Kinder bei uns Zuflucht suchen? Einer Zeit, in der wir vor so immensen Aufgaben für unsere Gesellschaft stehen? // Meine Antwort darauf lautet, ganz einfach: Es gibt etwas zu feiern. Die Einheit ist aus der Friedlichen Revolution erwachsen. Damit haben die Ostdeutschen den Westdeutschen und der ganzen Nation ein großes Geschenk gemacht. Sie hatten ihre Ängste überwunden und in einer kraftvollen Volksbewegung ihre Unterdrücker besiegt. Sie hatten Freiheit errungen. Das erste Mal in der deutschen Nationalgeschichte war das Aufbegehren der Unterdrückten wirklich von Erfolg gekrönt. Die Friedliche Revolution zeigt: Wir Deutsche können Freiheit. // Und so feiern wir heute den Mut und das Selbstvertrauen von damals. Nutzen wir diese Erinnerung als Brücke. Sie verbindet uns mit einem Erfahrungsschatz, der uns gerade jetzt bestärken kann. Innere Einheit, so machen wir uns klar, innere Einheit entsteht, wo wir sie wirklich wollen und uns dann ganz bewusst darum bemühen. Innere Einheit entsteht, wenn wir uns auf das Machbare konzentrieren, statt uns von Zweifeln oder Phantastereien treiben zu lassen. Und innere Einheit lebt davon, dass wir im Gespräch darüber bleiben, was uns verbindet und was uns verbinden soll. // Auch 1990 gab es die berechtigte Frage: Sind wir der Herausforderung gewachsen? Auch damals gab es - wir haben es schon gehört - kein historisches Vorbild, an dem wir uns orientieren konnten. Und trotzdem haben Millionen Menschen die große nationale Aufgabe der Vereinigung angenommen und Deutschland zu einem Land gemacht, das mehr wurde als die Summe seiner Teile. // Für mich steht die positive Bilanz im 25. Jahr der Deutschen Einheit außer Frage. Auch wenn es zuweilen Enttäuschungen gab, wenn Wirtschaftskraft und Löhne nicht so schnell gewachsen sind, wie die meisten Menschen in Ostdeutschland hofften, und wenn die finanzielle Förderung länger währt, als die meisten Westdeutschen wünschen, so ist doch gewiss: Die große Mehrheit der Deutschen, gleichgültig woher sie stammen, fühlt sich in diesem vereinten Land angekommen und zuhause. Die Unterschiede sind kleiner geworden und besonders in der jungen Generation, da sind sie doch eigentlich gänzlich verschwunden. Deutschland hat in Freiheit zur Einheit gefunden - politisch, gesellschaftlich, langsamer auch wirtschaftlich und mit verständlicher Verzögerung auch mental. // Es ist wieder zusammengewachsen, was zusammengehörte - Willy Brandt hat Recht behalten. Allerdings war der Prozess der Vereinigung deutlich schwieriger, als die meisten in der Euphorie vor 1989/90 glaubten. Beide Seiten hatten sich ihre Eindrücke vom "Drüben" ja lange nur aus der Ferne gemacht. Als wir einander schließlich direkt in Augenschein nehmen konnten, da waren viele Menschen überrascht, einige auch erschrocken. "Alles marode", sagten die einen. "Alles Show", fanden die anderen. // Eins stimmt natürlich: Noch hat der Osten das wirtschaftliche Niveau des Westens nicht erreicht. Gleichwohl, das Bild vom maroden Osten ist inzwischen Vergangenheit. Der äußere Wandel ist überdeutlich in Vorher-Nachher-Bildern darstellbar: hunderttausende von Eigenheimen, sanierte Straßen, Dörfer, Städte, gerettete Baudenkmäler und Kulturstätten, saubere Flüsse und Seen. All die runderneuerten Landstriche, sie geben Anlass zur Freude. Sie sind Zeugnisse einer großen gemeinsamen Anstrengung und Belege dafür, dass auch die Westdeutschen die Einheit als gesamtdeutsche Aufgabe angenommen haben, zeigten sie sich doch von Anfang an solidarisch mit jenen, von denen sie über Jahrzehnte getrennt worden waren. // Ich kann und will dies am heutigen Festtag nicht für selbstverständlich nehmen, sondern ich will es würdigen, ausdrücklich und dankbar. // In diesem Zusammenhang sollten wir uns außerdem bewusst machen, dass auch die Westdeutschen den Ostdeutschen ein Geschenk gemacht haben: mit dem Grundgesetz, das die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt, die Grundrechte sichert, mit einer funktionierenden Demokratie, einer unabhängigen Justiz und einem sozialen System, das die Schwachen auffängt. // Allerdings hat die Einheit den meisten Westdeutschen im täglichen Leben wenig abverlangt, den Ostdeutschen dagegen mit einem enormen Transformationsdruck sehr viel. Das neue Leben im Osten brachte ja nicht nur volle Einkaufsregale, schnelle Autos und bunte Reisekataloge. Es brachte auch die massenhafte "Abwicklung" sogenannter volkseigener Betriebe, brachte damit Massenarbeitslosigkeit und Massenabwanderung. Leere Werksgelände, leere Plattenbauten, leere Schulklassen - all das hinterließ seelische Spuren. Selbst für die Jüngsten von damals, die sich heute als "Wendekinder" bezeichnen, sind dies prägende Erinnerungen, sie sind in ihrem Gedächtnis geblieben. // Für 16 Millionen Menschen änderte sich in kürzester Zeit fast alles. Aber manches - gemessen an den großen Hoffnungen - eben nicht schnell genug. Erst allmählich wurde klar, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse und Mentalitäten in Ost und West eine Aufgabe, ein Prozess von Generationen - ja: Plural! - sein würde. // Schmerzlich mussten wir im Osten erfahren, dass wir Demokratie 1989/90 zwar über Nacht erkämpfen, nicht aber über Nacht auch erlernen konnten. Gestern Untertan, heute Citoyen: was für ein Irrtum! Ohnmacht hatte sich in vielen Köpfen eingenistet. Ohnmacht nach Jahrzehnten totalitärer Diktatur, in denen die Grundrechte der Menschen beschnitten und das eigenverantwortliche Tun gelähmt war, in denen freie Wahlen ein ferner Traum bleiben mussten. So erklärt sich die wohl größte Herausforderung der Ostdeutschen im vereinten Land. Es galt, jahrzehntelange Selbstentfremdung zu überwinden, möglichst im Zeitraffer. Es galt, genau das zu tun, was vorher alles andere als erwünscht war: selbständig zu denken, selbständig zu handeln. Von Freiheit nicht nur zu träumen, sondern Freiheit in der Freiheit tatsächlich zu gestalten. // Trotz aller Schwierigkeiten: Millionen Ostdeutsche haben den persönlichen Neuanfang gewagt und bewältigt, unter neuen Prämissen, in neuen Berufen oder an neuen Orten. Millionen haben die Brüche ihrer Biographien in Zukunft verwandeln können, haben Unternehmen gegründet und Verwaltungen demokratisiert, haben an Universitäten die freie Lehre und Forschung eingeführt, haben Vereine ins Leben gerufen, wo sich vorher der Staat für zuständig hielt. Millionen Menschen haben sich der fundamentalen Einsicht geöffnet: Neue Freiheit bietet neue Möglichkeiten, aber sie verlangt eben gleichzeitig die Übernahme neuer Verantwortung, auch Selbstverantwortung. Besonders diese Veränderungsleistung der Ostdeutschen war enorm. Sie wirkt bis heute nach. // Und genau an dieser Stelle möchte ich einmal Dank sagen all denen, die angepackt haben, die das gemacht haben, was sie vorher nie gelernt hatten: als ehren- oder hauptamtlicher Bürgermeister, als Abgeordneter, als Sekretär einer freien Gewerkschaft, als Verantwortlicher einer demokratischen Partei, als Minister, als Ministerpräsident, gar als Bundeskanzlerin - sie alle hatten niemals erwartet, zu tun, was sie dann taten. Wir schauen heute einmal auf sie alle - und sagen einfach "Danke". // Zu denen, die ich eben aufgezählt habe, gehört auch mancher unserer Gäste. Ich sehe in der dritten Reihe jemanden aus der polnischen Nachbarschaft, Bogdan Borusewicz, heute Senatspräsident der Republik Polen. Damals aber, in der Zeit, über die ich eben gesprochen habe, als wir alle ganz woanders waren, da war er ein unbekannter Mann aus der Mitte des Volkes, der mutiger und früher angefangen hat als wir und der uns zusammen mit seinen Landsleuten motiviert hat, auch etwas zu wagen. Danke! // Meine Damen und Herren, die innere Einheit Deutschlands konnte vor allem wachsen, weil wir uns als zusammengehörig empfanden und weil wir in Respekt vor denselben politischen Werten gemeinsam leben wollten. Doch nun, da viele Flüchtlinge angesichts von Kriegen, von autoritären Regimen und zerfallenden Staaten nach Europa, nach Deutschland getrieben werden, nun stellt sich doch die Aufgabe der inneren Einheit neu. Wir spüren: Wir müssen Zusammenhalt wahren zwischen denen, die hier sind, aber auch Zusammenhalt herstellen mit denen, die hinzukommen. Es gilt, wiederum und neu, die innere Einheit zu erringen. // Diese Entwicklung hat vor 25 Jahren niemand ahnen können. Damals, nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime und dem Ende des Ost-West-Konflikts, sahen wir sehr optimistisch in die Zukunft. Wir wähnten uns sogar am Beginn einer neuen Epoche. Die Überlegenheit der Demokratie schien schlagend bewiesen, ihr weltweiter Siegeszug nur noch eine Frage der Zeit. Wir erinnern uns an Francis Fukuyama, den amerikanischen Politologen, der das "Ende der Geschichte" verkündete. Mit ihm glaubten viele - auch ich - an eine gerechtere, friedliche und demokratische Zukunft. // Die Hoffnung auf eine solche Veränderung weltweit, sie ist jedoch zerstoben. Statt weiterer Siege von Freiheit und Demokratie erleben wir vielerorts das Vordringen autoritärer Regime und islamistischer Fundamentalisten. Statt mit größerer Friedfertigkeit sind wir konfrontiert mit Terrorismus, mit Bürgerkriegen, imperialen Landnahmen und einer Renaissance von Geopolitik. Und die Gemeinschaft der Europäer, die vor 25 Jahren begann, Ost- und Westeuropa zusammenzuführen, sie findet sich nun mit der Euro-Rettung, auch hier und da mit Austrittsdiskussionen und vor allem mit der Bewältigung der Fluchtbewegungen mitten in einer Zerreißprobe. // Aber was heißt es nun, die innere Einheit wieder und neu zu erringen, wenn sich die Zusammensetzung der Bevölkerungen in kurzer Zeit so erheblich verändert? Wie schaffen es Staaten, wie schaffen es Gesellschaften, ein inneres Band zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen herzustellen? Und wie kann die Europäische Union Einvernehmen erreichen, wenn die Haltungen gegenüber Flüchtlingen noch so unterschiedlich sind? // Noch führt der Druck die europäischen Staaten nicht völlig zusammen. Allerdings zeigen die jüngsten Entscheidungen der Europäischen Union, dass die Einsicht wächst: Es kann keine Lösung in der Flüchtlingsfrage geben - es sei denn, sie ist europäisch. Wir werden den Zustrom von Flüchtlingen nicht verringern können - es sein denn, wir erhöhen unsere gemeinsamen Anstrengungen zur Unterstützung von Flüchtlingen in den Krisenregionen, sowie vor allem zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Und auch das müssen wir uns klar machen: Wir werden unsere heutige Offenheit nicht erhalten können - es sei denn, wir entschließen uns alle gemeinsam zu einer besseren Sicherung der europäischen Außengrenzen. // Die Gewissheit über diese gemeinsamen Aufgaben hebt jedoch die Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten nicht automatisch auf. In den aktuellen Debatten offenbaren sich unterschiedliche Haltungen aufgrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen. Wir erleben das ja schon bei uns, im wiedervereinigten Land, der Bundesrepublik Deutschland. Westdeutschland konnte sich über mehrere Jahrzehnte daran gewöhnen, ein Einwanderungsland zu werden - und das war mühsam genug: ein Land mit Gastarbeitern, die später Einwanderer wurden, mit politischen Flüchtlingen, Bürgerkriegsflüchtlingen und Spätaussiedlern. Für die Menschen im Osten war es doch ganz anders. Viele von ihnen hatten bis 1990 kaum Berührung mit Zuwanderern. Wir haben erlebt: Die Veränderung von Haltungen gegenüber Flüchtlingen und Zuwanderern kann immer nur das Ergebnis von langwierigen - auch konfliktreichen - Lernprozessen sein. Diese Einsicht sollte uns nun auch Respekt vor den Erfahrungen anderer Nationen ermöglichen. // Wenn wir Deutsche uns an die "Das Boot ist voll"-Debatten vor zwanzig Jahren erinnern, dann erkennen wir, wie stark sich das Denken der meisten Bürger in diesem Land inzwischen verändert hat. Der Empfang der Flüchtlinge im Sommer dieses Jahres war und ist ein starkes Signal gegen Fremdenfeindlichkeit, Ressentiments, Hassreden und Gewalt. Und was mich besonders freut: Ein ist ein ganz neues, ganz wunderbares Netzwerk entstanden - zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen, zwischen Zivilgesellschaft und Staat. Es haben sich auch jene engagiert, die selbst einmal fremd in Deutschland waren oder aus Einwandererfamilien stammen. Auf Kommunal-, Landes- wie Bundesebene wurde und wird Außerordentliches geleistet. Darauf kann dieses Land zu Recht stolz sein und sich freuen. Und ich sage heute: Danke Deutschland! // Und dennoch spürt wohl fast jeder, wie sich in diese Freude Sorge einschleicht, wie das menschliche Bedürfnis, Bedrängten zu helfen, von der Angst vor der Größe der Aufgabe begleitet wird. Das ist unser Dilemma: Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich. // Tatsache ist: Wir tun viel, sehr viel, um die augenblickliche Notlage zu überwinden. Aber wir werden weiter darüber diskutieren müssen: Was wird in Zukunft? Wie wollen wir den Zuzug von Flüchtlingen, wie weitere Formen der Einwanderung steuern - nächstes Jahr, in zwei, drei, in zehn Jahren? Wie wollen wir die Integration von Neuankömmlingen in unsere Gesellschaft verbessern? // Wie 1990 erwartet uns alle eine Herausforderung, die Generationen beschäftigen wird. Doch anders als damals soll nun zusammenwachsen, was bisher nicht zusammengehörte. Ost- und Westdeutsche hatten ja dieselbe Sprache, blickten auf dieselbe Kultur zurück, auf dieselbe Geschichte. Ost- und Westdeutsche standen selbst in Zeiten der Mauer durch Kirchengemeinden, Verwandte oder Freunde in direktem Kontakt miteinander und wussten über die Medien voneinander Bescheid. Wie viel größere Distanzen dagegen sind zu überwinden in einem Land, das zu einem Einwanderungsland geworden ist. Zu diesem Land gehören heute Menschen verschiedener Herkunftsländer, Religionen, Hautfarben, Kulturen - Menschen, die vor Jahrzehnten eingewandert sind, und zunehmend auch jene, die augenblicklich und in Zukunft kommen, hier leben wollen und hier eine Bleibeperspektive haben. // Ähnlich wie bei den Zuwanderern seit den 1960er Jahren, aber wohl in größerem Ausmaß werden wir erleben: Es braucht Zeit, bis Einheimische sich an ein Land gewöhnen, in dem Vertrautes zuweilen verloren geht. Es braucht Zeit, bis Neuankömmlinge sich an eine Gesellschaftsordnung gewöhnen, die sie nicht selten in Konflikt mit ihren traditionellen Normen bringt. Und es braucht Zeit, bis alte und neue Bürger Verantwortung in einem Staat übernehmen, den alle gemeinsam als ihren Staat begreifen. // Wir befinden uns aktuell in einem großen Verständigungsprozess über das Ziel und das Ausmaß dieser neuen Integrationsaufgabe. So etwas ist in Demokratien auch verbunden mit Kontroversen - das ist normal. Aber meine dringende Bitte an alle, die mitdebattieren, ist: Lassen Sie aus Kontroversen keine Feindschaften entstehen. Jeder soll merken, wir debattieren, weil es uns um Zusammenhalt geht, um ein Miteinander, auch in der Zukunft. // Und wir nehmen aus unserer jüngeren Geschichte etwas mit, das wir niemals aufgeben dürfen: den Geist der Zuversicht. Wir haben nicht nur davon geträumt, unser Leben selbstbestimmt gestalten zu können, nein, wir haben es getan! Wir sind die, die sich etwas zutrauen. // Und so gestimmt fragen wir uns jetzt: Was ist denn das innere Band, das ein Einwanderungsland zusammenhält? Was ist es, das uns verbindet und verbinden soll? // In einer offenen Gesellschaft kommt es nicht darauf an, ob diese Gesellschaft ethnisch homogen ist, sondern ob sie eine gemeinsame Wertegrundlage hat. Es kommt nicht darauf an, woher jemand stammt, sondern wohin er gehen will und mit welcher politischen Ordnung er sich identifiziert. // Gerade weil in Deutschland unterschiedliche Kulturen, Religionen und Lebensstile zuhause sind, gerade weil Deutschland immer mehr ein Land der Verschiedenen wird, braucht es eine Rückbindung aller an unumstößliche Werte - einen Kodex, der allgemein als gültig akzeptiert wird. // Ich erinnere mich noch gut, welche Ausstrahlung die westlichen Werte bei uns in der DDR und in anderen Staaten des ehemaligen Sowjetblocks besaßen. Wir sehnten uns nach Freiheit und Menschenrechten, nach Rechtsstaat und Demokratie. Diese Werte, obwohl im Westen entstanden, sind zur Hoffnung für Unterdrückte und Benachteiligte auf allen Kontinenten geworden. Die Demokratie hat zwar seit 1990 keinen weltweiten Siegeszug angetreten, aber ihre Werte sind weltweit präsent, werden zunehmend nicht mehr als westlich, sondern als universell bezeichnet und verstanden. Und das ist richtig so. // Doch nicht immer und nicht überall vermögen sie jeden zu überzeugen, übrigens auch nicht bei uns. Wir wissen, dass selbst im Westen die eigenen Werte verletzt wurden und gelegentlich auch werden. Aber damit sind doch nicht die Werte diskreditiert, sondern diejenigen, die sie verraten. // Und diese, unsere Werte, sie stehen nicht zur Disposition! Sie sind es, die uns verbinden und verbinden sollen, hier in unserem Land. Hier ist die Würde des Menschen unantastbar. Hier hindern religiöse Bindungen und Prägungen die Menschen nicht daran, die Gesetze des säkularen Staates zu befolgen. Hier werden Errungenschaften wie die Gleichberechtigung der Frau oder homosexueller Menschen nicht in Frage gestellt und die unveräußerlichen Rechte des Individuums nicht durch Kollektivnormen eingeschränkt - nicht der Familie, nicht der Volksgruppe, nicht der Religionsgemeinschaft. Und vor diesem Hintergrund gewinnt der Satz, den wir alle kennen - Toleranz für Intoleranz darf es nicht geben - seine humane Basis. Und noch etwas: Es gibt in unserem Land politische Grundentscheidungen, neben den eben angesprochenen, die ebenfalls unumstößlich sind. Dazu zählt unsere entschiedene Absage an jede Form von Antisemitismus und unser Bekenntnis zum Existenzrecht von Israel. // Wir kennen keine andere Gesellschaftsordnung, die dem Individuum so viel Freiheit, so viele Entfaltungsmöglichkeiten, so viele Rechte einräumt wie die Demokratie. Sie mag mangelhaft sein, aber wir kennen keine andere Gesellschaftsordnung, die im Widerstreit von Lebensstilen, Meinungen und Interessen zu so weitgehender Selbstkorrektur fähig ist. Wir kennen auch keine Gesellschaftsordnung, die sich so schnell neuen Bedingungen anzupassen und zu reformieren vermag, weil sie - wie Karl Popper einmal sagte - auf einen Menschen baut, "dem mehr daran liegt zu lernen, als recht zu behalten". // Für eben diese Werte und für diese Gesellschaftsordnung steht die Bundesrepublik Deutschland. Dafür wollen wir auch unter den Neuankömmlingen werben - nicht selbstgefällig, aber selbstbewusst, weil wir überzeugt sind: Dieses Verständnis, kodifiziert im Grundgesetz, ist und bleibt die beste Voraussetzung für das Leben, nach dem gerade auch Menschen auf der Flucht streben. Ein Leben - wie es in unserer Nationalhymne heißt - in Einigkeit und Recht und Freiheit.
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Joachim Gauck
Ein ungewöhnlicher, ein stolzer Anlass führt uns heute zusammen: Die deutsche Sozialdemokratie feiert ihren 150. Geburtstag. Keine andere Partei konnte so lange überdauern, weil ihre Kernforderungen auf immer neue Weise aktuell blieben und bleiben: Freiheitsrechte, soziale Gerechtigkeit und politische Teilhabe. // Dies ist ein Feiertag für die älteste Partei in Deutschland. Es ist auch ein Feiertag des europäischen Ringens um Freiheit und Demokratie. Es ist auch eine Geschichte voller Siege und Niederlagen, mit schrecklichen und abgründigen Kriegen, mit Aufstand und Widerstand, vor allem mit der Erkenntnis: Gesellschaften sind veränderbar, Demokratie ist möglich, wenn wir wissen, welche Werte wir mit ihr anstreben, verteidigen oder erkämpfen und wenn wir mutig genug sind, die Widerstände zu überwinden. // Immer lag und liegt es an uns, den Ohnmachtsgefühlen zu trotzen, für uns selbst und für andere Partei zu ergreifen und neue Entwicklungen anzustoßen. So viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben das in der bewegten Vergangenheit ihrer Partei mit unerschütterlicher Konsequenz getan, haben für ihre Überzeugungen viel riskiert: ihren Aufstieg, ihre gesellschaftliche Anerkennung, ihre Existenz und einige - viele - haben sogar ihr Leben hingegeben. // Es ist das Vermächtnis dieser mutigen Menschen, das Jubiläum nicht nur als "Ort der Erinnerung" zu betrachten. Wir fragen heute auch nach unseren Aufgaben in der Zukunft, fragen: Was bedeutet in der Perspektive von heute das alte "Vorwärts"? // Aber lassen Sie mich im Jahr 1863 beginnen, bei Armut und Ausbeutung, bei Arbeitsbedingungen, wie wir sie derzeit nur aus manchen Entwicklungsländern kennen und kritisieren und die damals für Millionen Deutsche bedrückender Alltag waren. Wie konnte die Reaktion derer aussehen, die die Kraft aufbrachten, sich zur Wehr zu setzen: Sollte es Aufruhr sein und dann Revolution und Errichtung einer neuen Herrschaft der zuvor Unterdrückten? Das wäre ja eine naheliegende Option gewesen. Aber Ferdinand Lassalle, der die Revolution von 1848 in der Rheinprovinz miterlebt hatte, fand eine andere Antwort auf Not und Unfreiheit. Wir hören sein Credo - Veränderung der Gesellschaft durch emanzipatorische Politik, die Massenteilhabe ermöglichen sollte. Dazu gehörte nun von Anfang an Bildung, Schulpflicht für alle, aber auch die Arbeiterbildungsvereine, die dem Einzelnen Aufstieg durch Wissen ermöglichten. Emanzipation gelang also durch Teilhabe an verbrieften Rechten, aber immer wieder auch durch Selbst-Ermächtigung. Dieser Ansatz war vor 150 Jahren revolutionär, modern ist er auch heute noch. // In der Gründungszeit der Sozialdemokratie stand selbstverständlich der Kampf für gleiche Rechte der unterdrückten Arbeiterschaft im Vordergrund. Das Eisenacher Programm von 1869 nennt zentral freie, allgemeine und gleiche Wahlen ungeachtet der Herkunft der Wählenden, das Verbot von Kinderarbeit und nicht zuletzt die Unabhängigkeit der Gerichte. // Im langen, innerparteilichen Kampf setzte sich die Haltung durch, keine neuen Klassenprivilegien zu errichten, Ungleichheit nicht durch neue Ungleichheit zu beantworten. Eduard Bernstein, der bedeutende und lange bekämpfte Theoretiker der SPD, bezeichnete die Demokratie dreieinhalb Jahrzehnte nach der Parteigründung durch Lassalle als "Mittel und Zweck zugleich". In diesem neuen Politikverständnis liegt für mich eines der wirklich größten historischen Verdienste seiner Partei. Es war die SPD, die bedeutende Teile der Arbeiterschaft und der sozialistischen Bewegung in Deutschland frühzeitig und intensiv und stark mit der Demokratie verband. Es war die SPD, die auf Reform statt auf Revolution setzte. Und es war die SPD, die den mühsamen und schließlich mehrheitsfähigen Weg beschritt, das Leben der Menschen konkret Stück für Stück zu verbessern, anstatt utopische Fernziele zu proklamieren. // Die kommunistische Weltbewegung entschied sich anders - allerdings mit durchgängig fatalen Folgen. Sie schuf eine neue Klasse der Machtbesitzenden und ersetzte die alte durch eine neue Ohnmacht. Auf Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Wohlstand warteten die Arbeiter vergeblich. // Umso mehr wissen wir heute den reformerischen Ansatz der Sozialdemokratie zu würdigen. Ihm verdanken wir unter anderem die ersten Arbeitsschutzgesetze und das Frauenwahlrecht. Die erste deutsche Demokratie, die Republik von Weimar, wäre wohl nicht zustande gekommen, wenn nicht die Sozialdemokraten, an ihrer Spitze Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, den Mut gehabt hätten, sich für die politische Zusammenarbeit mit den gemäßigten Kräften der bürgerlichen Parteien einzusetzen. Vor allem haben die Sozialdemokraten diese Demokratie länger und tapferer verteidigt als die meisten anderen Demokraten. Sie haben die Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität hoch gehalten und aufbegehrt gegen jene, die Unfreiheit und Krieg entfesselten. // Unvergessen ist die Rede von Otto Wels am 23. März 1933, als die Nazis bereits viele Oppositionelle inhaftiert und in die Emigration getrieben hatten. "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht": Es war - wie Peter Struck es einmal beschrieben hat - "die mutigste Rede, die je in einem deutschen Parlament gehalten wurde". // Das wollen wir uns merken. Damals haben 94 SPD-Abgeordnete mit ihrem Nein zum sogenannten Ermächtigungsgesetz nicht nur die eigene Ehre gerettet, sondern die der ersten deutschen Demokratie. Sie haben uns - nämlich allen Deutschen - ein Stück aufrechter Demokratiegeschichte geschenkt, ein Gegenstück zu Schuld und Scham, die kostbare Erfahrung, dass Menschen auch dann zu ihren Werten stehen können, wenn sie verhöhnt, gedemütigt und verfolgt sind. Dankbar würdigen wir heute ihren Mut. // Zu diesen Menschen gehörte Kurt Schumacher, einer der Abgeordneten, die das sogenannte "Ermächtigungsgesetz" ablehnten. Nach zehn Jahren KZ-Haft widerstand er nach dem Krieg der Versuchung, aus Sozialdemokraten und Kommunisten eine gemeinsame Arbeiterpartei zu schaffen. Denn er erkannte, dass die Kommunistische Partei Deutschlands - so seine Worte - "nicht eine deutsche Klassen-, sondern eine fremde Staatspartei" war. Im Osten Deutschlands konnte eine eigenständige SPD tatsächlich erst nach 1989 wieder entstehen. Auch dafür bin ich tief dankbar. // Im Westen Deutschlands hingegen hatte die SPD gemeinsam mit Konservativen und Liberalen entscheidenden Anteil daran, dass die Bundesrepublik ein funktionierender, breit legitimierter "demokratischer und sozialer Bundesstaat" werden konnte - so wie es unser Grundgesetz vorsieht, ein Dokument, das übrigens auch, wie wir alle wissen, an einem 23. Mai verabschiedet worden ist. // An Tagen wie heute wird uns bewusst, dass unsere Demokratie so stabil, bisweilen so anfällig war wie ihr jeweiliges Parteiengefüge. Die SPD kann nicht nur auf die längste Tradition der Parteien in Deutschland zurückblicken. Sie hat wohl auch den tiefgreifendsten inneren Wandel vollziehen müssen. Denn die SPD von heute ist ja keine Klassenpartei mehr. Sie hat sich im Zuge eines langen und schwierigen Lernprozesses zu einer Volkspartei entwickelt. Das Godesberger Programm von 1959 hat diesen Wandel dokumentiert, gefestigt und befördert. // Die Verdienste der SPD in der Bundesrepublik stehen den meisten von uns vor Augen. Ich nenne die gesellschaftlichen und sozialen Reformen der 70er Jahre unter Willy Brandt, ich nenne die erste, die innovative Phase der Ostpolitik, die eine Öffnung gegenüber der DDR und anderen osteuropäischen Nachbarn ermöglichte und den Eisernen Vorhang durchlässiger machte. // Der Film hat uns auch das Wirken der Bundeskanzler Helmut Schmidt und Gerhard Schröder in Erinnerung gerufen, die heute beide unter uns sind. Auch mit ihrer Kanzlerschaft sind bleibende Verdienste der SPD für die Bundesrepublik verbunden. // Das Kernthema der Sozialdemokratie ist in 150 Jahren geblieben: die solidarische Gesellschaft, die sich beständig verbessernde Demokratie. Aber in der veränderten Welt von heute stellen sich für die SPD wie für alle anderen Parteien auch neue Herausforderungen. Dazu gehört zentral, dass Parteien immer auch Teil einer sich selbst ermächtigenden Bürgergesellschaft sein müssen und erst dann belastbare Bindungen herstellen können für ein umfassendes politisches Programm. // Keine leichte Aufgabe, denn in den letzten Jahren haben wir viele Protestbewegungen erlebt, die oftmals radikaler waren als die Volksparteien und sich - oft in der Konzentration auf nur ein Thema - auch als ihre Gegenspieler darstellen konnten. Sie zeigten den Willen vieler Bürger zur Mitsprache. Das begrüße ich und unterstütze ich. Die Parteien sollten sich davor nicht fürchten, sondern umgekehrt derartige Formen der Beteiligung als so etwas wie ein Frühwarnsystem verstehen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Zugleich brauchen neue Partizipationsformen aber auch umgekehrt die Parteien, damit deren Impulse auf dem Weg der parlamentarischen Demokratie ihren Weg in unseren Alltag finden. Kurz: Neue Beteiligungsformen sind eine wichtige Ergänzung, aber sie sind kein Ersatz für die repräsentative Demokratie. // Schauen wir uns das noch einmal an - in einer Frage wird dies besonders deutlich: Bürgerinitiativen vertreten - zumeist berechtigte - Partikularinteressen, Parteien hingegen müssen stärker allgemein ausgerichtet sein, das Ganze im Blick behalten. Manchmal gelingt es Parteien sogar, gerade den eigenen Wählern Zumutungen aufzuerlegen, mit Entscheidungen, die bisherigen Linien oder kurzfristigen Parteiinteressen widersprechen. Ich weiß, so etwas ist innerhalb einer Partei nicht populär. Aber wir haben erlebt: Gerade solche Entscheidungen waren oftmals verantwortungsbewusste Entscheidungen für das ganze Land! // Heute gratuliere ich der SPD zu 150 Jahren ihres Bestehens. Ich sage Dank und Anerkennung all jenen, die in 150 Jahren für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gekämpft haben und damit das Leben von Millionen Menschen verbessert haben. // Ich verbinde diesen Dank an die SPD mit meiner Anerkennung für alle, die in allen demokratischen Parteien für unser Gemeinwohl arbeiten - ob im Ortsverein oder in der Europapolitik, ob ehrenamtlich oder hauptamtlich. Ihr Wirken trägt zum Gelingen unserer Demokratie bei. Deshalb gratuliere ich auch uns allen - dazu, dass wir unsere demokratischen Parteien haben. Sie sind wie alle menschlichen Geschöpfe mangelhaft und unvollkommen und tun deshalb gut daran, offen für Kritik und Selbstkritik, also lernfähig, zu sein. Unsere demokratischen Parteien waren immer notwendig für das Leben unserer Demokratie und sie werden auch in Zukunft unentbehrlich sein. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
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Joachim Gauck
Es ist schön, hier zu sein. Viele Menschen sind zusammengekommen, um miteinander "Ja" zu sagen zum Alter. Ich gehöre dazu. Ich stehe heute vor Ihnen als Verbündeter: Als einer, der hoffentlich bald zum dritten Mal Urgroßvater wird und der jetzt, mit 72 Jahren, eine neue, schöne und ehrenvolle Aufgabe übernehmen durfte und als einer, der Hoffnungen hat und Pläne und so das Motto dieses Seniorentages auf seine ganz eigene Gaucksche Weise mit Leben erfüllt. // Ihr Motto "Ja zum Alter!" gefällt mir. Aber je älter ich werde, desto mehr frage ich mich: Muss das eigentlich extra betont oder gar eingefordert werden? // Dass wir altern, ist ja nicht neu. Seit Menschengedenken fragen wir uns, was das Alter uns bringen wird. Die großen Philosophen und Denker haben sich mit diesem Thema befasst. Platon in seiner "Politeia", Cicero in seinem fiktiven Dialog "Cato der Ältere über das Alter", Jacob Grimm in seiner "Rede über das Alter" oder Ernst Bloch im "Prinzip Hoffnung": Sie alle und noch viele andere haben sich mit dem Alter beschäftigt. // Neu ist, dass so viele von uns um so viel älter werden - eine rasante Veränderung, die seit etwas mehr als einem Jahrhundert in Gange ist. Welch ein Segen für die, die nicht nur die Kinder, sondern auch die Enkel und sogar Urenkel aufwachsen sehen dürfen! Das war ja in anderen Generationen meistens anders. Historisch neu ist, dass ein materiell abgesicherter Lebensabend heute nicht nur Privileg von ganz wenigen ist. Welch ein Glück, wenn man mit seinem Leben etwas anzufangen weiß! Und welch ein Gewinn, wenn wir mit den geschenkten Jahren auch in der Gesellschaft gut miteinander umzugehen lernen! // Das "wenn" ist wichtig. Denn mit dem Altern verbinden sich auch viele Befürchtungen. Landauf, landab werden sie debattiert: Da ist die Sorge, dass unserer Gesellschaft die Ideen ausgehen, dass die Netze der sozialen Sicherung zerreißen könnten, dass die Kosten für Pflege und Gesundheit explodieren könnten. Da ist auch die Angst vor Armut im Alter, vor Einsamkeit und davor, ein "Pflegefall" zu werden - was für ein schreckliches und eigentlich auch verräterisches Wort - ist das, was einst ein Mensch war, ist das dann nur noch ein "Fall", Pflegefall eben? // So berechtigt die Befürchtungen im Einzelnen sind - wir dürfen uns von ihnen nicht überwältigen und vor allem nicht einschüchtern und nicht ängstigen lassen. Wir sollten sie als Anstoß nehmen, die Dinge anders und besser zu gestalten. Die höhere Lebenserwartung ist uns schließlich auch nicht einfach in den Schoß gefallen, sie ist erarbeitet und manchmal auch erkämpft worden, von Ihnen, von unseren Vorgängern. Sie ist eine Leistung unserer Zivilisation, unserer Gesellschaft und jedes Einzelnen. Wir leben gesünder, wir bekämpfen erfolgreich viele Krankheiten, wir arbeiten sicherer. Und so liegt es jetzt auch in unserer Verantwortung, das längere Leben zu einem Gewinn für alle zu machen. Und dort, wo aus Krankheitsgründen von Gewinn nun wahrlich keine Rede mehr sein kann, soll es jedenfalls darum gehen, vom Wert und von der Würde derer zu sprechen, die dieses für sich selbst nicht mehr zu reklamieren vermögen. // Die gewonnenen Lebensjahre, meine Damen und Herren, schenken uns Freizeit und Freiheit: die Freiheit, entlastet von vielen äußeren Zwängen, unsere Fähigkeiten nun weiter zu erproben und vielleicht auch weiterzugeben. Sie geben uns zugleich eine Verantwortung auf: die Verantwortung, unser Leben, solange irgend möglich, selbst zu gestalten und - was besonders schön und erfüllend ist - unsere Fähigkeiten so einzusetzen, dass das individuelle Glück des längeren Lebens auch ein Glück für unser Gemeinwohl bleibt oder wird. "Ja zum Alter!" heißt also für mich: "Ja" zum eigenverantwortlich gestalteten Leben, und "Ja" zu den Veränderungen, die wir dafür als Einzelne und als Gesellschaft anstoßen, manchmal auch ertragen müssen. // So setzen wir uns in Beziehung zur Lebenswelt unserer Enkel und Urenkel. Was wird sie erwarten, wenn sie erwachsen sind? Wie wird es aussehen, ihr Land - wird es ein Land sein, in dem alle Lebensalter menschenwürdig und verantwortlich miteinander zusammenleben? // Eines sollten wir auf jeden Fall begriffen haben: Das Alter gibt es nicht, ebenso wenig wie die Alten. Den einen versagen schon mit Mitte 60 die geistigen oder körperlichen Kräfte, die anderen können noch mit über 90 völlig klar denken und sich selbst versorgen. Wir altern so individuell, wie wir unser Leben führen, und so gut, wie es unser Schicksal und die Umstände im Lande es erlauben. Ebenso wenig gibt es den Rentner oder die Rentnerin. Manche sind kinderlos, andere haben Enkel oder gar Urenkel, die einen sind lebensfroh, die anderen frustriert. Manche können ihren Lebensabend in Wohlstand genießen, andere beziehen Renten, die kaum zum Leben reichen. Manche übrigens trotz eines Lebens voll harter Arbeit. Derartiges dürfte es ja eigentlich in diesem reichen Land gar nicht geben, nicht wahr? Aber schauen wir auf die Gesamtheit. Und da sieht es so aus, dass die heutige ältere Generation die wohlhabendste und gesündeste ist, die es in Deutschland jemals gegeben hat. Und während ich diesen Satz spreche, frage ich mich zugleich: Ist es eigentlich auch die dankbarste Generation, die es jemals gegeben hat? // Es gilt Anspruch und Wirklichkeit aneinander anzupassen. Unsere Ansprüche an den Ruhestand, unsere Vorstellungen davon, wann er beginnt und was wir mit dieser Zeit anfangen, mit der Wirklichkeit der neuen, hinzugewonnenen Jahre. Das ist unter anderem auch ein Gebot der volkswirtschaftlichen Vernunft, nicht nur, aber auch. Es ist nötig, um die Errungenschaft des Ruhestandes auch kommenden Generationen zu erhalten. Aber es ist auch in unserem eigenen Interesse. // Wir wissen doch, wie glücklich es macht, wenn wir unsere Fähigkeiten einsetzen und etwas erreichen können. Wenn wir herausholen, was in uns liegt an Kraft, an Potenz, an Verantwortungsfähigkeit. Ich bin überzeugt, dass wir gestalten können und müssen, damit es uns gut geht. Und ich glaube fest daran, dass wir Menschen lern- und begeisterungsfähig sind bis ins hohe Alter hinein - da weiß ich auch die Wissenschaft auf meiner Seite, unter dem Stichwort "Plastizität des Gehirns". Hannah Arendt hat einmal gesagt: "Verstehen beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod." Das ist die Haltung, mit der wir durchs Leben gehen sollten! // Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die von uns Älteren erwartet, veränderungsbereit zu sein, die uns die Möglichkeit zum lebenslangen Lernen auch gibt, und damit die Grundlage, lebenslang tätig zu sein. "Tätig zu sein ist des Menschen erste Bestimmung", so heißt es schon in Goethes "Wilhelm Meister". Das mag manchem Bild vom Ruhestand konterkarieren. Aber ist es nicht im Grunde viel kraftraubender, wenn man sein Leben nur auf seine Tätigkeit ausrichtet, und mit der dann plötzlich schlagartig aufhört, auf Kosten der Vielfalt an Fähigkeiten, die doch immer noch in uns stecken? Viele geraten dann in eine regelrechte Krise, wenn plötzlich Anerkennung durch Arbeit und Leistung und damit auch durch das soziale Umfeld wegbrechen. // Ich wünsche mir, dass jene, die es wollen, länger im Beruf bleiben können - unter besseren Bedingungen täten das bestimmt heute schon viele. Dazu gehört auch, dass ich mir wünsche, dass wir individuelle Übergänge ermöglichen: zwischen den Lebensphasen und zwischen unterschiedlichen Arten des Tätigseins. Ich wünsche mir, dass wir Älteren eine Chance geben, sich weiter zu entwickeln, ihnen Achtung und Wertschätzung entgegenbringen und ihren Bedürfnissen pragmatisch entgegenkommen. // Gewiss ist es nicht jedem vergönnt, bis ins hohe Alter tätig zu bleiben. Es gibt Krankheiten, Schicksalsschläge. Mancher ist früh ausgelaugt, von lebenslanger harter Arbeit und lebenslangen Strapazen. Deshalb wünsche ich mir auch: Niemandem soll Unzumutbares zugemutet werden. Aber das Zumutbare schon, denn wir alle wissen doch, wir tun einander auch nichts Gutes, wenn wir nichts von uns erwarten. Ich tue mir nichts Gutes, wenn ich nichts von mir erwarte. Ich rede in diesem Zusammenhang ganz bewusst nicht nur vom Broterwerb, sondern ich rede von Tätigkeit. // Warum, so werden mich meine Urenkelkinder vielleicht später fragen, hattet Ihr früher Euer Zusammenleben eigentlich so eingerichtet, dass den Jüngeren oft die Zeit gefehlt hat - und vielen Alten die Decke auf den Kopf gefallen ist? Und wenn sie so fragen, hätten sie recht. Warum teilen wir all diese Tätigkeiten, ohne die unsere Gesellschaft nicht funktionieren würde, nicht besser auf zwischen den Generationen und Geschlechtern - die Sorge um Kinder, die Sorge um ältere Angehörige, die Arbeit im Haushalt, das Engagement in der Nachbarschaft, in der Zivilgesellschaft und in den Ehrenämtern? Je selbstverständlicher wir schon in unseren jungen Jahren zwischen all diesen Sphären wechseln, desto selbstverständlicher wird das auch im Alter sein, nicht nur für uns, sondern auch für andere tätig zu bleiben. Es fasziniert mich immer wieder, dass es dieses abrupte Ausscheiden, wie wir es aus dem Berufsleben kennen, bei denen selten gibt, die ehrenamtlich über lange, lange Jahre aktiv gewesen sind in ihren verschiedenen sozialen Bereichen. Sei es im kirchlichen, im kulturellen, im sportlichen Bereich. Da gibt es diesen Abbruch zwischen tätig und aktiv sein und dann Ruhekissen überhaupt nicht so. Das ist ein guter Hinweis auf die Art und Weise, wie wir aktiv in dieser Lebensphase uns selber finden und unserer Gesellschaft nützen können. // Es gibt im Übrigen viele gute Ansätze für diese Art von Aktivität, von Einbezogensein in das Leben in der Gesellschaft. Immer mehr Bürgerstiftungen organisieren Gemeinsinn und bieten die Plattform, mit seinem Geld und seiner Zeit etwas Sinnvolles für das Allgemeinwohl zu leisten. Es gibt Leihomas oder -opas. Ich weiß nicht, ob die eine Antwort auf jedes Problem sind, aber immerhin will ich mich freuen, dass es sie gibt. Denn vielfach ist es so, dass es gar keine Großeltern an dem Ort gibt, wo die jungen Menschen leben und schaffen. Manche haben auch gar keine Enkelkinder und wünschten sich, gerade einmal dieser Generation begegnen zu können. Wir haben die Senior Experten. Sie teilen ihr Wissen mit den Jüngeren, bringen Erfahrungen ein aus dem weiten Feld ihres Berufslebens, helfen in Gründungsphasen von Unternehmungen oder geben Rat in Krisensituationen einer Firma oder einer beruflichen Karriere. Immer öfter ziehen Ältere und Jüngere, Familien und Singles bewusst zusammen, weil sie einander helfen und ergänzen wollen. In Seniorengenossenschaften - wie der im baden-württembergischen Riedlingen, die es seit über 20 Jahren gibt - helfen die, die noch können und rüstig sind, denen, die nicht mehr so gut auf den Beinen sind, gegen ein kleines Entgelt oder nur gegen das Versprechen, dass ihnen selbst später von anderen geholfen wird. Und es spricht vieles dafür, dass wir im mittleren Alter anderen das geben, was wir uns selbst fürs hohe Alter selber dringlich wünschen - Zuwendung, liebevolle Pflege bei weitestgehender Autonomie. // Selbstverantwortung ist in unserer Gesellschaft ein hoher Wert. Wir wissen aber natürlich auch, dass ein Moment kommen kann, in dem wir nur noch sehr bedingt selbst steuern können, was mit uns passiert. Diese Lebensphase zu akzeptieren als eine, in der die gewohnten Kategorien von Selbstverantwortung, Leistung und Nützlichkeit gar nicht mehr zählen - ja nicht mehr zählen dürfen -, ist eine der großen Herausforderungen, der wir uns zu stellen haben. Hier wird sich die Menschlichkeit unserer alternden Gesellschaft erweisen. // Wir alle werden hier sehr viel neu oder wieder neu lernen müssen, denn es wird nicht gehen ohne die Haltung von Barmherzigkeit - oder nennen Sie es einfach Solidarität miteinander. Und vielen Menschen sind solche Werte in ihren beruflichen Lebensläufen ja leider abhanden gekommen. So müssen wir zum Teil wieder erlernen, was wir eventuell früher einmal gewusst, aber dann verlernt haben bei unseren mannigfachen Formen von Egotrips oder unsozialen Arbeitsverhältnissen. // Eine weitere Herausforderung ist, zukunftsfähig zu bleiben. Früher hieß es, wir müssten die Alten fürchten, weil sie keine Angst vor der Zukunft haben. Heute fürchten viele eher die Angst der Alten vor dem Neuen. Doch der Unmut der Älteren muss uns nur dann Sorgen machen, wenn er sich aus einer generellen Abneigung jeglicher Veränderungen speist oder, was es auch gibt, aus rein egoistischen Motiven. Die meisten Älteren sind aber nicht einfach nur "Wutbürger". Sie nehmen eine ganz andere und wichtige Verantwortung wahr: kommenden Generationen ein funktionierendes Gemeinwesen zu hinterlassen. Es ist wichtig, ihre Stimme zu hören und abzuwägen: Was ist es wert, bewahrt zu werden gegen den Furor des Fortschritts - und was muss sich wirklich ändern? Und es ist gut, wenn möglichst viele der Älteren interessiert sind und bleiben. Denn wer interessiert ist, ist dazwischen, mittendrin, bringt er sich ein. // Wie gut es gelingt, dieses Interesse wach zu halten, wird auch die Zukunft unserer Demokratie mit beeinflussen. Franz Müntefering, den ich hier vorne sehe, übrigens genau acht Tage älter als ich, hat einmal den schönen Satz gesagt: "Demokratie kennt keinen Schaukelstuhl. Solange der Kopf klar ist, ist man mitverantwortlich." Und damit, meine Damen und Herren, meint er doch sicher, nicht nur für das, was uns jeweils ganz persönlich betrifft, sondern auch für das sind wir verantwortlich, was nach uns kommt, was wir weitergeben an unsere Kinder und Enkel. Ich bin sicher, Sie, meine Damen und Herren, leben genau diese Verantwortung, deshalb sind Sie hier, und deshalb danke ich Ihnen, all den Aktiven in ihrem Verband, Frau Professorin Lehr, und allen, die sich hier so engagiert einbringen. Was wäre unsere Gesellschaft ohne Ihr aktives Mittun. // Mir ist darum nicht bang, meinen Urenkeln sagen zu können: Wir werden das schaffen. Wir werden den Gewinn an Lebenszeit besser teilen - zum Vorteil von Alten und Jungen, zum Vorteil der Gesellschaft wie des Einzelnen. Wir werden das Alter als eine besondere Phase unseres Lebens schätzen und diese verantwortlich gestalten. Wir werden erkennen, dass die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen einer Gesellschaft des langen Lebens nur dann bedrohlich sind, wenn zu starr an bisherigen Systemen, Vorgaben und Eckpunkten festgehalten wird. // Wenn wir viele sind, die so denken, dann wird auch das Loslassen einst, wenn die Kräfte schwinden, uns keine Angst machen. Ich bin dankbar für die Begegnung mit Menschen, die von dem Geschenk des Alters sprechen können. Ich gebe ehrlich zu, ich muss das noch lernen, so zu sprechen. Vor etwas über 100 Jahren schrieb Rainer Maria Rilke an einen Freund: "Ich glaube an das Alter, lieber Freund, Arbeiten und Altwerden, das ist es, was das Leben von uns erwartet. Und dann eines Tages alt sein und noch lange nicht alles verstehen, nein, aber anfangen, aber lieben, aber ahnen, aber zusammenhängen mit Fernem und Unsagbarem, bis in die Sterne hinein." Welch eine Eloge auf die Möglichkeiten des Alters! // Wir alle haben nicht die poetischen Gaben eines Rainer Maria Rilke. Aber wir alle hatten und haben einen Schatz an Erfahrungen und Wissen, haben erworbene Geduld und erhaltene Ungeduld, wir haben nicht die alte, aber die uns jetzt mögliche Fähigkeit, Verantwortung zu leben. Und mit alledem kann es uns doch gelingen, unser "Ja zum Alter" zu sprechen, zu leben.
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Joachim Gauck
Es war mir in meinem Leben so wenig gesungen, Präsident zu werden, wie es Karl Carstens geschehen ist. Er kam nicht aus erlauchten Kreisen, sondern hat sich seinen Weg von unten an die Spitze einer freien Republik gebahnt. Und dass ich, der ich vom Osten her so oft sehnsüchtig ins Fernsehen geschaut habe auf das, was sich hier im deutschen Parlament der Freiheit abgespielt hat, an diesem Ort verschiedene Male sprechen kann und nun auch einen Bundespräsidenten würdigen kann, das ist ein besonderes Geschenk der Geschichte. Und es erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. // Wir ehren heute einen Mann, dessen Dienst am Gemeinwesen wir als herausragend empfinden, dessen Einsatz zur Förderung des freiheitlich verfassten Staates vorbildlich war. Deshalb treffen wir uns hier in guter Laune und mit Zuversicht, weil die Erinnerung an eine solche Haltung und an ein solches Wirken uns selber stärken soll. Karl Carstens' pragmatischer Realismus, sein Pflichtbewusstsein und die überzeugende Repräsentanz der Demokratie und unseres Gemeinwesens, das kann uns bis heute Orientierung geben. Als Realist und Pragmatiker war er bekannt. In der Rückschau treten aber auch jene Elemente seines Denkens hervor, die hineinragen bis in unsere Zeit. // Deshalb bin ich der Konrad-Adenauer-Stiftung sehr dankbar, dass sie zu dieser Gedenkstunde zum 100. Geburtstag von Karl Carstens eingeladen hat - ich bin dieser Einladung gern gefolgt. // Denn damit wird uns Gelegenheit gegeben, die Welt des Karl Carstens neu zu betrachten und seine Republik - unsere Republik! - geistig zu durchwandern. Ja, wandern. // Mit dem "Wander-Präsidenten" begeben wir uns also noch einmal zurück in jene Zeit. // Beim Wandern, das spürt man, kommt gelegentlich die Heiterkeit auf, die damals die Zeitgenossen bewegte. Das begann schon während seiner Antrittsrede, da hat er die deutsche Öffentlichkeit darüber informiert, er werde die Republik im Laufe seiner Amtszeit durchwandern, zu Fuß, etappenweise, von der Ostsee bis zu den Alpen. Natürlich gibt es Kritiker, wenn man ein solches Vorhaben ankündigt. // Und die haben dann gleich geschlossen: altbacken, irgendwie provinziell! Wandern: Wer macht das schon? Irgendwie traditionalistisch, dieser Bundespräsident. Und das nach den wilden Zeiten der 1968er Ära. // Dabei hatte Karl Carstens einen interessanten Plan. Einerseits konnte er eine Zeitströmung aufnehmen und sie zugleich auf eine zurückhaltende Weise ein wenig hinterfragen. Die Sorge um die Umwelt hatte damals besonders junge Leute ergriffen. Carstens teilte diese Sorge durchaus, wollte sich aber der generellen Wachstums- und Zivilisationskritik entgegenstellen. Es war natürlich auch das Milieu, aus dem heraus sehr forciert diese Themen angebracht wurden, von der damals sehr jungen grünen Bewegung. Das lag Carstens nicht, das müssen wir ja nicht verbergen. // Er machte sich dann auf seine Weise daran, die Naturschönheiten Deutschlands zu erkunden - zu Fuß. Das war eine ganz eigenartige, als Norddeutscher würde ich sagen, eine gediegene Einladung an das Bürgertum, ein bisschen genauer hinzuschauen, was unser Land eigentlich ausmacht. Damals gab es als Herausforderung das sogenannte "Waldsterben". Während der Wanderungen sah Carstens sich auch Demonstranten gegenüber, die darauf in besonderer Weise aufmerksam machten. Er konnte dann auf seine Weise Gespräche führen, beispielsweise über die Idee, bleifreies Benzin einzuführen. // "Unterwegs", so schrieb eine große Zeitung, "unterwegs ging den Spöttern die Luft aus". Der Bundespräsident war ja mit offenen Augen unterwegs. Und so begegnete er auf seinen Wanderungen nicht nur der Fichte und der Tanne, dem Bärwurz und dem Sonnentau, sondern er begegnete Menschen, und zwar sehr vielen Menschen. Anfangs waren es dutzende, die ihn begleiteten, später hunderte, schließlich tausende. Sie brachten gerne auch Proviant mit und Geschenke oder sangen ihm etwas vor. Das war dann so eine wunderbare Begegnungsmöglichkeit mit den Bürgern. Nach 60 Tagen und 1600 Kilometern war Karl Carstens und seiner Frau Veronica, die ihn oft begleitete, keine Sorge mehr fremd, die es in diesem Land gab. // Bei Amtsantritt hatte der Bremer Karl Carstens eher als norddeutsch-kühl gegolten, vielleicht auch als hanseatisch-streng. Aber nun zeigte sich seine Wärme, auch Herzlichkeit. Er konnte Nähe herstellen und Barrieren niederreißen. Er zeigte - wie auch sein Vorgänger Walter Scheel -, dass sich die Würde des Amtes durchaus mit Bürgernähe verträgt. Eine Kluft zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, die muss es nicht geben, das wissen wir alle. Denn in der Demokratie ist jeder Bürger gleich. Und Autorität wird in ihr nur auf Zeit verliehen, durch Wahl. Und im Mittelpunkt, auch das wissen wir, steht immer der Souverän, steht unser Volk. Indem er diese Ansichten seinerseits beglaubigte, hat Karl Carstens ein Amtsverständnis demonstriert, dem sich Bundespräsidenten bis heute verpflichtet fühlen. Sich hinein versetzen in andere, das kann eben nicht jeder. Karl Carstens hat sich diese Qualität erarbeitet, und vielleicht darf er auch damit als ein Wanderer gelten - nicht zuletzt war er auch ein Wanderer zwischen den Welten. // Er bewegte sich zwischen der Privatwirtschaft und Wissenschaft hin und her, zwischen Ministerialbürokratie und Politik. Er war Anwalt und war Diplomat, Hochschullehrer und Parlamentarier, Staatssekretär und dann Bundestagspräsident. Er brachte Erfahrungen aus der einen Sphäre ein in die andere. Sein Werdegang ist ein frühes Beispiel für eine vielseitige Karriere mit bemerkenswertem Ausgang. // Karl Carstens darf auch als Rollenvorbild für den Aufstieg durch Bildung gelten. Und meine Damen und Herren, schauen Sie sich in unserer politischen Landschaft um. Sie werden dieses Modell in den verschiedenen Parteien immer wieder erblicken. Es wäre schlimm, wenn das in unserem Land in Zukunft nicht mehr möglich wäre. Wir arbeiten daran, dass das so bleibt. // Karl Carstens hat seinen Vater nie kennengelernt, er fiel im Ersten Weltkrieg, noch vor der Geburt des Sohnes. Die Mühen der Vaterlosigkeit und drohender sozialer Abstieg prägten Carstens' Jugend. Und doch trugen ihn Talent, Fleiß und Leistungsbereitschaft in eine Bildungslaufbahn, die ihn zur Professur und schließlich ins höchste Amt unseres Staates führte. // Carstens' Karriere begann, als die Bundesrepublik gegründet wurde. Sein steiler Aufstieg ist in vielerlei Hinsicht ein Spiegel dieser Republik. Er gehörte zu jener Generation, die sich mit den Irrungen und Lasten und vielfältiger Schuld während der NS-Diktatur auseinandersetzen musste. // Und er musste diese Lehren auch für sich selbst ziehen. Als er 1979 für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, nahmen ihm Teile der Öffentlichkeit diesen Lernprozess nicht ab. Sie sahen Carstens' Wahl gar als Gipfel der Verdrängungskunst. Denn er war Mitglied der NSDAP gewesen. Tatsächlich war seinerzeit Druck auf Carstens ausgeübt worden, dass er, um Rechtsanwalt zu werden, in die Partei eintreten müsse. Karl Carstens beugte sich. Und zwar, wie er später formulierte, wider die eigenen "besseren Überzeugungen". Er selbst sagte damals, dass er "verstrickt" gewesen sei. Er benutzte dieses Wort. Eine intensive, zumal öffentliche, Auseinandersetzung mit der objektiv geringen eigenen Verstrickung suchte Carstens nicht. // Als er für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, hatte die notwendige Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus inzwischen weite Teile der Bevölkerung erreicht. In diesen Jahren war die Erkenntnis gewachsen, wie viele Personen des öffentlichen Lebens tatsächlich verstrickt gewesen waren, auf die eine oder andere Weise. Es gab auch so etwas wie eine systemische Verstrickung, die vielfach ohne persönliche Schuld war. Aber sie existierte eben, und man war zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlicher Weise bereit, darüber zu sprechen. // Aus heutiger Sicht illustrieren die damaligen Kontroversen, welch schmerzhafte Prozesse notwendig waren, um der Bundesrepublik trotz ihrer Vorgeschichte ein so ansehnliches Profil zu geben. Aus heutiger Sicht können und müssen wir sagen, dass manches damals leichter gewesen wäre, wenn mehr Betroffene früher Schuld auch als Schuld benannt und anerkannt hätten. Aber es zählt zu den großen Errungenschaften der Nachkriegsgeschichte, auf den Trümmern des Totalitarismus, auf tiefer Schuld und moralischem Versagen, ein neues Haus der Demokratie gebaut zu haben. Gewiss konnten nur wenige Repräsentanten der frühen Bundesrepublik auf eine Biographie ohne Verstrickung und ohne Widerspruch zurückblicken. Aber die meisten von denen, die in Staat und Gesellschaft Verantwortung übernahmen und sich in den demokratischen Parteien engagierten, zogen aus der Erfahrung ihrer Generation einen wichtigen Schluss: dass nur unbedingtes Eintreten für die Demokratie und den Rechtsstaat Deutschland in die Zukunft führen konnte und dass die Würde des Menschen und die Grundrechte des Einzelnen Kern dieser Republik waren. Karl Carstens hat diese Erkenntnis glaubhaft und überzeugend vertreten. Dafür sind wir ihm dankbar. // Zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn suchte er keineswegs den Weg in den öffentlichen Dienst. Nach der Befreiung wollte er staatsfern bleiben. Doch er besann sich früh, 1948, nach einem prägenden Erlebnis - einem Studienaufenthalt an der amerikanischen Yale-Universität. // Er traf dort auf den Geist der Freiheit und auf eine Bereitschaft zum Engagement für das Gemeinwohl, die ihn ansteckten und die er mit zurück nach Bremen brachte. Später habilitierte er sich mit einer Arbeit über die amerikanische Verfassung. Schließlich bedurfte es nur noch der Einladung seines Mentors, des Bremer Bürgermeisters Wilhelm Kaisen, einer der Gründungsfiguren der Bundesrepublik. Er hat sich als Sozialdemokrat übrigens schon frühzeitig für die Westintegration eingesetzt. Machen wir uns dieser Tage immer mal wieder bewusst, wie wichtig es für dieses Land ist, nicht von einem Weg abzuweichen, der so wichtig war für Deutschland, für das geteilte Deutschland wie für das wiedervereinigte. Aus diesem Grunde ist es mir an dieser Stelle eine große Freude, dass ich mit Dankbarkeit den Namen eines solchen wachen und wunderbaren Sozialdemokraten nennen kann. Dagegen hat die Adenauer-Stiftung sicher nichts einzuwenden. // Mit Hilfe von Wilhelm Kaisen fand sich nun also Karl Carstens im Staatsdienst wieder. Fortan und bis zu seinem Tod war er davon überzeugt, dass Deutschlands Platz an der Seite der freien Völker sein müsse. Die Pflege enger Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika stand für ihn "an erster Stelle aller außenpolitischen Überlegungen". Deutschland brauche Freunde und Verbündete, und die finde es im Westen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und der NATO. Denn wer verantwortlich Politik betreiben wolle, dürfe die Macht des großen Nachbarn im Osten nicht außer Acht lassen. Im westlichen Bündnis sah Carstens, so sagte er, die Grundlage für eine "kraftvolle, gesicherte, freiheitlich-demokratische Bundesrepublik". // Für Carstens, den schnell bis zum Staatssekretär aufsteigenden Diplomaten, war die große Aufgabe der Nachkriegszeit die Aussöhnung mit Frankreich. Und er hat dabei aktiv mitgewirkt. Er beschäftigte sich intensiv mit europäischen Fragen, als Wissenschaftler wie als Praktiker. // Nicht zuletzt seine Erfahrungen als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik beim Europarat und seine Teilnahme an den Verhandlungen zu den Römischen Verträgen machten ihn zum Verfechter der Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Am Erfolg der Europäischen Integration hat er großen Anteil: Als die Verhandlungen über den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Oktober 1956 in eine schwere Krise gerieten, waren es Karl Carstens und sein französischer Partner Robert Marjolin, die ein Scheitern der Verhandlungen verhinderten. Der Kontinent, davon war Karl Carstens sein Leben lang überzeugt, müsse mehr sein als nur eine Freihandelszone, er müsse sich auch politisch einigen. // Aus heutiger Perspektive wissen wir besonders zu schätzen, wie Carstens die Westintegration als Bedingung der deutschen Einheit erkannte und betonte. Nach seiner Auffassung hätte die Bundesrepublik ohne Westbindung keine hinreichende Attraktivität auf die Bewohner der DDR ausüben können. Und ohne Westintegration, ohne europäische Integration hätte man nicht Frankreich, nicht Großbritannien und auch nicht die Vereinigten Staaten dem Ziel der Wiedervereinigung verpflichten können. Daraus ergaben sich für Carstens wie selbstverständlich die Prioritäten bundesdeutscher Politik: Freiheit - Frieden - Einheit, in dieser Reihenfolge. // Und so gehörte es für den Bundespräsidenten Carstens zu den unverzichtbaren Elementen eines jeden Staatsbesuches, die Gesprächspartner daran zu erinnern, dass die Bundesrepublik auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirkt, "in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Besuchern aus den entferntesten Gegenden der Welt - wie etwa dem Königspaar von Tonga - präsentierte er dieses Zitat aus dem "Brief zur Deutschen Einheit". // Der Logik der frühen Ostpolitik mochte er nicht folgen. Nachdem die Ostverträge dann aber abgeschlossen waren, hat er gleichwohl erkannt, dass Deutschland der Wiedervereinigung ohne eine Entspannung des Verhältnisses zu den Staaten des Warschauer Paktes nicht näher kommen würde. Aus heutiger Sicht war Karl Carstens ein Deutschland- und Außenpolitiker, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass ein Land entstand, in dem wir bis heute in Freiheit, in Frieden und in Wohlstand leben können. // Er sah sein Amt als Bundespräsident als parteiferne Instanz an, übte seine verfassungsrechtlichen Pflichten mit Bedacht aus und machte gleichzeitig deutlich, dass er sich seiner amtsspezifischen Autorität bewusst war. So ließ er den Bundeskanzler einmal vertraulich wissen, dass er die Entlassung eines Ministers nicht vornehmen werde, weil er sie für ungerechtfertigt hielt. // Die wichtigste innenpolitische Entscheidung seiner Präsidentschaft hatte er Anfang 1983 zu treffen, als es darum ging, den Bundestag vorzeitig aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen. Bundeskanzler Kohl wollte - nach der Übernahme der Kanzlerschaft - seine Bundesregierung durch Bundestagswahlen grundsätzlich neu legitimieren lassen und hatte deshalb im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt - mit dem Ziel der Bundestagsauflösung. // Wie geplant, ging dann die Abstimmung verloren. // Es war nicht nur Carstens' wichtigste, es war - wie er selber sagte - seine "schwerste Entscheidung". Er beriet sich genau 21 Tage lang, so lange, wie es das Grundgesetz höchstens erlaubt. Er wusste, dass seine Entscheidung politisch und rechtlich umstritten sein würde, egal wie sie ausfiel. Er wollte sie als ordentlicher Professor des Staatsrechts vor seiner Zunft vertreten können. Und zugleich ahnte er, dass seine Entscheidung im Wege der Organklage beim Bundesverfassungsgericht angefochten werden würde, als erstes Verfahren dieser Art für einen Bundespräsidenten. // Damals, im Übergang von der SPD-FDP-Koalition zur Koalition aus Union und FDP, ging es um eine prinzipielle Frage: ob nämlich das Instrument der Vertrauensabstimmung, bewusst von der Regierungsmehrheit eingesetzt und doch in einer absehbaren Niederlage für den Bundeskanzler endend, zu einer Neuwahl führen könne und dürfe. Kritiker sahen darin eine "unechte" Vertrauensabstimmung, eine Trickserei, in der ein Vertrauensentzug nur vorgetäuscht werde. // So entstehe in der Praxis ein verfassungsfremdes Selbstauflösungsrecht des Parlaments. // Karl Carstens entschied sich für die Auflösung des Bundestages. In seiner Begründung sagte er, er habe nicht feststellen können, "aus welchen Gründen der einzelne Abgeordnete dem Bundeskanzler die Zustimmung versagt" habe. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass die vom Grundgesetz gewollte und politisch zu erstrebende stabile Regierung ohne Neuwahlen nicht mehr zu erreichen sei. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte später Carstens' Rechtsauffassung. Diese Bestätigung war für ihn essentiell, bekannte er doch später, er wäre zurückgetreten, hätte das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung nicht bestätigt. Diese Begebenheit ist bis heute bedeutsam, weil sie die Bedingungen von Misstrauensvoten und Neuwahlen zu klären half. Karl Carstens` umsichtiges Handeln im Sinne der Verfassung trug dazu bei, die Stabilität und die Regierungsfähigkeit des Landes zu sichern, zwei Prinzipien, die in der Hierarchie seiner politischen Wertmaßstäbe ganz weit oben standen. // Karl Carstens wurde auch deshalb zum respektierten Bundespräsidenten, weil er den scharfzüngigen Parteipolitiker, der er gewesen war, hinter sich ließ. Er nutzte sein Amt, um zu integrieren. Im Laufe seiner Amtszeit überzeugte er viele, die seine Wahl einst mit Skepsis betrachtet hatten. Respekt und Zuneigung aus allen Schichten der Bevölkerung kamen ihm entgegen. Daran hatte auch seine Gattin Veronica Carstens großen Anteil. Ich erinnere heute gerne an Sie. Während seiner Präsidentschaft arbeitete sie weiter als Ärztin und nahm dabei viele Sorgen und Nöte der Menschen auf. Gemeinsam gründeten sie die Karl-und-Veronica-Carstens-Stiftung. // Auch als Schirmherrin der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft erwarb sich Veronica Carstens große Verdienste. Wir dürfen uns heute auch vor ihr verneigen. // Und noch eines wollen wir nicht vergessen: Karl Carstens schöpfte aus dem christlichen Glauben und gab seine Kraft für die Idee des Gemeinwohls. Und beides hängt miteinander zusammen - so jedenfalls sehe ich das. // Die Quintessenz seines Denkens hinterließ er wenige Jahre vor seinem Tod in einer Rede in Dresden: "Wer frei ist, trägt Verantwortung, wer Rechte hat, der hat auch Pflichten, wer Ansprüche stellt, vor allem Ansprüche an den Staat, muss auch bereit sein, Leistung zu erbringen." Hinter diesen Sätzen können wir uns auch heute noch versammeln. // Verneigen wir uns also vor der Leistung eines deutschen Demokraten, und halten wir sein Andenken durch unsere Haltung und durch unsere Handlungen als Staatsbürger in Ehren.
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Joachim Gauck
Fast 40 Jahre ist es jetzt her, dass Willy Brandt Bundeskanzler war, mehr als 20 Jahre ist er nun nicht mehr unter uns. // Und doch fällt es mir schwer, in der Vergangenheitsform über ihn zu reden. Ich spreche sicher vielen aus dem Herzen, wenn ich sage: Willy Brandt ist noch immer gegenwärtig - mit allem, was er verkörpert: mit seiner Liebe zur Freiheit, mit seinem Streben nach Frieden und Gerechtigkeit, mit seiner Überzeugung, dass jede Zeit eigene Antworten will und dass wir selbst die Welt verändern müssen. // Wie sehr wirkt er damit nach, wie sehr fordert er uns alle damit heute heraus! // Die eine große Sehnsucht seines Politikerlebens, für die er so lange gekämpft hatte, als Berliner Bürgermeister, als Außenminister und Bundeskanzler - die Sehnsucht, es möge zusammenwachsen, was zusammengehört. Sie nahm noch zu seinen Lebzeiten reale Gestalt an. Gerechter Dank der Geschichte für einen, der furchtlos, geschickt und pragmatisch nach Wegen gesucht hat, wo andere nur Mauern sahen! Vor kurzem habe ich in alten Unterlagen vier handgeschriebene Blätter gefunden: meine Begrüßungsrede für Willy Brandt, der am 6. Dezember 1989 zu uns in die Marienkirche nach Rostock kam. Da war Willy Brandt schon viele Jahre ohne Staatsamt - und doch derjenige, auf den sich ganz selbstverständlich unsere Blicke richteten, weil er verkörperte, wonach wir uns sehnten. "Da begegnen wir uns nun: wir, das Volk, und Sie, der große Politiker", habe ich damals gesagt. Und: "Ihr Wort ist uns wichtig". So ist es auch heute noch - im Präsens! // Darum ist Willy Brandts 100. Geburtstag Gelegenheit zur Rückschau auf ein Jahrhundert voller Schrecken und Aufbrüche und auf das, was sich - auch ihm sei Dank - zum Guten gewandelt hat. Es ist zugleich eine gute Gelegenheit, vorauszuschauen auf das, was vor uns liegt und was Willy Brandt uns für die Zukunft aufgetragen oder doch nahegelegt hat. // So manches, was Willy Brandt in früheren Zeiten entgegenschlug, ist heute jungen Leuten kaum noch verständlich zu machen: dass einer, der den nationalsozialistischen Ungeist bekämpfen half, noch Jahrzehnte nach dem Ende des Hitlerregimes bei vielen als "Vaterlandsverräter" galt und sich fragen lassen musste, was er im Exil eigentlich gemacht habe. Unglaublich, heute, dass sein Kniefall in Warschau - diese Geste der Trauer und der Überwältigung, die auch kommende Generationen noch kennen werden - dass diese Geste vielen seiner Landsleute damals übertrieben erschien. Und später, viel später dann die Pfiffe von Unbelehrbaren vor dem Schöneberger Rathaus, als Willy Brandt mit Helmut Kohl und anderen am 10. November 1989 die Maueröffnung feierte - wie unverständlich, von heute aus betrachtet! // Heute können wir wieder ohne Nationalismusverdacht unsere Nationalhymne singen - auch das ist ein wenig Willy Brandts Verdienst. Viele konnten dank seiner wieder "ja" sagen zu unserem Land. 1972 hieß ein SPD-Wahlslogan: "Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land." So schlecht konnte dieses Land doch gar nicht sein, wenn einer wie er es trotz allem liebte! Vor allem aber hat er, der "andere Deutsche", der Europäer und Weltbürger, im Ausland glaubwürdig und zugleich selbstbewusst für neues Vertrauen geworben. // Inzwischen sind wir wieder ein "Volk der guten Nachbarn". Wir wissen um die Abgründe der deutschen Geschichte. Verantwortung für diese Geschichte zu übernehmen - so hatte es Willy Brandt schon früh gesehen - bedeutet nicht, Enthaltsamkeit zu üben in gegenwärtigen Konflikten. Im Gegenteil: Aus der Einsicht in das Vergangene erwuchs für ihn die Verantwortung für die Probleme und die Chancen der Gegenwart. 1973 erklärte er als erster deutscher Bundeskanzler vor der UN-Generalversammlung: "Wir sind [ ] gekommen, um - auf der Grundlage unserer Überzeugungen und im Rahmen unserer Möglichkeiten - weltpolitische Verantwortung zu übernehmen." Vor 40 Jahren war das, wohlgemerkt! Heute ist unserem vereinten Deutschland ungleich größere Verantwortung zugewachsen. Wir sind gut beraten, sie unseren Überzeugungen und Möglichkeiten entsprechend anzunehmen. // Von Willy Brandts Haltung in Konflikten lernen heißt: geduldig sein, Vertrauen schaffen und scheinbar unerbittliche Gegner einander schrittweise annähern. Wir sind ja manchmal geneigt zu vergessen, wie aktuell etwa die Bedrohung durch Nuklearwaffen ist, auch weit nach dem Ende des Kalten Krieges. Den gemeinsamen Aktionsplan zwischen Iran, den fünf UN-Vetomächten und Deutschland könnte man - bei aller gebotenen Vorsicht - als einen der hoffnungsvollsten Anfänge der vergangenen Jahre bezeichnen. // In vielem, was Willy Brandt sehr früh schon bewegte, sind wir auch heute noch lange nicht angekommen. Beispiel Entwicklungspolitik: Tatsächlich lebt nach wie vor ein größerer Teil der Weltbevölkerung in Armut. Beispiel Klimawandel und Umweltverschmutzung: Sie abzubremsen ist dringlicher denn je - die Folgen gerade für die Verletzlichsten erkannte Brandt als einer der ersten. Beispiel Zusammenleben der Verschiedenen: Schon früh sprach er vom "Recht der Ebenbürtigkeit, der Gleichheit und der guten Nachbarschaft" als Grundlage des Miteinanders. Ich bin mir sicher, Willy Brandt hätte auch heute viel zu sagen über das, was wir so sperrig "Integration" nennen und was doch so viel mit der Anerkennung von Unterschieden und dem Streben nach dem Gemeinsamen zu tun hat. Und er, der politische Emigrant, würde gewiss auch Partei ergreifen für die, die heute fliehen vor Unterdrückung und Gewalt. Wir wollen nicht vergessen, dass Willy Brandt, der von den Nationalsozialisten Ausgebürgerte, damals in Norwegen aufgenommen und eingebürgert wurde! Tusen takk! Ich bin gespannt, was Sie, sehr geehrter Herr Gahr Støre, und Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident, uns gleich über Willy Brandts Wirken berichten werden. // Ich kann nur jedem, der es noch nicht getan hat, wärmstens empfehlen, in den Briefen, Notizen, Tagebuchaufzeichnungen, Redemanuskripten und Memoranden der "Berliner Ausgabe" zu blättern - ich habe das Glück, die zehn Bände griffbereit in meinem Amtszimmer stehen zu haben. Willy Brandt hat immer wieder Worte gefunden für das, was andere bewegte. Und er hat andere mit seinen Worten bewegt. Als Berliner Bürgermeister in den Tagen des Mauerbaus: "Wir fürchten uns nicht!" Als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler: "Wir wollen mehr Demokratie wagen!". Oder, am Ende seines Lebens: "Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum - besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll." // So soll Willy Brandt uns noch heute prägen und ermutigen: mit seiner Haltung zu seinem Land, über das er weiter hinausblickte als die allermeisten, das er liebte mit all seinen Schwächen und zugleich verbessern wollte, und zwar durch praktische Politik, die sich im Alltag bewähren sollte, um das Leben der Menschen besser zu machen. Er hatte Träume. Aber er gab nicht vor, das Ziel der Politik ein für alle Mal zu kennen. Er sah das Offene, das Unfertige. Manchmal, so meinte er, gebe es keine Lösung. Doch handlungsfähig sind wir nicht erst dann, wenn wir das Ende einer Entwicklung benennen können. Wir sind es bereits, wenn wir darum ringen, das zu verändern, was in unserer Macht und unseren Möglichkeiten liegt, auch wenn es sich nur um das etwas Bessere handelt. Immer warb er dafür, dass sich heute für Veränderungen einsetzen muss, wer morgen besser leben will. // Wir ehren Willy Brandt darum nicht allein für das, was er getan hat, sondern auch für das, wozu er andere motiviert hat. Sein ganzes politisches Leben war eine Einladung zum Mitgestalten und Weiterdenken - übrigens auch dazu, sich nicht zufrieden zu geben mit einer alles andere ausschließenden Wahrheit, an die er, Willy Brandt, nicht mehr glauben konnte, wie er sagte: "Ich glaube an die Vielfalt und also an den Zweifel". Den produktiven Zweifel auszuhalten, ohne ihn als dominierende Lebensform zu kultivieren, auch dazu kann uns Willy Brandt motivieren. // In einer der vielen Fernsehrunden rund um den Geburtstag hat eine junge SPD-Genossin bekannt, sie fühle sich Willy Brandt zwar nicht als Person nahe, wohl aber in dem, was sie tue. Das hätte ihn gefreut. // Es hätte ihn auch gefreut zu sehen, wie viele hier zusammengekommen sind, um "danke" zu sagen, aus allen Teilen unserer Gesellschaft, aus seiner zweiten Heimat Norwegen und anderen Ländern, denen er verbunden war. Er hätte den Dank vielleicht mit dem bescheidenen Satz quittiert, den er sich angeblich einmal - mit feiner Selbstironie - als Inschrift auf seinem Grabstein wünschte: "Man hat sich bemüht". Nehmen wir sein Vermächtnis an. Es heißt: Seid nicht gleichgültig! Setzt Euch auseinander und ringt um die bessere, nicht die nächstbeste Lösung! Erkennt, was Ihr verändern und verbessern könnt. Sagt "ja" zu unserem Land, zu unseren Aufgaben und Möglichkeiten! Und habt Mut, Geduld und Zuversicht.
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Joachim Gauck
Herr Präsident des Deutschen Bundestages! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe verehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger aus dem In- und Ausland! // Zunächst Ihnen, Herr Präsident, meinen allerherzlichen Dank für die unnachahmliche Führung dieser Sitzung und für das leuchtende Beispiel in unser Land hinein, dass Politik Freude machen kann. Herr Bundesratspräsident, Sie haben Worte gefunden, die bei mir und sicher auch bei Herrn Bundespräsidenten Wulff ein tiefes und nachhaltiges Echo hinterlassen haben. Ich danke Ihnen. // Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wie soll es denn nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel einmal sagen sollen "unser Land"? Geht die Vereinzelung in diesem Land weiter? Geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auf? Verschlingt uns die Globalisierung? Werden Menschen sich als Verlierer fühlen, wenn sie an den Rand der Gesellschaft geraten? Schaffen ethnische oder religiöse Minderheiten in gewollter oder beklagter Isolation Gegenkulturen? Hat die europäische Idee Bestand? Droht im Nahen Osten ein neuer Krieg? Kann ein verbrecherischer Fanatismus in Deutschland wie in anderen Teilen der Welt weiter friedliche Menschen bedrohen, einschüchtern und ermorden? // Jeder Tag, jede Begegnung mit den Medien bringt eine Fülle neuer Ängste und Sorgen hervor. Manche ersinnen dann Fluchtwege, misstrauen der Zukunft, fürchten die Gegenwart. Viele fragen sich: Was ist das eigentlich für ein Leben, was ist das für eine Freiheit? Mein Lebensthema "Freiheit" ist dann für sie keine Verheißung, kein Versprechen, sondern nur Verunsicherung. Ich verstehe diese Reaktion, doch ich will ihr keinen Vorschub leisten. Ängste - so habe ich es gelernt in einem langen Leben - vermindern unseren Mut wie unser Selbstvertrauen, und manchmal so entscheidend, dass wir beides ganz und gar verlieren können, bis wir gar Feigheit für Tugend halten und Flucht für eine legitime Haltung im politischen Raum. // Stattdessen - da ich das nicht will - will ich meine Erinnerung als Kraft und Kraftquelle nutzen, mich und uns zu lehren und zu motivieren. Ich wünsche mir also eine lebendige Erinnerung auch an das, was in unserem Land nach all den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur und nach den Gräueln des Krieges gelungen ist. In Deutschlands Westen trug es, dieses Gelungene, als Erstes den Namen "Wirtschaftswunder". Deutschland kam wieder auf die Beine. Die Vertriebenen, gar die Ausgebombten erhielten Wohnraum. Nach Jahren der Entbehrung nahm der Durchschnittsbürger teil am wachsenden Wohlstand, freilich nicht jeder im selben Maße. // Allerdings sind für mich die Autos, die Kühlschränke und all der neue Glanz einer neuen Prosperität nicht das Wunderbare jenes Jahrzehnts. Ich empfinde mein Land vor allem als ein Land des "Demokratiewunders". Anders als es die Alliierten damals nach dem Kriege fürchteten, wurde der Revanchismus im Nachkriegsdeutschland nie mehrheitsfähig. Es gab schon ein Nachwirken nationalsozialistischer Gedanken, aber daraus wurde keine wirklich gestaltende Kraft. Es entstand stattdessen eine stabile demokratische Ordnung. Deutschland West wurde Teil der freien westlichen Welt. // Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in dieser Zeit blieb allerdings defizitär. Die Verdrängung eigener Schuld, die fehlende Empathie mit den Opfern des Naziregimes prägten den damaligen Zeitgeist. Erst die 68er-Generation hat das nachhaltig geändert. Damals war meine Generation konfrontiert mit dem tiefschwarzen Loch der deutschen Geschichte, als die Generation unserer Eltern sich mit Hybris, Mord und Krieg gegen unsere Nachbarn im Inneren wie im Äußeren vergingen. Es war und blieb das Verdienst dieser Generation, der 68er: Es war ein mühsam errungener Segen, sich neu, anders und tiefer erinnern zu können. Trotz aller Irrwege, die sich mit dem Aufbegehren der 68er auch verbunden haben, hat sie die historische Schuld ins kollektive Bewusstsein gerückt. // Diese auf Fakten basierende und an Werten orientierte Aufarbeitung der Vergangenheit wurde nicht nur richtungsweisend für uns nach 1989 in Ostdeutschland. Sie wird auch als beispielhaft von vielen Gesellschaften empfunden, die ein totalitäres oder despotisches Joch abgeschüttelt haben und nicht wissen, wie sie mit der Last der Vergangenheit umgehen sollen. // Das entschlossene Ja der Westdeutschen zu Europa ist ein weiteres kostbares Gut der deutschen Nachkriegsgeschichte, ein Erinnerungsgut, das uns wichtig bleiben sollte. Konrad Adenauer, Kanzler des Landes, das eben noch geprägt und dann ruiniert war vom Nationalismus, wird zu einem der Gründungsväter einer zukunftsgerichteten europäischen Integration. Dankbarkeit und Freude! // So wie später - 1989 - dieser nächste Schatz in unserem Erinnerungsgut. Da waren die Ostdeutschen zu einer friedlichen Revolution imstande, zu einer friedlichen Freiheitsrevolution. Wir wurden das Volk, und wir wurden ein Volk. Und nie vergessen: Vor dem Fall der Mauer mussten sich die vielen ermächtigen. Erst wenn die Menschen aufstehen und sagen: "Wir sind das Volk", werden sie sagen können: "Wir sind ein Volk", werden die Mauern fallen. // Damals wurde auf ganz unblutige Weise auch der jahrzehntelange Ost-West-Gegensatz aus den Zeiten des Kalten Krieges gelöscht, und die aus ihr erwachsende Kriegsgefahr wurde besiegt und beseitigt. // Der Sinn dessen, dass ich so spreche, ist, dass ich nicht nur über die Schattenseiten, über Schuld und Versagen sprechen möchte. Auch jener Teil unserer Geschichte darf nicht vergessen sein, der die Neugründung einer politischen Kultur der Freiheit, die gelebte Verantwortung, die Friedensfähigkeit und die Solidarität unseres Volkes umfasst. Das ist kein Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur. Das ist eine Paradigmenergänzung. Sie soll uns ermutigen: Das, was mehrfach in der Vergangenheit gelungen ist, all die Herausforderungen der Zeit anzunehmen und sie nach besten Kräften - wenn auch nicht gleich ideal - zu lösen, das ist eine große Ermutigung auch für uns in der Zukunft. // Wie soll es nun also aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel "unser Land" sagen? Es soll "unser Land" sein, weil "unser Land" soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Aufstiegschancen verbindet. Der Weg dazu ist nicht der einer paternalistischen Fürsorgepolitik, sondern der eines Sozialstaates, der vorsorgt und ermächtigt. Wir dürfen nicht dulden, dass Kinder ihre Talente nicht entfalten können, weil keine Chancengleichheit existiert. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, Leistung lohne sich für sie nicht mehr und der Aufstieg sei ihnen selbst dann verwehrt, wenn sie sich nach Kräften bemühen. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, sie seien nicht Teil unserer Gesellschaft, weil sie arm oder alt oder behindert sind. // Freiheit ist eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. Denn was Gerechtigkeit - auch soziale Gerechtigkeit - bedeutet und was wir tun müssen, um ihr näherzukommen, lässt sich nicht paternalistisch anordnen, sondern nur in intensiver demokratischer Diskussion und Debatte klären. Umgekehrt ist das Bemühen um Gerechtigkeit unerlässlich für die Bewahrung der Freiheit. Wenn die Zahl der Menschen wächst, die den Eindruck haben, ihr Staat meine es mit dem Bekenntnis zu einer gerechten Ordnung in der Gesellschaft nicht ernst, sinkt das Vertrauen in die Demokratie. "Unser Land" muss also ein Land sein, das beides verbindet: Freiheit als Bedingung für Gerechtigkeit - und Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen. // In "unserem Land" sollen auch alle zu Hause sein können, die hier leben. Wir leben inzwischen in einem Staat, in dem neben die ganz selbstverständliche deutschsprachige und christliche Tradition Religionen wie der Islam getreten sind, auch andere Sprachen, andere Traditionen und Kulturen, in einem Staat, der sich immer weniger durch nationale Zugehörigkeit seiner Bürger definieren lässt, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu einer politischen und ethischen Wertegemeinschaft, in dem nicht ausschließlich die über lange Zeit entstandene Schicksalsgemeinschaft das Gemeinwesen bestimmt, sondern zunehmend das Streben der Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen: diesem unseren Staat in Europa. // Und wir finden dieses Gemeinsame in diesem unseren Staat in Europa, in dem wir in Freiheit, Frieden und in Solidarität miteinander leben wollen. // Wir wären allerdings schlecht beraten, wenn wir aus Ignoranz oder falsch verstandener Korrektheit vor realen Problemen die Augen verschließen würden. Hierauf hat bereits Bundespräsident Johannes Rau in seiner Berliner Rede vor zwölf Jahren eindrücklich und deutlich hingewiesen. Aber in Fragen des Zusammenlebens dürfen wir uns eben nicht letztlich von Ängsten, Ressentiments und negativen Projektionen leiten lassen. Für eine einladende, offene Gesellschaft hat Bundespräsident Christian Wulff in seiner Amtszeit nachhaltige Impulse gegeben. Herr Bundespräsident Wulff, dieses - Ihr - Anliegen wird auch mir beständig am Herzen liegen. // Unsere Verfassung, meine Damen und Herren, spricht allen Menschen dieselbe Würde zu, ungeachtet dessen, woher sie kommen, woran sie glauben oder welche Sprache sie sprechen. Sie tut dies nicht als Belohnung für gelungene Integration, sie versagt dies aber auch nicht als Sanktion für verweigerte Integration. Unsere Verfassung wie unser Menschsein tragen uns auf, im Anderen geschwisterlich uns selbst zu sehen: begabt und berechtigt zur Teilhabe wie wir. // Der Philosoph Hans-Georg Gadamer war der Ansicht, nach den Erschütterungen der Geschichte erwarte speziell uns in Europa eine "wahre Schule" des Miteinanders auf engstem Raum. "Mit dem Anderen leben, als der Andere des Anderen leben." Darin sah er die ethische und politische Aufgabe Europas. Dieses Ja zu Europa gilt es nun ebenfalls zu bewahren. Gerade in Krisenzeiten ist die Neigung, sich auf die Ebene des Nationalstaats zu flüchten, besonders ausgeprägt. Das europäische Miteinander ist aber ohne den Lebensatem der Solidarität nicht gestaltbar. // Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr Europa wagen. // Mit Freude sehe ich auch, dass die Mehrheit der Deutschen diesem europäischen Gedanken wieder und weiter Zukunft gibt. // Europa war für meine Generation Verheißung - aufbauend auf abendländischen Traditionen, dem antiken Erbe einer gemeinsamen Rechtsordnung, dem christlichen und jüdischen Erbe. Für meine Enkel ist Europa längst aktuelle Lebenswirklichkeit mit grenzüberschreitender Freiheit und den Chancen und Sorgen einer offenen Gesellschaft. Nicht nur für meine Enkel ist diese Lebenswirklichkeit ein wunderbarer Gewinn. // Wie kann es noch aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel "unser Land" sagen sollen? Nicht nur bei uns, sondern auch in Europa und darüber hinaus ist die repräsentative Demokratie das einzig geeignete System, Gruppeninteressen und Gemeinwohlinteressen auszugleichen. // Das Besondere dieses Systems ist nicht seine Vollkommenheit, sondern dass es sich um ein lernfähiges System handelt. // Neben den Parteien und anderen demokratischen Institutionen existiert aber eine zweite Stütze unserer Demokratie: die aktive Bürgergesellschaft. Bürgerinitiativen, Ad-hoc-Bewegungen, auch Teile der digitalen Netzgemeinde ergänzen mit ihrem Engagement, aber auch mit ihrem Protest die parlamentarische Demokratie und gleichen Mängel aus. Und: Anders als die Demokratie von Weimar verfügt unser Land über genügend Demokraten, die dem Ungeist von Fanatikern, Terroristen und Mordgesellen wehren. Sie alle bezeugen - aus unterschiedlichen politischen oder religiösen Gründen: Wir lassen uns unsere Demokratie nicht wegnehmen, wir stehen zu diesem Land. // Wir stehen zu diesem Land, nicht weil es so vollkommen ist, sondern weil wir nie zuvor ein besseres gesehen haben. // Speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer Demokratie sagen wir mit aller Deutlichkeit: Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. // Wir schenken Euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben. // Die Extremisten anderer politischer Richtungen werden unserer Entschlossenheit in gleicher Weise begegnen. Und auch denjenigen, die unter dem Deckmantel der Religion Fanatismus und Terror ins Land tragen und die hinter die europäische Aufklärung zurückfallen, werden wir Einhalt gebieten. Ihnen sagen wir: Die Völker ziehen in die Richtung der Freiheit. Ihr werdet den Zug vielleicht behindern, aber endgültig aufhalten könnt ihr ihn nicht. // Mir macht allerdings auch die Distanz vieler Bürgerinnen und Bürger zu den demokratischen Institutionen Angst: die geringe Wahlbeteiligung, auch die Geringschätzung oder gar Verachtung von politischem Engagement, von Politik und Politikern. "Was?", so hören wir es oft im privaten Raum, "Du gehst zur Sitzung eines Ortsvereins?" "Wie bitte, Du bist aktiv in einer Gewerkschaft?" Manche finden das dann "uncool". Ich frage mich manchmal: Wo wäre eigentlich unsere Gesellschaft ohne derlei Aktivitäten? // Wir alle haben nichts von dieser Distanz zwischen Regierenden und Regierten. Meine Bitte an beide, an Regierende wie Regierte, ist: Findet Euch nicht ab mit dieser zunehmenden Distanz. // Für die politisch Handelnden heißt das: Redet offen und klar, dann kann verloren gegangenes Vertrauen wiedergewonnen werden. // Den Regierten, unseren Bürgern, muten wir zu: Ihr seid nicht nur Konsumenten. Ihr seid Bürger, das heißt Gestalter, Mitgestalter. Wem Teilhabe möglich ist und wer ohne Not auf sie verzichtet, der vergibt eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins: Verantwortung zu leben. // Zum Schluss erlaube ich mir, Sie alle um ein Geschenk zu bitten: um Vertrauen. Zuletzt bitte ich Sie um Vertrauen in meine Person. Davor aber bitte ich Sie um Vertrauen zu denen, die in unserem Land Verantwortung tragen, wie ich diese um Vertrauen zu all den Bewohnern dieses wiedervereinigten und erwachsen gewordenen Landes bitte. Und davor wiederum bitte ich Sie alle, mutig und immer wieder damit zu beginnen, Vertrauen in sich selbst zu setzen. Nach einem Wort Gandhis kann nur ein Mensch mit Selbstvertrauen Fortschritte machen und Erfolge haben. Dies gilt für einen Menschen wie für ein Land, so Gandhi. // Ob wir den Kindern und Enkeln dieses Landes Geld oder Gut vererben werden, das wissen wir nicht. Aber dass es möglich ist, nicht den Ängsten zu folgen, sondern den Mut zu wählen, davon haben wir nicht nur geträumt, sondern das haben wir gelebt und gezeigt. Gott und den Menschen sei Dank: Dieses Erbe dürfen sie erwarten.
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Joachim Gauck
Ich habe mich auf meinen Antrittsbesuch bei der Bundeswehr ganz besonders gefreut. Sie können sich wahrscheinlich nur sehr bedingt vorstellen, warum das so ist und warum ich so gerne zu Ihnen gekommen bin, hier an die Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. // Soldaten und Militär - das war nämlich in meinem früheren Leben allgegenwärtig, in den Gesellschaften, in denen ich lebte bis zu meinem 50. Lebensjahr. Es sind keine guten Gefühle, die in mir hochkommen, wenn ich an diese Zeit denke. Wenn ich mich erinnere an all diese Aufmärsche, an die Militarisierung unserer Schulen, an die Erziehung zum Hass auch im Offizierscorps und unter den Soldaten, an die Ablehnung eines Zivildienstes durch Partei und Staat, an die militärische "Absicherung" einer unmenschlichen Grenze - und zwar nicht gegen einen Aggressor, sondern gegen das eigene Volk. Ich habe also in einem Land gelebt, in dem die Armee einer Partei verpflichtet war. Eine Armee, die "Volksarmee" hieß, aber es nicht war. Eine Partei, die von sich behauptet hat, den Volkswillen zu vertreten und die sich nicht gescheut hat, Soldaten unter Umständen auch gegen das Volk einzusetzen. Ich habe das Militärische also kennengelernt als eine - nicht nur physische - Begrenzung von Freiheit. // Und nun stehe ich vor Ihnen hier in Hamburg als Bundespräsident des vereinigten Deutschland. Ich stehe vor der Bundeswehr, zu der ich seit zweiundzwanzig Jahren auch "meine Armee" sagen kann. Und bin froh, weil ich zu dieser Armee und zu den Menschen, die hier dienen, aus vollem Herzen sagen kann: Diese Bundeswehr ist keine Begrenzung der Freiheit, sondern eine Stütze der Freiheit. // Jetzt ahnen Sie vielleicht, wie wertvoll dieser Besuch für mich ist und wie wertvoll die Begegnungen mit gebildeten Offizieren, die ich heute haben konnte, für mich sind. Welch ein Glück, dass es uns gelungen ist, nach all den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland und nach den Gräueln des Krieges, in diesem Land eine Armee zu schaffen: eine Armee des Volkes, diesmal im besten Sinne, kein Staat im Staate in preußischer Tradition, keine Parteienarmee, sondern eine "Parlamentsarmee", an demokratische Werte gebunden, an Grundgesetz und Soldatengesetz; eine Armee unter der Befehlsgewalt eines Zivilisten, rekrutiert aus eigenverantwortlichen Bürgern und heute auch Bürgerinnen, die zu kritischen Geistern ausgebildet werden in Institutionen wie dieser; eine Armee, deren Einsätze unter dem Vorbehalt und der Zustimmung durch unsere Volksvertreter stehen und - wenn auch nicht genügend - öffentlich diskutiert werden. // All das kann einer wie ich, der zwei Drittel seines bisherigen Lebens in Diktaturen verbracht hat, nicht als selbstverständlich empfinden. In vielen Ländern der Welt ist es leider auch heute keine Selbstverständlichkeit. Und so ist für mich die Bundeswehr Teil dessen, was ich kürzlich in meiner Antrittsrede als "Demokratiewunder" in Deutschland bezeichnet habe. Ein Demokratiewunder, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen vollzogen hat - und vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten dann auch im Osten unseres Landes mit einer ganz eigenen Dynamik. // Ich denke daran, wie in den Jahren nach 1990 die Bundeswehr eine "Armee der Einheit" wurde - und wie aus Soldaten, die einst vielleicht aufeinander hätten schießen müssen, Kameraden wurden. Daran hat übrigens auch die engagierte Bildungsarbeit der Bundeswehr einen großen Anteil und ich denke an die verantwortlichen Offiziere und Politiker, die daran maßgeblich mitgewirkt haben, mit Dankbarkeit. Und ich möchte mit meinem Antrittsbesuch an diesem Ort, an diese komplizierte Phase ganz bewusst erinnern. Es gehört mit zu den Führungsaufgaben die Sie begleitet und gestaltet haben. // Liebe Soldatinnen und Soldaten, Sie schützen und verteidigen das, was uns am wichtigsten ist, auch über die Grenzen unseres Landes hinaus: Freiheit und Sicherheit, Menschenwürde und das Recht jedes Einzelnen auf Unversehrtheit. Sie handeln dabei im Auftrag einer freiheitlichen Demokratie. Sie sind als "Staatsbürger in Uniform" Teil dieser Gesellschaft, Sie stehen mit Ihrem Dienst für diese Gesellschaft ein. // Diese Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt, und auch Sie in der Bundeswehr stehen vor Aufgaben des Wandels. Ich nenne nur ein paar Stichworte: zunehmende finanzielle Zwänge, Reformen, damit haben Sie hier natürlich eine jahrzehntelange Übung, technische Neuerungen, Schließung von Standorten; die vollständige Öffnung der Bundeswehr für Frauen und, erst kürzlich, der Wegfall der allgemeinen Wehrpflicht, was viele in Deutschland noch bis heute nicht richtig verstanden haben, dazu gemeinsame Auslandseinsätze mit verbündeten Nationen und neue Arten von Bedrohungen und asymmetrischen Kriegen. // Vieles haben Sie gemeistert, vieles müssen Sie noch meistern. Sie werden es meistern, da bin ich mir sicher. Denn Sie stellen sich hier professionell und mit einem hohen Ethos darauf ein. // Diese Bundeswehr hat nie auf starre Strukturen und Prinzipien gesetzt. Sie hat sich bewusst und bedacht von vielen unguten militärischen Traditionen abgesetzt, auch wenn das in der Geschichte der Bundeswehr sicher manchem alt gedienten Offizier anderer Armeen nicht immer leicht gefallen ist. Sie hat mit ihrer Kultur der "inneren Führung" Diskussion und Reflexion möglich gemacht und damit auch Veränderungsfähigkeit. Bei meinem Rundgang hier in der Führungsakademie war ich sehr beeindruckt von dem, was Sie "Veränderungsmanagement" nennen. Diese Lernfähigkeit bei gleichzeitig fester Wertebasis ist das Fundament, auf das die Bundeswehr auch in Zukunft bauen kann. // Die Welt um uns verändert sich rasant. "Wir übernehmen jetzt Verantwortung für Dinge, über die wir früher nicht einmal nachgedacht hätten", so hat es kürzlich General Carl-Hubertus von Butler ausgedrückt, bis vor kurzem Befehlshaber des Heeresführungskommandos. Vor wenigen Tagen ging durch die Presse, wie sich die Bundeswehr für den sogenannten "Cyberkrieg" rüstet. Und während wir hier sitzen, stehen Tausende von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr auf drei Kontinenten in Einsätzen ihren Mann und ihre Frau. // Die Bundeswehr auf dem Balkan, am Hindukusch und vor dem Horn von Afrika, im Einsatz gegen Terror und Piraten - wer hätte so etwas vor zwanzig Jahren für möglich gehalten? Sie, liebe Soldatinnen und Soldaten, werden heute ausgebildet mit der klaren Perspektive, in solche Einsätze geschickt zu werden - mit allen Gefahren für Leib, Seele und Leben. Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir, die Zivilen, uns bewusst machen, was Ihnen abverlangt wird und welche Aufgaben wir von Ihnen in der Zukunft erwarten. All das darf nicht allein in Führungsstäben und auch nicht allein im Parlament debattiert werden. Es muss da debattiert werden, wo unsere Streitkräfte ihren Ort haben: in der Mitte unserer Gesellschaft. // Sie werden jetzt vielleicht - und zu Recht - sagen: bitte, an uns soll's nicht liegen, das kann ja geschehen. Wir hätten gerne mehr als bloß das heute sprichwörtliche "freundliche Desinteresse", das schon der frühere Bundespräsident Horst Köhler bedauernd festgestellt hat. Die Bundeswehr steht zwar mehr denn je unter Beobachtung der Medien. Und doch ist sie im öffentlichen Bewusstsein nicht sehr präsent. // Es liegt wohl zum einen an der unvermeidlichen räumlichen Distanz: Viele Standorte der Bundeswehr mussten geschlossen werden, Sie sind als Soldatinnen und Soldaten im Alltag unserer Städte und Gemeinden einfach weniger präsent. Und wer kann sich schon vorstellen, als Zivilist in dem so friedlichen Deutschland, wie es sich lebt in Masar-i-Scharif oder in Prizren, welche Entbehrungen diejenigen in Kauf nehmen müssen, die außerhalb der Feldlager ihren Auftrag erfüllen, welchen Belastungen sie tatsächlich tagtäglich ausgesetzt sind? // Zum anderen ist es aber so, dass bei vielen ein Nicht-Wissen-Wollen existiert. Das ist irgendwie menschlich: Wir wollen nicht behelligt werden mit Gedanken, dass es langfristig auch uns betreffen kann, wenn anderswo Staaten zerfallen oder Terror sich ausbreitet, wenn Menschenrechte systematisch missachtet werden. Wir denken eben nicht gerne daran, dass es heute in unserer Mitte wieder Kriegsversehrte gibt. Menschen, die ihren Einsatz für Deutschland mit ihrer seelischen oder körperlichen Gesundheit bezahlt haben. Und noch viel weniger gerne denken wir daran, dass es wieder deutsche Gefallene gibt, das ist für unsere glückssüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen. // Die Abscheu gegen Gewalt ist dabei verständlich. Gewalt, auch militärische Gewalt, wird ja immer ein Übel bleiben. Aber sie kann - solange wir in der Welt leben, in der wir leben - eben nicht in einer geheilten, sondern in einer tief gespaltenen Welt, sie kann in einer solchen Welt notwendig und sinnvoll sein, um ihrerseits Gewalt zu überwinden oder zu unterbinden. Allerdings müssen wir dann, wenn wir zu dem letzten Mittel der militärischen Gewalt greifen, diese gut begründen. Wir müssen diskutieren: darüber, ob wir mit ihr die gewünschten Ziele erreichen oder ob wir schlimmstenfalls neue Gewalt erschaffen. Wir müssen auch darüber diskutieren, ob wir im Einzelfall die Mittel haben, die für ein sinnvolles Eingreifen nötig sind. Alle diese Fragen gehören - mit den handelnden Personen - gehören sie in die Mitte unserer Gesellschaft. // Dass Frieden, Freiheit und Achtung der Menschenrechte vielfach nicht von alleine entstehen - wer wüsste das besser als wir Deutschen? Es waren ausländische Soldaten, die unserem Land die Möglichkeit der Freiheit schenkten, als sie selbst für ihre eigene Freiheit kämpften. Deshalb: "Ohne uns" als purer Reflex kann keine Haltung sein, wenn wir unsere Geschichte ernst nehmen. Unsere Bundeswehr hat sich von unseligen militärischen Traditionen gelöst, sie ist fest verankert in einer lebendigen Demokratie. Sie hat deshalb unser Zutrauen verdient, nicht nur in Debatten um den "gerechten Krieg" zu bestehen, sondern auch einem "gerechten Frieden" den Weg zu bahnen, indem sie beiträgt zur Lösung von Konflikten, indem sie friedliche Koexistenz zu schaffen sucht, dort wo Hass regiert. // Freiheit, so haben wir gelernt, ist ohne Verantwortung nicht zu haben. Sie entbehrt auch ihres Wertes und ihrer Würde ohne diesen Begriff. Für Sie, liebe Soldatinnen und Soldaten, ist diese Haltung schrittweise selbstverständlich geworden. Ist sie es auch in unserer Gesellschaft? Freiheit und Wohlergehen sehen viele als Bringschuld der Demokratie und des Staates. Manche verwechseln dabei aber Freiheit mit Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit oder auch Hedonismus. Andere sind wiederum sehr gut darin, ihre Rechte wahrzunehmen oder gegebenenfalls sie auch vehement einzufordern. Und vergessen dabei allzu gern, dass eine funktionierende Demokratie auch Einsatz fordert, Aufmerksamkeit, Mut, und eben manchmal auch das Äußerste, was ein Mensch geben kann: das Leben, das eigene Leben. // Diese Bereitschaft zur Hingabe ist selten geworden in Zeiten, da jeder für sich selbst Verantwortung zu übernehmen hat - und zu viele meinen, damit schon genug Verantwortung zu tragen. Hier, in der Bundeswehr, treffe ich überall auf Menschen mit der Bereitschaft, sich für etwas einzusetzen - gewissermaßen treffe ich auf "Mut-Bürger in Uniform"! // Man trifft diese Bereitschaft selbstverständlich auch an anderen Orten, in sehr vielen zivilen sozialen Berufen etwa oder etwa wenn man die Orden verleiht, wie es Bundespräsidenten regelmäßig tun dürfen. Diejenigen, die ich jetzt anspreche, sind nicht die einzigen, die Freiheit als Verantwortung definieren, sondern es gibt ganze Netzwerke in unserer Gesellschaft von Menschen, die es genauso sehen, ob als Zivilisten oder in Uniform. Für solche Menschen hat das Wort "dienen" keinen altmodischen Klang. Es ist Teil ihres Lebens oder - wie in Ihrem Fall - auch ihres Berufes. Darum ist ja auch die Bezeichnung "Staatsbürger in Uniform" so gut, wir wollen sie bewahren: Sie sind eben nicht nur Bürger, sondern auch Staatsbürger, diesem Land verpflichtet. // Ihr Werbespruch "Wir. Dienen. Deutschland." trifft es auf den Punkt - das heißt, mit gleich drei Punkten nach meinem Geschmack fast zuviel, aber Sie haben ja etwas beabsichtigt mit dieser Punktierung. Er trifft, nicht allein, was das "dienen" betrifft. Er lässt eben auch einen Patriotismus aufscheinen, der sich - frei nach Johannes Rau - darin zeigt, dass man sein Heimatland liebt, die Heimatländer der anderen darum aber nicht verachten muss. // Und auch dem "Wir" dient diese Bundeswehr in einem ganz besonderen Sinn: Keine Institution hat so umfassend und so früh junge Menschen, junge Männer aus beiden Teilen Deutschlands zusammengebracht, unmittelbar nach der Neuvereinigung unseres Landes. Hier arbeiten Menschen aus Ost und West, aus Nord und Süd, junge und ältere, solche mit und ohne ausländische Wurzeln zusammen. Und durch die Tore dieser Führungsakademie laufen täglich Militärangehörige aus rund 60 Nationen. Gemeinsame Einsätze mit befreundeten Streitkräften und insbesondere auch Ausbildungen wie der "Lehrgang Generalstabs-/ Admiralstabsdienst mit internationaler Beteiligung", der heute sein 50. Jubiläum feiert, sind wichtige Motoren der Verständigung zwischen ganz unterschiedlichen Völkern. Ich gratuliere Ihnen zu dieser guten Tradition. Die Bundeswehr ist - gerade durch solche Lehrgänge und Begegnungen - zu einem Friedensmotor geworden. Sie befördert das große "Wir", ohne das ein dauerhafter Friede nicht möglich ist. // Wie bildet man Menschen aus, die solch wichtige Aufgaben übernehmen? An dieser Führungsakademie, das habe ich gespürt, wird kein geistiger Gleichschritt gelehrt. Hier werden Persönlichkeiten gebildet und eine Fülle von Fähigkeiten entwickelt: Entscheidungsvermögen und Übersicht in fordernden Gefechtssituationen, aber auch politisches Urteilsvermögen und diplomatisches Fingerspitzengefühl, die Fähigkeit, Widerspruch in Rede und Gegenrede zu begründen, interkulturelle Kompetenz und der Umgang mit Medien. Alles in allem: die hohe Kunst, Verantwortung zu übernehmen. // "Sie stehen nicht nur persönlich vor ihren eigenen Soldaten im Rampenlicht, sondern als Verantwortliche der Bundeswehr mitten in den Fragestellungen unserer ganzen Gesellschaft." So hat es Richard von Weizsäcker vor 25 Jahren - und bis heute zutreffend - formuliert. Für diese wichtige Aufgabe wünsche ich Ihnen weiterhin viel Glück, Mut, Selbst- und Gottvertrauen. Ich bin froh, Ihnen heute aus vollem Herzen sagen zu können: Für diese unsere Bundeswehr bin ich dankbar! Das sagt der Bürger Joachim Gauck genauso wie der Bundespräsident.
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Joachim Gauck
Mit großer Überraschung und tiefer Bewegung haben die Bürger in Deutschland erfahren, dass Papst Benedikt XVI. seinen Rücktritt angekündigt hat. // Für diesen historisch höchst seltenen Entschluss sind großer Mut und Selbstreflexion nötig. Beides findet meinen außerordentlichen Respekt. Ich finde in dieser Geste auch den Mann wieder, den ich vor Kurzem erst bei einem langen Besuch persönlich kennenlernen durfte. Sein Glaube, seine Weisheit und seine menschliche Bescheidenheit haben mich tief beeindruckt. // Für uns Deutsche hat dieser Papst eine besondere Bedeutung. Denn dass ein Deutscher die Nachfolge von Johannes Paul II. antrat, war von historischer Bedeutung für unser Land. // In Benedikts Wirken verbinden sich hohe theologische und philosophische Bildung mit einfacher Sprache und mit Menschenfreundlichkeit. Deswegen fanden viele Menschen, nicht nur Katholiken, in seiner Person und in seinen Schriften und Ansprachen Orientierung und Ermutigung zum Glauben. // Papst Benedikt begriff den kritischen und konstruktiven Dialog zwischen Vernunft und Glauben als eine zentrale intellektuelle Aufgabe der Gegenwart - und er selber hat unermüdlich dazu beigetragen. // Benedikt XVI. war als Papst der ganzen Welt verpflichtet, aber er blieb auch im Herzen immer mit seiner Heimat verbunden. Das konnten wir bei seinen Besuchen in Deutschland spüren, vor allem bei seiner Reise nach Bayern. Unvergessen sind aber auch seine Besuche zum Weltjugendtag in Köln, in Berlin oder im Eichsfeld oder in Freiburg. Eindrücklich ist uns auch seine leidenschaftliche und nachdenkliche Rede vor dem Deutschen Bundestag geblieben. // "Deus caritas est - Gott ist die Liebe" - Dieser Titel seiner ersten Enzyklika war Papst Benedikts Überzeugung und feste Orientierung. Dafür ist er ein glaubwürdiger Zeuge. // In Respekt vor seinem Entschluss wünschen wir ihm einen erfüllten und gesegneten Lebensabend.
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Joachim Gauck
Übermorgen ist es siebzig Jahre her, dass der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging - jener mörderische Schrecken, der von Deutschland ausgegangen war. // Der Krieg ging endlich zu Ende, der unseren Kontinent verwüstete, in dem die Juden Europas ermordet wurden, in dessen Verlauf Millionen von Soldaten und Zivilisten starben, in dessen Folge in vielen Ländern Millionen aus ihrer Heimat vertrieben wurden, als dessen Ergebnis Europa, mitten darin Deutschland, ein halbes Jahrhundert geteilt war. // Dieser Krieg endete erst, als die westlichen Alliierten und die Sowjetunion gemeinsam Deutschland zur Kapitulation gezwungen hatten und uns Deutsche damit auch von der Nazi-Diktatur befreiten. Wir Nachgeborenen in Deutschland haben allen Grund, für diesen aufopferungsvollen Kampf unserer ehemaligen Gegner in Ost und West dankbar zu sein. Er hat es möglich gemacht, dass wir in Deutschland heute in Freiheit und Würde leben können. Wer wäre nicht dankbar dafür? // Hier in Schloß Holte-Stukenbrock erinnern wir in dieser Stunde an eines der größten Verbrechen in diesem Krieg: Millionen von Soldaten der Roten Armee sind in deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben gebracht worden - sie gingen an Krankheiten elendig zugrunde, sie verhungerten, sie wurden ermordet. Millionen von Kriegsgefangenen, die doch nach Kriegsvölkerrecht und internationalen Verabredungen in der Obhut der Deutschen Wehrmacht standen. // Sie wurden auf lange Fußmärsche gezwungen, in offenen Güterwagen verschickt, sie kamen in sogenannte Auffang- oder Sammellager, in denen es anfangs so gut wie nichts gab - keine Unterkunft, keine ausreichende Verpflegung, keine sanitären Anlagen, keine medizinische Betreuung -, nichts. Sie mussten sich Erdlöcher graben, sich notdürftig Baracken bauen - sie versuchten verzweifelt, irgendwie zu überleben. Dann wurden sie in großer Zahl zum Arbeitseinsatz gezwungen, den sie, geschwächt und ausgehungert, wie sie waren, oft nicht zu überleben vermochten. // Wenige hundert Meter von hier war das Kriegsgefangenenlager "Stalag 326 Senne". Mehr als 310.000 Kriegsgefangene waren hier. Sehr viele von ihnen sind umgekommen, Zehntausende sind hier begraben. // Was sagen Zahlen? Wenig - und doch, sie geben Auskunft, sie geben uns zumindest eine Vorstellung von dem Schrecken und von der unbarmherzigen Behandlung, die die Sowjetsoldaten in deutscher Gefangenschaft erlitten haben. Wir müssen heute davon ausgehen, dass von über 5,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen deutlich mehr als die Hälfte umkam. Millionen Schicksale, Millionen Namen, Millionen Lebensgeschichten. Es waren Russen, Ukrainer, Weißrussen, Kirgisen, Georgier, Usbeken, Kasachen, Turkmenen - Soldaten aus allen Völkern, die damals zur Sowjetunion gehörten. // Wenn wir betrachten, was mit den westalliierten Kriegsgefangenen geschah, von denen etwa drei Prozent in der Gefangenschaft umkamen, dann sehen wir den gewaltigen Unterschied: Anders als im Westen war der Krieg im Osten vom nationalsozialistischen Regime von Anfang an als ein Weltanschauungs- und Vernichtungs- und Ausrottungskrieg geplant - und in der Regel auch geführt, denken wir zum Beispiel an diese schreckliche jahrelange Belagerung Leningrads mit dem Ziel des Aushungerns einer Millionenstadt. Denken wir an die Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung in allen besetzten Ländern, ganz besonders aber in der Sowjetunion. Das geschah bewusst und vorsätzlich und auf ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers. Die Wehrmacht setzte diese Befehle bereitwillig um. Es war der Generalstabschef Halder, der im Mai 1941 formulierte: "Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad". Dementsprechend sollten die Gefangenen behandelt werden, und das ist bei den Völkern der ehemaligen Sowjetunion bis heute in unauslöschlicher Erinnerung. // Als die Sowjetunion sich ganz zu Beginn des Krieges bereit erklärt hatte, über das Rote Kreuz mit dem Deutschen Reich eine Vereinbarung über die Behandlung der Kriegsgefangenen zu schließen, da lehnte Hitler das brüsk ab - und er sorgte dafür, dass seine Ablehnung in Millionen von Flugblättern auch seinen Soldaten bekannt wurde. Denn er hatte ein Ziel, und es war eindeutig: Kein deutscher Soldat sollte glauben, dass er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft überhaupt überleben könnte. Alle sollten bis zum letzten Atemzug kämpfen und sich auf keinen Fall ergeben. Das Schicksal derjenigen seiner Soldaten, die dann doch gefangen wurden, war dem Obersten Befehlshaber vollkommen gleichgültig. // Nun schauen wir auf die andere Seite. Auf der anderen Seite dekretierte Stalin: Wenn ein sowjetischer Soldat gefangen werde, habe er nicht bis zuletzt gekämpft, konnte gleichsam also nur desertiert sein, also irgendwie ein Verrätersein. Deswegen erwarteten bei Kriegsende sehr viele in die Heimat entlassene sowjetische Kriegsgefangene erneute Lagerhaft, oft sogar der Tod. Wir können nur ahnen, wie viele Mütter, wie viele Ehefrauen, wie viele Bräute, wie viele Kinder noch nach Kriegsende vergeblich gewartet haben; und auch wie schwer es für sie war, damals dieser ihrer Toten zu gedenken. // Als Deutsche fragen wir uns aber zuerst nach deutscher Schuld und Verantwortung. Und für uns bleibt festzuhalten, dass der millionenfache Tod derer, die unter der Verantwortung der Deutschen Wehrmacht starben, "eines der größten deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs" gewesen ist. Viele wollten das nach dem Krieg noch sehr lange Zeit nicht wahrhaben. Aber spätestens heute wissen wir: Auch die Wehrmacht hat sich schwerer und schwerster Verbrechen schuldig gemacht. // Aus mancherlei Gründen ist dieses grauenhafte Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein gekommen - es liegt bis heute in einem Erinnerungsschatten. Das mag damit zu tun haben, dass die Deutschen in den ersten Jahren nach dem Krieg vor allem an ihre eigenen Gefallenen und Vermissten gedacht haben, auch an die Kriegsgefangenen, die zum Teil noch bis 1955 in der Sowjetunion festgehalten wurden. // Das mag sicher auch daran liegen, dass die Schreckensbilder von der Eroberung des deutschen Ostens durch die Rote Armee vielen Deutschen den Blick auf die eigene Schuld verstellten. Diejenigen, die wegschauen und sich nicht erinnern wollten, sahen sich dann zudem später durch die Besatzungs- und Expansionspolitik der Sowjetunion und durch die Errichtung einer kommunistischen Diktatur mit Rechtsferne, Unfreiheit und Unterdrückung in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands bestätigt. In der DDR wurde zwar die Erinnerung an das heldenhafte sowjetische Brudervolk groß geschrieben, aber der amtlich verordnete Heldenmythos ließ auf der anderen Seite wenig Raum für die Empathie mit denjenigen, die als Kriegsgefangene in Deutschland keine strahlenden Sieger waren, sondern Opfer, Entrechtete, Geschlagene. // In späteren Jahren haben in Westdeutschland und auch im wiedervereinigten Deutschland die Erinnerung an den Völkermord an den Juden und die beginnende Scham darüber die Auseinandersetzung mit anderen Verbrechen einfach überlagert. // Dabei sind doch die Verbrechen des Nationalsozialismus zutiefst miteinander verbunden. Sie haben alle dieselbe Wurzel: Sie stammen aus der Vorstellung, dass auch unter Menschen nur das Recht des Stärkeren gelte, und dass der Stärkere das Recht habe, über das Lebensrecht der Anderen zu entscheiden, über Wert, über Unwert ihres Lebens. So wurden die Juden, wie die Sinti und Roma ausgesondert, gedemütigt, ermordet, dann die Behinderten oder Homosexuellen. So wurden dann auch die Völker im Osten als "minderwertig" diffamiert, weswegen man mit ihnen ohne Rücksicht auf Humanität und Menschenrechte, auch ohne Rücksicht auf die Regeln des Völker- und Kriegsrechts verfahren dürfe. // Im Protokoll der Besichtigung eines Kriegsgefangenenlagers durch Propagandaminister Goebbels hält ein Regierungsbeamter fest: // "Der Zweck der Fahrt sollte sein, [ ] einmal die in den Wochenschauen gezeigten Untermenschen in Natur vorzuführen. [ ] // Die Fahrt brachte insofern nicht das gewünschte Ergebnis, als die Gefangenen fast durchweg Weißrussen waren und daher durchschnittlich ein durchaus menschliches Aussehen hatten. [ ] // Sie bekommen außerordentlich wenig Beköstigung und haben Tag und Nacht keinerlei Schutz vor dem Wetter. Meines Erachtens werden diese Gefangenen sowieso hinter ihrem Drahtzaun verrecken. [ ]" // Hybris, Allmachtswahn, Herrenmenschentum, Zynismus, das sind die Kennzeichen nationalsozialistischer Ideologie und eben auch nationalsozialistischer verbrecherischer Praxis. // Erschütternd ist immer noch, wenn wir sehen, in wie kurzer Zeit ganz normale Männer und Frauen, einmal mit dieser Ideologie vergiftet, zu Komplizen der Unterdrückungspraxis gemacht werden und manche sogar zu unbarmherzigen Menschenschindern und Mördern werden konnten. // Wir stehen hier und erinnern an dieses barbarische Unrecht und an die Verletzung aller zivilisatorischer Regeln. Wir erinnern daran im Namen der Humanität, im Namen der Gleichheit und der Würde, die unterschiedslos allem zukommt, was Menschenantlitz trägt. Im Namen der Menschenrechte, die uns verpflichten, die uns binden und leiten und für deren Geltung wir eintreten, stehen wir hier. // Wir sind an einer Stätte versammelt, an der auf den ersten Blick kaum etwas das Ausmaß dessen erkennen lässt, weswegen wir hier sind. Gedenksteine markieren Gräberreihen, die längst von Gras bewachsen sind. Es scheint so, als habe die vergangene Zeit fast jede sichtbare und fühlbare Erinnerung an das ausgelöscht, was hier einst Menschen Menschen angetan haben. // So wie wir hier in Schloß Holte-Stukenbrock unsere Erinnerung und unser historisches Gedächtnis anstrengen müssen, damit wir auf dieser Grasfläche einen Schreckensort für hunderttausende Menschen erkennen können, so geht es uns wohl überhaupt mit dem Eingedenken vergangenen Leids: Was spurlos verwehen sollte, das rufen wir in unser Gedächtnis. Wenigstens vor unserem inneren Auge soll in Umrissen noch einmal aufscheinen, was hier furchtbare Wirklichkeit war, was uns durch Fotos, Statistiken, Karteikarten, Erzählungen, Augenzeugenberichte unabweisbar und unwiderlegbar sagt: Das ist hier geschehen, mitten in Deutschland. Und es ist ja nicht irgendwie"geschehen". Es wurde "gemacht", es wurde "verübt", planmäßig und mit bösem Kalkül und ewig unfassbar. Von Menschen, mit denen wir Sprache, Herkunft und Nationalität teilen, von Menschen, deren Verbrechen heute Teil unserer Geschichte sind. // Wir müssen unseren Willen anstrengen, um die Wahrheit auszuhalten, um nicht immer unwillkürlich zu denken: Das kann doch unmöglich wahr sein - das, was hier im "Stalag 326" und an hunderten von anderen, über ganz Deutschland verteilten Orten menschenmöglich war -, und was hier aber doch tatsächlich stattgefunden hat. // Wir müssen aber nicht nur unseren Verstand anstrengen, nicht nur unser Vorstellungsvermögen aktivieren und unsere historischen Kenntnisse erweitern. Wir müssen - zuerst und zuletzt - auch unser Herz und unsere Seele öffnen für das, was wir kaum glauben wollen. Es geht um eine wirkliche Empathie, ein wirklich bewegendes, unser Inneres, unser Herz, unsere Seele bewegendes Gedenken. // Ich danke heute ganz ausdrücklich allen dafür, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten für ein solches immer neues Bewusstmachen und Einfühlen eingesetzt haben. Es waren ehrenamtlich Engagierte, die Spuren ausfindig gemacht und Erinnerung wachgehalten haben. // Damit diese Erinnerung nicht verwelkt, darum gab und gibt es die Initiative "Blumen für Stukenbrock", darum gibt es jetzt, dank unermüdlicher, überwiegend ehrenamtlicher Initiative die Dokumentationsstätte. Es gibt einen vorbildlich engagierten Förderverein, kundige Führungen und Ausstellungen. Angehörige von Opfern, die von weit her kommen und nach Spuren der Erinnerung an ihre Väter oder Großväter suchen, sie werden liebevoll betreut und begleitet. // Einer, der selber als Gefangener hier war, Leo Frankfurt, ist heute hier und wird gleich noch zu uns sprechen. Es bewegt mich sehr, dass Sie hier sind, Herr Frankfurt. Es ist so etwas wie ein gnädiges Geschenk an uns, es beschämt uns und es beglückt uns gleichzeitig. Danke! // Und es sind unter uns Mitglieder der Familie Basanov, deren Vater, Schwiegervater und Großonkel Basan Erdniev hier Lagerhäftling war und hier begraben ist. Wir haben eben kurz inne gehalten an der Stelle, an der Sie sich erinnern an Ihren Vater. Auch für Ihr Kommen, liebe Familie Basanov, bedanke ich mich und freue mich sehr, dass Sie mich an diesem Tag begleiten und unter uns sind. // Zu den Initiativen, die hier wertvolles Engagement beweisen, gehört auch die Geschichts-AG des Gymnasiums Schloß Holte-Stukenbrock. Es gibt das Anne-Frank-Projekt und das schulübergreifende Theaterprojekt. Alle diese jungen Menschen haben die Aufgabe übernommen, die Erinnerung weiter zu tragen. Das gilt auch für die Polizeischüler, die hier ausgebildet werden, und die sich sehr genau bewusst sind, was die Geschichte dieses Ortes bedeutet. Und gekommen sind heute auch junge Soldaten der Bundeswehr, für die historisches Bewusstsein selbstverständlich ist. // Es gab und gibt, dank der freiwilligen Initiativen hier und an anderen, ähnlichen Orten in unserem ganzen Land, diesen hartnäckigen, alltäglichen Widerstand gegen das Vergessen. Das ist gut so, das gehört zu unserer Kultur. So sind heute auch Vertreter der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste hier, auch Vertreter von Gegen Vergessen/Für Demokratie und vom Deutsch-Russischen Museum Karlshorst. Ihnen und den Vielen, die in unserem Land selbstlose Erinnerungs- und Gedenkarbeit leisten, danke ich heute und hier ganz ausdrücklich. Sie helfen bei einer Aufgabe, die sich auch siebzig Jahre nach Kriegsende noch stellt: auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Erinnerungsschatten heraus zu holen. // Nicht weit von hier stehen wir vor dem Gelände, das Tod und Verderben gebracht hat, auf dem die Schreie, das Seufzen und das Stöhnen der geschundenen Leiber und Seelen unsichtbar eingeschrieben bleiben. // Dies ist einer der Orte, an denen wir schmerzhaft und intensiv empfinden, dass die Toten für die Lebenden eine Verpflichtung sind. Sagen wir also heute, siebzig Jahre nach dem Ende des Krieges, "Ja"zu dieser Verpflichtung. Versprechen wir uns gegenseitig, dass wir, was an uns ist, tun, um ein menschenwürdiges und friedliches Leben für alle zu ermöglichen und zu beschützen.
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Joachim Gauck
Vielleicht sollte ich mit einer kleinen Geschichte beginnen um Ihnen zu verdeutlichen, warum ich gerne heute rede und eine Rede über die Rolle und die Freiheit der Presse so wichtig ist. Als meine Großmutter in den 1960er-Jahren starb, wollte ich das Psalm-Wort "Meine Zeit steht in Deinen Händen" in der Todesanzeige unterbringen. Es gelang mir nicht. Der Verlagsleiter der in Rostock erscheinenden Ostsee-Zeitung erklärte mir, man mache eine kommunistische Zeitung. Da sei ein solcher christlicher Text nicht möglich. Selbst die Todesanzeige wurde zensiert. // Das ist lange her, und diese Zustände sind bei uns überwunden. Aber es geht mir durch den Kopf, wenn ich heute über die Freiheit der Presse rede. // Der Deutsche Presseclub hat mich zu seinem 60-jährigen Bestehen eingeladen. Was für ein schöner Anlass, um über die Freiheit der Presse, über die Verantwortung der Presse, über Meinungsfreiheit und das Verhältnis von Politik und Journalismus zu sprechen. // Darüber soll aber nicht der Anlass des heutigen Abends aus dem Blick geraten: Ich gratuliere dem Deutschen Presseclub auf das Herzlichste zu seinem 60-jährigen Bestehen. Meine Gratulation enthält Wünsche für Sie und Ihren Club. Meine Gratulation enthält aber auch Wünsche, die wir alle - mündige Staatsbürger wie Politiker - an Sie, an die Presse insgesamt haben. Denn so stolz wir auf unsere vielfältige Presselandschaft schauen: Es gibt auch Dinge zu besprechen, die uns allen weniger gefallen können. Dazu will ich nachher noch kommen. // Bei einer Feier zu Ihrem 60-jährigen Bestehen schwirren Anekdoten durch den Raum. Die machen den Club auch aus, aber nicht nur. Das Wichtigste ist, dass der Deutsche Presseclub der Presselandschaft in der noch jungen Bundesrepublik einen elementaren Baustein hinzugefügt hat - das vertrauliche Gespräch zwischen Politik und Presse. Der Deutsche Presseclub etablierte einen Ort für das Hintergrundgespräch, einen Ort für das legendäre "Unter drei". // Ihre "Clubregeln" sagen: "Über Club-Veranstaltungen darf nicht berichtet werden. Ausnahmen von dieser Regel werden vom amtierenden Vorsitzenden bekanntgegeben." // Es mag für Außenstehende schwer verständlich sein, dass Journalisten sich in einem Club zusammenfinden, über dessen Veranstaltungen sie nicht berichten dürfen. Ihre Hauptaufgabe ist es doch gerade, zu berichten. Aber hinter jeder Nachricht stehen Überlegungen, Strategien. Hinter der Nachricht stehen Akteure, die ihr Anliegen befördern, oder auch die Strategien Dritter durchkreuzen wollen. Wenn Sie Politiker in Ihren Club einladen, geht es Ihnen genau darum: Sie wollen Zusammenhänge und Haltungen besser verstehen. Sie wollen wissen, wie es zu dieser oder zu jener Entscheidung kommt, was die Protagonisten bewegt. // Sie müssen es wissen, denn ohne dieses Hintergrundwissen können Sie politische Prozesse nicht vollständig erfassen, nicht profund genug analysieren und kommentieren. Und das wiederum erwartet man von Ihnen: Dass Sie mit Ihrer Analyse, mit Ihrem Kommentar einen Diskussionsbeitrag liefern, mit dem die Leser, Zuhörer und Zuschauer Ereignisse und politische Akteure besser einschätzen können. Dafür muss man ja Ihren Kommentarstandpunkt nicht teilen. Aber die Menschen wollen Ihren Debattenbeitrag. Sie unterstützen Orientierung und Urteilsfähigkeit der Vielen. Es gibt nicht so viele Aufgaben, die schöner und reizvoller wären. Ich darf Ihnen also auch dazu gratulieren. // Wenn wir heute auf unsere Presselandschaft schauen, können wir jederzeit darüber reden, ob wir uns gut informiert fühlen, ob das, was wir im Fernsehen sehen oder was morgens aus dem Autoradio schallt, das ist, was dem Informationsauftrag entspricht. Es gibt fabelhafte Zeitungen, gute Online-Medien und es gibt leider auch andere. // Aber, ob gut, ob weniger gut, spielt in einer Hinsicht keine Rolle: Der Artikel 5 unseres Grundgesetzes schützt die Presse und ihre Freiheit. Nehmen Sie es als eine Garantie für Ihre Arbeit. Der Staat und die Bürgergesellschaft wollen die offene Diskussion, wollen die Argumente für und wider. Und um sich ein Urteil bilden zu können, braucht es auch Erklärungen und Hintergründe. In einer freien und unabhängigen Presse finden die Bürgerinnen und Bürger sie. Das ist ein Grund, warum wir die Freiheit der Presse schützen. Ein anderer Grund für den besonderen Schutz Ihrer Arbeit ist die Erwartung an die Kontrollfunktion. Bürgerinnen und Bürger wünschen sich, dass die politisch Handelnden integer sind und sich voll und ganz dem Gemeinwohl verpflichten. Aber sie können nur schwer kontrollieren, ob es so ist, wie sie es erhoffen. // Es gehört zu Ihren Aufgaben, die politischen Abläufe und die Akteure zu kontrollieren und zu kritisieren. Sie verschaffen auch Gegenargumenten öffentliches Gehör. Und das hat Folgen: Lobbygruppen müssen damit rechnen, dass ihre Einflussnahme kritisch beleuchtet wird. Ein Minister muss damit rechnen, dass seine Erklärung mit der von vor einem Jahr verglichen wird. Der Oppositionspolitiker kann niemals sicher sein, dass seine 180-Grad-Wenden unkommentiert bleiben. Sie recherchieren und Sie kritisieren Staat, Gesellschaft, Parteien oder Organisationen. Nicht aus Freude am Schwarzmalen, sondern weil es Ihre Aufgabe ist. // Zur Berichterstattung, zu fairer Information, darf dabei durchaus auch die Vermittlung dessen gehören, was gelungen ist! Aber öffentliche Kritik schafft Kontrolle über die kritisierten Zustände. Schon die Veröffentlichung - manchmal auch die Furcht davor - kann Folgen haben, kann zu Verhaltensänderungen führen. Die Republik kennt genügend Beispiele. // Man bezeichnet Ihren Berufsstand deshalb auch als die vierte Gewalt im Staat. Sie sind Teilnehmer am politischen Prozess, Sie nehmen in der Meinungs- und Willensbildung eine wichtige Stellung ein - und übernehmen zugleich auch eine sehr große Verantwortung. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie dieser Verantwortung gerecht werden. Sie sind nicht nur frei von staatlichen Eingriffen, von Zensur, Sie sind ebenso frei in Ihrem Ja zu dieser Verantwortung. Sie ist Teil unserer tagtäglich gelebten Pressefreiheit. Sie ist uns selbstverständlich, gehört einfach zu unserer Demokratie. // Schauen wir allerdings auf die Alltagswirklichkeit im Medienbetrieb, so ist durchaus nicht alles in Ordnung. Es gibt durchaus auch Situationen, in denen Ihre Arbeit behindert wird. Es gibt Fehlverhalten und es gibt vermeintliche Sachzwänge. Darüber müssen wir offen reden. Bezogen auf das Ethos von Journalisten könnten wir als erstes fragen: Können Sie Ihren Leserinnen, Lesern, Zuhörern, Usern, Zuschauern, können Sie den Bürgerinnen und Bürgern versichern, dass Sie sich Ihrer Verantwortung immer bewusst sind bei Ihrer täglichen Arbeit? Arbeiten Sie an jedem Tag des Jahres daran, mit Ihren Artikeln, Beiträgen und Kommentaren den politischen Diskurs, von dem unsere Demokratie lebt, zu befördern und zu bereichern? Können Sie guten Gewissens versichern, dass Ihre Recherchen immer so tief sind, dass Ihre Veröffentlichungen und Kommentare die Sachkenntnis atmen, die den Themen gerecht wird? Was bedeutet Ihnen Fairness? Darf man darauf vertrauen, dass es keine Kumpeleien, keine Kumpaneien mit den Mächtigen gibt? Sehen Sie Ihre Arbeit jederzeit so selbstkritisch wie Sie es von denen erwarten, die Sie kritisieren? // Lassen Sie uns einen Blick werfen auf die Bedingungen, unter denen Journalisten mitunter zu arbeiten haben; eine heile Medienwelt existiert doch wohl eher nicht! Wo einzelne Medien eine Monopolstellung einnehmen, kommt die Meinungsvielfalt schnell unter die Räder. Aber auch ökonomische Zwänge setzen der Pressefreiheit im Alltag heftig zu. Wenn der Kostendruck den Redaktionsalltag bestimmt, wenn die gerade mühsam akquirierte Anzeige den redaktionellen Text auf der Seite halbiert oder den Kommentar aus dem Blatt kickt, werden tiefe Recherche, sachkundige Berichterstattung und ausgewogene Kommentierung schnell zu Wunschdenken. // Und jeder von uns kennt auch Journalisten, die wie Kumpane agieren, die sich zuweilen mit Politikberatern verwechseln und damit alles andere als unabhängig sind. Wir kennen auch Presseberichte, die fahrlässig Beihilfe zu Politikverdrossenheit und Demokratiemüdigkeit leisten. // Auch kritische Berichterstattung darf doch Positives wahrnehmen, muss zum Beispiel die sogenannten Hinterbänkler, die in den Ausschüssen versuchen, auch die trockensten Sachverhalte zu meistern, die sich auf die Sitzungen intensiv vorbereiten und so parlamentarische Entscheidungen erst möglich machen, würdigen können. // Diese Kärrnerarbeit der Demokratie scheint keine Schlagzeile wert zu sein. Aber darf sie deshalb einfach aus der Berichterstattung herausfallen beziehungsweise bestenfalls ironisch kommentiert werden? // Ich bin mir dennoch sicher und will darauf vertrauen, dass die allermeisten Journalistinnen und Journalisten ihre Aufgabe als Chronisten und Beobachter der Politik sehr ernst nehmen und nach bestem Wissen und Gewissen ausfüllen. Ihre Recherchen sind nicht immer angenehm, Ihre Kommentare nicht immer bequem, aber sie atmen Sachkenntnis und Sorgfalt. Das ist keine Ausnahme sondern Regel. Und darüber darf man sich dann auch einmal freuen und dankbar sein! // Journalisten bekommen Feedback auf ihr Tun. Leserbriefe. Neu-Abos. Abo-Kündigungen. Sie werden angerufen - nicht nur aus Pressestellen. Man spricht Sie auf der Straße an, in der Parlamentskantine. Im Internet wird der Like-Button gedrückt - oder auch nicht. Man könnte auch sagen, Ihre Arbeit wird wahrgenommen und in gewisser Weise auch kontrolliert. Gut so. // In Deutschland gibt es ein außerordentlich dichtes System von Anerkennung einerseits, Kontrolle und Sanktion andererseits. Darin zeigt sich, dass es uns nicht einerlei ist, von welcher Qualität unsere Presse ist. // Und deshalb wollen wir diese auch würdigen. In unserem Land werden viele Journalistenpreise verliehen. Einige können es in Sachen Renommee mit einer hohen Auszeichnung im Sport aufnehmen. Aber zur Kontrolle Ihrer Arbeit gehört nicht nur das herausgehobene Lob für Gelungenes. Sie sehen sich auch mit Sanktionen konfrontiert für Misslungenes und besonders für Regelverstöße. // Hinzu kommt: Wo Regeln verletzt werden, wo die Presse behindert oder gar belogen wird, aber auch wo der Anspruch auf faire und wahrheitsgemäße Berichterstattung nicht eingelöst wird, wo die Privatsphäre verletzt wird, wo neben journalistischem Spürsinn Jagdinstinkte treten, greifen die Gesetze, auch die Pressegesetze. Das ist gut zu wissen. Aber es ist fast noch besser zu wissen, dass sich die Presse mit dem Deutschen Presserat, mit Satzungen und Kodizes ihrerseits Instrumente zur Selbstkontrolle geschaffen hat, dass Sie eigenverantwortlich die Regeln überwachen und dass die Systeme der Selbstkontrolle anschlagen. // Bundespräsident Gustav Heinemann nahm am 12. Dezember 1973 den von den Presseverbänden beschlossenen Pressekodex entgegen. Darin verpflichten Sie, die deutschen Journalisten, sich zur Achtung vor der Wahrheit, zur Wahrung der Menschenwürde und zur wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit. Sie verpflichten sich darin zur journalistischen Sorgfalt, zur Trennung von Werbung und Redaktion. Sie geben den Bürgerinnen und Bürgern die Zusicherung - und nicht nur so nebenher - dass Sie sich Ihrer Verantwortung als vierter Gewalt sehr wohl bewusst sind und danach arbeiten. // Indem Sie sich solche Standards setzen, indem Sie sich selbst als wahrhaftige Beobachter definieren, indem Sie in Ihrer täglichen Arbeit beweisen, dass Sie unabhängig und hartnäckig recherchierend den politischen Prozess begleiten, sind Sie bei aller Unabhängigkeit auch Teil eines politischen Gesamtsystems, das Ihnen mit der Sicherung der Pressefreiheit erst den Freiraum garantiert, den Sie für Ihre Arbeit brauchen. // Fragen wir zum Schluss noch einmal nach der Rolle der Institution, deren Jubiläum wir heute feiern. Selbst Ihnen, den Mitgliedern des Deutschen Presseclubs, wird es mitunter schwer fallen, politische Entscheidungen einzuordnen. Politik ist in aller Regel ein sehr komplexes Gebilde, ein kompliziertes Geflecht aus Interessen, Sachzwängen und Personen. // Das haben auch die Gründer des Deutschen Presseclubs gesehen und deshalb ganz bewusst einen Ort geschaffen, an dem es eben nicht um die Sensation, nicht um die Nachricht als solche, sondern um die Zusammenhänge hinter der Nachricht geht. // Nur scheinbar besteht ein Widerspruch zwischen der Vertraulichkeit im Hintergrund und der Transparenz, die die Bürgerinnen und Bürger erwarten dürfen. Ich glaube im Gegenteil, dass es auch der Vertraulichkeit im Hintergrundgespräch bedarf, um mehr Transparenz in politische Abläufe und Entscheidungswege zu bringen. // Gerade weil Ihre Gesprächspartner wissen, dass nicht jeder Satz am kommenden Tag die Morgennachrichten eröffnet, sprechen sie mit Ihnen offen und ernsthaft über Politik und deren Hintergründe. Sie wiederum brauchen diese Offenheit, um den politischen Prozess kundig begleiten zu können. Sie brauchen diese Offenheit, um ihn gegebenenfalls auch kritisch kommentieren zu können. Sie erkennen leichter, wem Sie vertrauen können, wem die Öffentlichkeit etwas zutrauen darf. // Die Politik braucht derartige Begegnungen ebenfalls, um ihr Handeln besser erklären zu können. Und das wiederum wollen mündige Staatsbürger bekommen: eine Erklärung für Politik und ihre Auswirkungen. Denn ohne dass Politik erklärt wird, schwindet über kurz oder lang die Akzeptanz für Politik, für Politiker und letztlich schwindet die Akzeptanz für unsere Demokratie. Indem unsere Presse dazu beiträgt, Politik zu analysieren, zu erklären, zu kommentieren und auch zu debattieren, indem unsere Presse den Argumenten dafür und den Argumenten dagegen Gehör verschafft, indem unsere Presse zum Meinungsstreit beiträgt, trägt sie ganz selbstverständlich und in gewichtiger Weise bei zum Funktionieren unserer Demokratie. // Das ist gut und das soll so bleiben. Noch einmal gratuliere ich dem Deutschen Presseclub, der seit 60 Jahren mit dafür sorgt, dass wir eine freie, eine informierte und eine gute Presse haben. // Herzlichen Glückwunsch!
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Joachim Gauck
Vor genau vier Wochen - einige haben mich schon darauf angesprochen - stand ich auf dieser Bühne. Damals feierten wir den Jahrestag der friedlichen Wiedervereinigung unseres Landes. Ein festliches Ereignis - ähnlich wie heute. Denn heute ist ein besonderer Tag, weil wir eine Organisation feiern, die nach Jahrzehnten der Teilung in Ost und West 1991 selbst eine Wiedervereinigung erlebt hat. Eine Organisation, die über 150 Jahre hinweg Deutschland und die Deutschen durch ihre so wechselvolle Geschichte begleitet hat: das Rote Kreuz. // Ein rotes Kreuz auf weißem Grund steht für Schutz und Hoffnung in Zeiten der Not. Es steht für den Schutz von Schwachen und Bedürftigen. Es ist eines der bekanntesten - und bemerkenswertesten - Symbole, die es überhaupt gibt. Denn am Anfang der Geschichte der Bewegung des Roten Kreuzes stand das Mitgefühl eines Mannes für das Leid der Soldaten im 19. Jahrhundert, als der Krieg - an der Krim und schließlich in Oberitalien - nach Europa zurückgekehrt war. Die Schlacht von Solferino im Jahr 1859 und ihre über 40.000 Verwundeten und Toten erschütterten den Genfer Geschäftsmann Henry Dunant so sehr, dass er sofort Hilfsmaßnahmen für die verwundeten Soldaten in die Wege leitete. Immer wieder begründete er seinen Einsatz mit den italienischen Worten: tutti fratelli - wir sind doch alle Brüder! Aus diesem Zusammengehörigkeitsgefühl entstand dann eine neue Bewegung, die beispielhaft für das steht, was wir heute humanitäre Hilfe nennen. // Natürlich gab es dafür Vorzeichen und Vorläufer: Dass verwundete Soldaten des Schutzes bedurften, diese Vorstellung hatte sich bereits Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt. Aber mit dem Rotkreuzgedanken setzte Henry Dunant entschlossen dem Grauen des Krieges tätige Mitmenschlichkeit und christliche Nächstenliebe entgegen. Die Rotkreuzbewegung steht so nicht nur für die beflügelnde Kraft des Mitgefühls, sondern auch für die Macht eines Einzelnen. Und diese Kraft verbreitete sich aus Genf in ganz Europa und später in der Welt. // Schon im November 1863 - vor 150 Jahren also - wurde der erste Rotkreuzverein auf deutschem Boden, hier in Stuttgart gegründet: der Württembergische Sanitätsverein. Deshalb sind wir hier versammelt, um diese wirkmächtige Idee, die auch in unserem Land sich so kraftvoll entfaltet hat, zu würdigen: Tutti fratelli, alle sind Brüder - e sorrelle, und Schwestern! Natürlich! Ja, gerade hier in Deutschland knüpfte die Rotkreuzbewegung auch an die Tradition der Frauenvereine aus der Zeit der Befreiungskriege an. // In Deutschland hat das Rote Kreuz einen historischen Beitrag dazu geleistet, dass sich eine bürgerliche Gesellschaft entwickelte, die ihre Geschicke selbst in die Hand nahm und nicht alles dem Staat überließ. Das Deutsche Rote Kreuz steht damit in einer Reihe mit anderen Institutionen des bürgerschaftlichen Engagements, der bürgerschaftlichen Selbstorganisation: den freien Wohlfahrtsverbänden, den freien Gewerkschaften und den eigenständigen Industrie- und Handelskammern. // Gerade mit den Erfahrungen der deutschen Vergangenheit erkennen wir heute den Wert eines freien zivilen Mitgliederverbands für unsere Demokratie: Nach der "Gleichschaltung", wenn wir an die NS-Zeit erinnern, und auch nach der Freiheitseinschränkung - und ich sage dies trotz einiger innerer Freiräume - in der DDR wurde im wiedervereinigten Deutschland das ganze Rote Kreuz ein aktives Bündnis freier, verantwortungsbewusster Bürger. // Tätig werden, statt untätig zu verharren - die Dinge in die Hand nehmen, statt sie klaglos hinzunehmen - das ist die Handlungsmaxime des Deutschen Roten Kreuzes: Ob in der Pflege oder in der Betreuung älterer Menschen, in der sozialen Arbeit mit Jugendlichen oder in der Beratung von Zugewanderten - das Deutsche Rote Kreuz ist für alle da. Vielen begegnet es bei Erste-Hilfe-Kursen oder bei freiwilligen Blutspenden. Es leistet Notfallhilfe und Katastrophenschutz. Ein Beispiel: Als die Flüsse in diesem Jahr erneut über die Ufer traten und große Teile Deutschlands überschwemmten, da war das Deutsche Rote Kreuz wie selbstverständlich zur Stelle. Damit trägt das Rote Kreuz dazu bei, dass wir uns sicher fühlen. Wir wissen: Ich erhalte Hilfe in der Not oder in der Krise. So stiftet das Deutsche Rote Kreuz gesellschaftlichen Zusammenhalt und ist zu einem Markenzeichen für die soziale Dimension in unserem Land geworden. // Welchen Stellenwert das Deutsche Rote Kreuz hier hat, das zeigt uns auch die Zahl seiner Mitglieder: fast vier Millionen sind es. Besonders freue ich mich darüber, dass sich so viele Bürgerinnen und Bürger im Roten Kreuz ehrenamtlich engagieren - es sind über 400.000. Ihnen, den Ehrenamtlichen, möchte ich meinen besonderen Dank aussprechen. Als Bürger helfen Sie Bürgern. Sie sind stets dort zur Stelle, wo Sie gebraucht werden. Eine vitale Bürgergesellschaft lebt von diesem Engagement. // Das Deutsche Rote Kreuz spielt, auch dies sei erwähnt, eine bedeutende Rolle für das Gesundheits- und Sozialwesen. Es betreibt Krankenhäuser, Kindertagesstätten und Pflegeheime, steht dabei im wirtschaftlichen Wettbewerb mit anderen und bringt seine Stimme ein in die Diskussionen, wie unser Sozialstaat auch künftig jedem medizinische Versorgung auf dem Stand der Wissenschaft und menschenwürdige Pflege garantieren kann. Das bedeutet für eine Organisation wie das Rote Kreuz auch besondere Herausforderungen - nämlich das Gemeinnützige und das Ehrenamtliche in eine Balance mit dem Geschäftlichen und den Hauptamtlichen zu bringen. Das setzt ein klares Leitbild voraus und Transparenz - wie Sie beim Deutschen Roten Kreuz sich das vorgenommen haben. Bei Ihrem Wirken für das Soziale in unserem Land helfen Sie so, die ideellen Werte des Deutschen Roten Kreuzes zu bewahren. // Weltweit ist das DRK humanitärer Botschafter unseres Landes. Als ich vor vier Wochen hier in diesem Saal sprach, habe ich auch über die Verantwortung Deutschlands in der Welt geredet. Dass das wiedervereinigte Deutschland als international angesehener und verlässlicher Partner gilt, dazu hat übrigens auch die Arbeit des Deutschen Roten Kreuzes einen wichtigen Beitrag geleistet. // Humanitäre Hilfe - das bedeutet, mit Henry Dunant im Kern daran zu glauben, dass wir im Stande sind, die Welt aus eigener Kraft zu verändern, dass wir diese Welt zu einem besseren Ort machen können. Heute geht es in der internationalen Politik nicht mehr nur um die Sicherheit von Staaten. Es geht auch um die Sicherheit des Einzelnen oder von den Vielen. Das ist eine wesentliche Errungenschaft der Weltgemeinschaft. Und wir sollten es ruhig aussprechen: Es ist ein Erfolg auch unserer Wertegemeinschaft, es ist auch ein Erbe der europäischen Aufklärung in einer Welt, die entgegen mancher Erwartung nach 1989 nicht friedlicher geworden ist. Tatsächlich erleben wir seither doch eine Fülle neuer Konflikte: zunehmend nicht nur zwischen Staaten, sondern innerhalb von Staaten zwischen unterschiedlichen Interessengruppen oder politischen, ethnischen und religiösen Gruppierungen. Einzelne fragile Staaten können die Sicherheit ihrer eigenen Bürger überhaupt nicht mehr gewährleisten. Oftmals haben sie auch gar kein Interesse daran. Dies stellt die weltweite humanitäre Hilfe vor ganz neue Herausforderungen. // Was das bedeutet, das habe ich auch bei meiner Begegnung mit dem Präsidenten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, Peter Maurer, erfahren. Das Internationale Komitee mit seinem ganz besonderen Mandat im Völkerrecht ist ein unverzichtbarer Partner der Bundesregierung in ihrer humanitären Hilfe - denken wir allein an die humanitäre Krise in Syrien. Deutschland gehört dort zu den größten Geldgebern und arbeitet eng mit dem Roten Kreuz zusammen. // In Syrien wie an vielen anderen Brennpunkten müssen wir uns fragen: Wie schaffen wir ein Umfeld, in dem Frieden möglich ist und in dem die Ursachen von Gewalt und damit von individuellem Leid verschwinden oder doch zumindest eingehegt werden? // Durch seine Prinzipien steht das Rote Kreuz beispielhaft für gelungene internationale Kooperation - nicht nur über Landesgrenzen hinweg, sondern auch zwischen den Weltreligionen. Die Rotkreuz- und die Rothalbmondgesellschaften genießen gleiche Rechte und Pflichten und sind in vielen Krisenregionen die einzigen Organisationen, die von allen Konfliktparteien anerkannt und respektiert werden. // Es ist entscheidend, dass das Rote Kreuz - ebenso wie der Rote Halbmond - auch weiterhin als Schutzsymbole akzeptiert werden, die eine unüberwindbare Grenze für Gewalt und Aggression darstellen. Übergriffe, welcher Art auch immer, auf Mitarbeiter des Roten Kreuzes können wir nicht hinnehmen. Nur wenn dieser Schutz gewährleistet ist, können Hilfsorganisationen ihrer Aufgabe nachkommen. Nur dann kommt eben die Hilfe bei den Bedürftigen an. Die Mitarbeiter des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds setzen Leib und Leben aufs Spiel, um anderen Menschen zu helfen und das verdient doch unsere Unterstützung - und zwar unsere volle Unterstützung. // Nun könnte man sagen: Der humanitäre Gedanke, wie wir ihn heute kennen, hat sich in Europa entwickelt, auch weil der Kontinent so zahlreiche und so grausame kriegerische Auseinandersetzungen erlebt hat. Die Staaten Europas haben sich nach diesem schmerzvollen Weg miteinander versöhnt. Humanitäre Hilfe war nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges wesentlich für den Aufbau des Kontinents - das Rote Kreuz hat einen besonderen, einen ganz besonders "menschlichen" Beitrag in dieser Zeit geleistet, indem es half, Familien zusammenzuführen, die in den Wirren des Krieges auseinandergerissen worden waren. Ich habe noch in Erinnerung, wie wir, als ich ein Junge war, an den Radiogeräten saßen und ganze Namenslisten verlesen wurden. Der Suchdienst hat hier unglaublich dabei geholfen, Menschen zusammenzuführen, die durch Krieg und Kriegsfolgen auseinandergerissen waren. Aus dieser Zeit erinnere ich mich auch an die humanitären Aktionen, die Deutschland geholfen haben nach dem Krieg, etwa an die Schwedenspeisung im Hungerwinter 1946/47. Mit Lebensmittelpaketen, Kleidung und Schuhen halfen Schweden, Dänen, Schweizer, Briten und viele andere über die Rotkreuzorganisationen den Deutschen in ganz existenzieller Not. Ich möchte nicht, dass Deutschland vergisst, wie ihm einst geholfen wurde. Das war schließlich über die Hilfe für das schiere Überleben hinaus eine große Geste der Humanität, in der sich wieder Henry Dunants kraftvoller Gedanke zeigte: tutti fratelli e sorrelle - wir sind Schwestern und Brüder. An diese Erfahrung der Deutschen möchte ich heute dankbar erinnern. // Humanitäre Hilfe bedeutet, auf der Grundlage von Werten und Überzeugungen zu handeln. In diesem Grundsatz, den man auf Vieles übertragen kann, sehe ich eine Zukunftsaufgabe für uns in Europa. Wir als Europäer müssen unsere eigenen Werte ernst nehmen und ihnen auch in unserem praktischen Handeln folgen. Wir dürfen nicht die Augen verschließen vor den vielen Versuchen überall in der Welt, den Geltungsbereich der Menschenrechte etwa einzuschränken. Das geschieht beispielsweise unter Verweis auf distinkte "kulturelle Konventionen" oder "traditionelle Werte", die angeblich nicht mit den Menschenrechten übereinstimmen würden. Aber das ist immer unrichtig. Das ist immer taktisches Kalkül von Menschen, die sich davor fürchten, allen Menschen Menschenrechte und Bürgerrechte zuzuerkennen. Es gibt nicht zwei Arten von Menschenrechten. Die Vereinten Nationen haben sich auf eine Liste, auf einen Katalog geeinigt. Deshalb sind Menschenrechte nicht verhandelbar. Sie sind universell. Sie gelten überall und für jede Frau, für jedes Kind, für jeden Mann. // Bei der Durchsetzung der Menschenrechte sind wir ein großes Stück vorangekommen. Doch auch diese Geschichte, die Geschichte dieser Rechte, ist noch nicht zu Ende. Sie ist es schon deshalb nicht, weil Menschenrechte offensichtlich immer wieder aufs Neue erstritten werden müssen. // Und da sind wir alle gefordert: Wir erleben gerade zutiefst schockierende Tragödien an den Außengrenzen der Europäischen Union. Dazu können wir doch nicht schweigen, wenn wir unsere eigenen Werte ernst nehmen. Wir müssen uns fragen: Wie begegnen wir jenen, unseren Schwestern und Brüdern menschlicher, die sich aus Leid und Verzweiflung auf den Weg nach Europa gemacht haben und vor unseren Grenzen in akute Not geraten sind? Wie gehen wir mit denen um, die bei uns Schutz suchen? Wie gestalten wir die notwendigen Verfahren schnell und fair? Und ich möchte die Frage hinzufügen: Wie gestalten wir auch die oft notwendige Ablehnung von Asyl menschlicher? Welche Perspektiven bieten wir Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind? Gewiss, wir wissen es doch alle, wir werden nicht alle Menschen aufnehmen können, die auf der Welt in Not sind. Aber wir können mehr tun, und wir können es menschlicher tun. // An einer gesamteuropäischen Verantwortung für die Sicherheit in den Gewässern des Mittelmeers darf kein Zweifel bestehen. Der Schutz jedes einzelnen Menschenlebens geht allem voran. // Wir sollten uns von dem Idealismus, mit dem die Mitarbeiter des Roten Kreuzes ihre Aufgaben angehen, inspirieren lassen. Wir müssen zugleich abwägen, was realistischer Weise möglich ist - auch das gehört zu verantwortungsvollem Handeln. Doch mit Toleranz, ehrlichem Mitgefühl und einem offenen Auge für die Nöte anderer Menschen, ob nah oder fern, wird es uns gelingen, noch weiter auf diesem Weg zu einer friedlicheren und gerechten Welt voranzukommen. // Sie, meine Damen und Herren, bitte ich: Führen Sie Ihre Arbeit zum Wohl der Menschen, die Hilfe benötigen, auch weiterhin mit Energie, mit Hingabe und mit Weitsicht fort. Ich danke allen Haupt- und Ehrenamtlichen für ihren großen Einsatz. // Aber einen Satz muss ich noch hinzufügen: Heute, da dürfen Sie auch einmal stolz sein, in dieser großartigen Institution mitzuarbeiten. Ich danke Ihnen.
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Joachim Gauck
Wenn der Bundespräsident den Deutschen Bankentag eröffnet, im siebten Jahr nach dem Ausbruch der weltweiten Finanz- und Schuldenkrise, dann steht er ganz unterschiedlichen Erwartungen gegenüber. Viele Bürger wünschen sich, dass den Banken wieder einmal die Leviten gelesen werden, dass noch einmal abgerechnet wird mit Gier, Größenwahn, Fehlverhalten und Kontrollverlust. Viele Bankmanager, vielleicht auch manche von Ihnen hier im Saal, wünschen sich dagegen eine Würdigung der Reformen, auch einer neuen Geschäftskultur, um die sich die Politik und die Branche jeweils bemühen. // Beide Erwartungen sind selbstverständlich. // Es stimmt ja: Einige Banken und einige Mitarbeiter haben sich eine Menge zu Schulden kommen lassen. Die Justiz ermittelt noch immer in mehreren Fällen wegen des Verdachts auf Untreue, Bilanzfälschung oder Marktmanipulation. Und erst vor wenigen Tagen wurden weitere Vorwürfe öffentlich: Die Finanzbehörden untersuchen, ob durch einige besonders trickreiche Anlagemodelle der Banken und der Geldanlagefonds Steuern in Milliardenhöhe hinterzogen wurden. Auch dort, wo nicht gegen Recht und Gesetz verstoßen wurde, war manches Geschäft ethisch fragwürdig, manches Risiko auch unvertretbar hoch. Falsche Anreize im Bonussystem, übersteigerte Gewinnansprüche, verantwortungsloses Verhalten zu Lasten Dritter - da war viel fehlgeleitete Kreativität im Spiel. // Hinzu kamen Mängel in der staatlichen Aufsicht und Regulierung, eine Politik des billigen Geldes und eine hohe Verschuldung bei Staaten, Unternehmen und Bürgern. Das alles trug dazu bei, dass die Stabilität des ohnehin extrem komplexen Finanzsystems unterminiert wurde. Einzelne Banken mussten, weil too big to fail, von der Politik gerettet werden, natürlich auf Kosten der Steuerzahler. So wurde ein zentrales Prinzip der Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt: Wer Risiken eingeht, muss für Verluste haften. // Das alles ist oft und völlig zu Recht kritisiert worden - auch ich habe mich gelegentlich kritisch dazu geäußert. // Andererseits ist aber auch richtig: Es hat sich inzwischen viel getan. Banken müssen heute mehr Eigenkapital vorhalten als vor der Krise. Neue Regeln sollen riskante Geschäfte kontrollierbarer, durchschaubarer machen. Mit Stresstests wird die Überlebensfähigkeit der Banken im Krisenfall überprüft. Und nicht zuletzt haben viele Institute Fehler eingestanden, sie haben neue Geschäftsmodelle entwickelt und sie haben sich ethischen Fragen gestellt. Kein Zweifel: Die Branche befindet sich im Wandel. // Ein Zwischenfazit fast sieben Jahre nach Beginn der Krise fällt also gemischt aus: Fehler sind erkannt, politische und unternehmerische Reformen auf dem Weg. Dieser Prozess ist in vollem Gang, aber er ist noch lange nicht abgeschlossen. // So will ich heute weder Bankenbeschimpfung betreiben noch kann ich eine heile Bankenwelt besingen. // Vielmehr möchte ich einen Schritt zurücktreten und mit etwas Grundlegendem beginnen: Ich möchte über Geld sprechen. // Nun wird mancher denken: nicht die originellste Idee auf einem Deutschen Bankentag. Aber ganz so naheliegend ist das Thema eben doch nicht. Denn es ist in unserer Gesellschaft ja keineswegs selbstverständlich, über Geld zu sprechen. Ganz im Gegenteil, es heißt doch oft: Über Geld spricht man nicht! Das gilt als anstößig, als unmanierlich. Es mag im Privatleben durchaus Gründe für diese Meinung geben. Im öffentlichen Leben aber, in der Sozialen Marktwirtschaft, wäre eine solche Haltung fatal. So, als ob sich die Bürger in unserer Demokratie auf die Maxime einigten: "Über Politik spricht man nicht!" // Geld verleiht Einfluss, aber es erzeugt auch Abhängigkeiten. Man kann es verdienen, sparen und anlegen - und dann darauf vertrauen, dass andere es vermehren. Man kann es sich leihen und muss es anschließend zurückzahlen. Banken sind Mittler zwischen Schuldnern und Gläubigern, und sie selbst sind beides: Schuldner und Gläubiger. Geld und Kredit, Forderungen und Verbindlichkeiten erzeugen Abhängigkeiten. Und wo Abhängigkeiten entstehen, da wird auch Macht ausgeübt. // Welche Macht heute von Banken und Finanzmärkten ausgeht, lässt eine einzige Zahl erahnen: 30 Billionen Euro - das ist die Summe der Bankbilanzen im Euroraum. Seit der Finanzkrise hat sich der Wert der weltweit zirkulierenden Schuldtitel noch einmal erhöht. Noch nie gab es so viele Schulden, und noch nie gab es so viel Vermögen wie heute. Nie war also die Rolle der Vermittler zwischen Gläubigern und Schuldnern wichtiger. // Die Finanz- und Schuldenkrise hat uns vor Augen geführt, welche Konsequenzen es haben kann, wenn Akteure versagen und die Kontrolle lückenhaft ist oder gar ausbleibt. Gerade weil die Wirkungsmacht der Finanzwirtschaft so groß ist und so weit in die Lebenswirklichkeit der Menschen hineinreicht, gerade deshalb ist unser Wirtschaftssystem zwingend darauf angewiesen, dass alle Akteure informiert und verantwortungsbewusst handeln. Alle Akteure, was heißt das? Für mich erstens: die Banken, also ihre Mitarbeiter und Manager. Zweitens die Bürger, die als Anleger nicht nur nach Renditeverheißungen schielen dürfen, sondern auch nach dem Risiko fragen sollten, das ihnen allerdings nicht verborgen bleiben darf. Und drittens die Politik, die vor der Herausforderung steht, die Marktordnung fortzuentwickeln und kluge Regeln zu formulieren, die helfen, die Kräfte des Marktes freizusetzen und gleichzeitig Missbrauch zu verhindern. // Lassen Sie mich mit der besonderen Verantwortung der Banken beginnen. // Es lohnt sich, einen Blick auf die Geschichte Europas zu werfen, um zu verstehen, welche Rolle Banken und Geldwirtschaft beim Weg in die Neuzeit spielten. Damals, als Markt- und Münzrechte verliehen wurden, als die Städte aufblühten, als das Geldwesen sich ausbreitete und das Bankenwesen entstand, da löste sich Europa aus dem Mittelalter. Der Raum des Handels und Austausches wuchs. Und das war gut für die Bürger der damaligen Zeit. Und als sich das Bürgertum im 19. Jahrhundert zunehmend emanzipierte, da öffnete sich das Bankwesen für Handwerker, Kleinunternehmer und Bauern - und für ihre Ideen. Zur gleichen Zeit entstanden damals die Genossenschaftsbanken, die vom Gedanken der gemeinschaftlichen Selbsthilfe geprägt waren. Diese Bankenwelt, die aus großen Universalbanken und Spezialinstituten, aus Sparkassen und Privatbanken besteht, sie ist heute ein Spiegel der deutschen Wirtschaft in ihrer ganzen Vielfalt - vom Mittelstand bis zu den international aktiven Großunternehmen. // Bei dieser Gelegenheit möchte ich sagen, dass es sich lohnt, an diesem Neben- und Miteinander von Privat- und Genossenschaftsbanken sowie öffentlich-rechtlichen Sparkassen festzuhalten! So viel muss sein auf einem Bankentag. // Heute ist fast jeder Bundesbürger ein Bankkunde, dem Girokonto, Sparbuch, Kreditkarte, Privatdarlehen und manchmal auch ein Wertpapierdepot zur Verfügung stehen. Weil so viele Menschen so einfach so viele Finanzprodukte kaufen können - übrigens durchaus ermutigt von der Politik -, weil in der Branche so vieles neu, schnell und unübersichtlich ist, wächst ihren Managern und Mitarbeitern eine besondere Verantwortung zu - für ihre Kunden und für das Funktionieren unserer Sozialen Marktwirtschaft und damit letztlich für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Staat und Gesellschaft. // Worauf kommt es also an? Auch wenn es ein wenig altmodisch klingt: Mitarbeiter von Banken dürfen sich durchaus am Ideal des ehrbaren Bankiers orientieren, gerade in Zeiten, da die Geschäfte so komplex sind wie nie zuvor. Sie müssen durch Seriosität und Sachkenntnis überzeugen, müssen ihr Handeln erklären können, Chancen und Risiken offenlegen. Und zwar nicht nur im Kleingedruckten, sondern im Klartext. Nicht nur zur eigenen rechtlichen Absicherung, sondern zur bestmöglichen Aufklärung der Kunden. So wird vermieden, dass sich das Risiko, für das sich ein Kunde bewusst entscheidet, in eine Gefahr verwandelt, der er hilflos ausgeliefert ist. // Meine Damen und Herren, an diesem Punkt sehe ich Sie in der Bringschuld! // Ich weiß sehr wohl: Die meisten Akteure des Bankgewerbes in unserem Land halten sich an diese Regeln. Sie haben nichts gemein mit dem Finanzjongleur, der in manchem Hollywoodfilm eine Hauptrolle spielt, sondern sie vergeben Firmen- und Hypothekenkredite, informieren über Spareinlagen und Altersvorsorge - und leisten dabei gute Arbeit. Sie tragen bei zu Wachstum und Dynamik, Beschäftigung und Innovation. // Vertrauen zu erwerben und zu erhalten liegt im eigenen Interesse der Banken. Denn sonst entziehen sie sich selbst und dem Markt die Geschäftsgrundlage. Nichts illustriert dies besser als der Zusammenbruch des Geldmarktes zu Beginn der Finanzkrise, damals haben sich nicht einmal die Banken untereinander vertraut. // Damals zeigte sich, was ich einmal die "Fratze der ungezügelten Freiheit" genannt habe. Es ist die Freiheit, man könnte sagen, der Pubertierenden, die sich nur als Freiheit von etwas definiert, von Regeln, von Zwängen, und die zu wenig nach den Folgen des eigenen Handelns fragt. Dagegen ist die "Freiheit, die ich meine", und nach der wir gemeinsam streben sollten, eine Freiheit zu etwas, zu Gestaltung und Mitgestaltung. Es ist Freiheit in Verantwortung, die die Bindungen und Beziehungen zu anderen Menschen und zum Gemeinwesen respektiert und fördert. // Das ist die Freiheit der Sozialen Marktwirtschaft - nicht der grenzenlose Übermut. Diese Freiheit steht für eine Kultur der Verantwortung, die über den Bilanzgewinn hinausgeht. In unserer Wirtschaftsordnung können Privatleute und Unternehmer gutes Geld verdienen, und sie sollen es sogar. Gewinnstreben ist keinesfalls verwerflich, sondern Voraussetzung für Investitionen und Innovationen. Und wer Geschäfte macht, geht auch immer das Risiko ein zu scheitern. Zur Verantwortung aber gehört es, Verluste dann auch selbst zu tragen. Wer besonders hohe Risiken eingeht, weil er weiß, dass im Notfall ein anderer die Kosten schultern wird, der handelt diesem Prinzip zuwider. // Die Abkehr von Tugenden der Sozialen Marktwirtschaft hat das Vertrauen der Bürger in die Banken erschüttert. Und, ehrlich gesagt: Angesichts mancher Exzesse verstehe ich das auch. Zugleich habe ich den Eindruck, dass auch die Kritik an diesen Zuständen manchmal das Kind mit dem Bade ausschüttet. Sie schlägt bisweilen um in eine ganz allgemeine Skepsis gegenüber der Marktwirtschaft. Da werden Wettbewerb und Freiheit für das Problem gehalten, und nicht deren Missbrauch. Das halte ich für fatal, denn Soziale Marktwirtschaft braucht informierte Bürger, die selbstbewusst am Wirtschaftsleben teilnehmen. Und damit bin ich bei meinem zweiten Punkt angelangt, bei der Rolle der Bürger. // Henry Ford, dem amerikanischen Industriellen, wird folgende Feststellung zugeschrieben: "Es ist gut, dass die Menschen das Bank- und Geldsystem nicht verstehen, sonst hätten wir eine Revolution noch morgen früh." In einem Punkt muss ich da widersprechen: Es ist ganz und gar nicht gut, wenn Bürger einen wichtigen Wirtschaftssektor nicht hinreichend verstehen oder verstehen können. Es ist nicht gut, wenn es vielen schwerfallen muss, Sachverhalte zu durchdringen, weil ganze Teilbereiche der Gesellschaft auf kaum durchschaubare Art miteinander verflochten sind. Selbst Experten haben nach eigenem Bekunden oft nicht nachvollziehen können, was auf den Finanzmärkten tatsächlich vor sich ging. // Banken, ich habe es eben erwähnt, haben hier eine Bringschuld. Aber der Bürger, er hat durchaus auch eine Holschuld. Wer die Quellen unseres Wohlstands verstehen, wer persönliche Chancen nutzen und Risiken einschätzen will, der muss sich informieren und in Finanzfragen kompetenter werden. Er darf sich nicht auf den Standpunkt zurückziehen, dass man über Geld nicht spricht. // Zum informierten Bürger gehört doch eigentlich eine ökonomische Grundbildung. Studien belegen, dass viele Deutsche hier Nachholbedarf haben. Ich weiß, dass einiges getan wird, um ökonomisches Wissen kreativ zu vermitteln. Da gibt es Beispiele, bei denen junge Menschen in der Schule schon eigene Firmen gründen oder an der Börse handeln. Sie lernen dabei wie Unternehmer zu agieren, von der Produktentwicklung bis hin zu Marketing und Vertrieb. Auch der Bankenverband leistet auf diesem Gebiet einen guten Beitrag. Trotzdem, ich frage mich: Wird die ökonomische Bildung in unseren Schulen und Berufsschulen ausreichend berücksichtigt? Hat das Wissen über ökonomische Zusammenhänge den gleichen Rang, den die Ökonomie heute für unser Leben und Wirtschaften hat? // Das ist nicht nur wichtig, damit der Einzelne gute Entscheidungen für sich selbst treffen kann. Wie durch politische Bildung Urteilsfähigkeit und Engagement junger Mitbürger gefördert werden kann, so ist auch die Fähigkeit wichtig, wirtschaftspolitische Debatten zu verfolgen, sich dort ein eigenes Urteil zu bilden und sich selbst an den Debatten zu beteiligen. Das gehört elementar zur Demokratie. Deren Schlüsselfigur ist doch der vielzitierte "mündige Bürger". Und der ist auch gefragt, wenn es um die Gestaltung unserer Wirtschaftsordnung geht. Nicht nur politische, auch ökonomische Apathie und Unwissenheit sind gefährlich. // Wie wichtig die Fähigkeit zum öffentlichen Gespräch über wirtschaftliche Fragen ist, das zeigt sich gerade dann, wenn es darum geht, die Konsequenzen aus der Krise zu ziehen. Also: welche Regeln brauchen Banken, welche Grenzen die Märkte? Welche Rolle spielt die Geldpolitik, welche Macht darf sie ausüben? Und wie finden wir den Weg aus der hohen Staatsverschuldung? // Dabei reicht es nicht aus, individuelles und unternehmerisches Handeln in den Blick zu nehmen und nur auf die Veränderung von Mentalitäten und Geschäftsmodellen zu setzen. Das alles ist richtig. Aber es war auch die staatliche Rahmenordnung, die Fehlverhalten ermöglicht und oft auch begünstigt hat. Und damit bin ich beim dritten und letzten Punkt. // Seit dem G20-Gipfel vor fünf Jahren in Washington wird daran gearbeitet, Banken stärker in Haftung zu nehmen und Regeln zu setzen, um Krisen weniger wahrscheinlich zu machen. Wir Europäer schaffen mit der Bankenunion eine einheitliche Aufsicht im Euroraum und neue Verfahren, um Eigner und Gläubiger in Haftung zu nehmen, wenn Banken ins Schlingern geraten. Damit kann es uns in Europa gelingen, Marktwirtschaft und Währungsunion zu stärken. // Es würde uns guttun, wenn solche wichtigen Fragen nicht allein von kau Fachpolitikern und Experten diskutiert würden, sondern stärker als bisher auch von Bürgern und Medien. Denn es wird weiter um das Ausmaß der Regulierung gerungen werden, gerungen werden müssen. Wir müssen uns fragen: Wurde wirklich schon genug getan, um das Finanzsystem krisenfester zu machen und Exzesse zu vermeiden? Oder geht manche Regel gerade für kleine Banken, die nicht "systemrelevant" sind und mit anderen Banken verflochten sind, vielleicht schon zu weit? // Dazu kann es durchaus unterschiedliche Antworten geben. Eine, die mir persönlich sehr sympathisch ist, stammt von Karl Popper, dem Begründer des Kritischen Rationalismus. Er hat einmal gefordert, den freien Markt nicht als "ideologisches Prinzip" zu betrachten, sondern einfach als eine Ordnung, die davon lebt, dass die Freiheit nur dort zu beschränken ist, wo es aus wichtigen Gründen notwendig ist. Er war sich bewusst, dass oftmals umstritten sein wird, wo genau die Grenze des Notwendigen verläuft. Das wird auch so bleiben. // Diese Grenze in kluger und verantwortungsvoller Weise zu ziehen, das ist Aufgabe der Politik. Sie gibt den Rahmen vor. Mindestens genauso wichtig ist es dann aber, wie Banken und Bürger diesen Rahmen füllen. Lassen Sie uns also weiter diskutieren, wie verantwortungsvolles Handeln von Banken und Bürgern zu stärken wäre. Lassen Sie uns über notwendige Grenzen und die Grenze des Notwendigen auf den Finanzmärkten diskutieren! In diesem Sinne also: Lassen Sie uns über Geld reden.
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Joachim Gauck
Wie sollte man eine Rede an der Universität, die Johann Wolfgang von Goethe im Namen führt, anders beginnen, als mit dem wohl berühmtesten Seufzer der deutschen Literaturgeschichte: "Habe nun ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert mit heißem Bemüh'n." // Zugegeben, ein ziemlich überraschungsfreier Start in diese Rede. Und wahrscheinlich hätte ich mir das "ach!" verkniffen, wenn nicht vor kurzem in einem Blog der Brief einer Hochschulabsolventin an ihre Universität zu lesen gewesen wäre, der den Monolog des Faust mehr als 200 Jahre später gewissermaßen in unsere Gegenwart übersetzt: // Ich zitiere: "Liebe Uni, ich habe Dich mir anders vorgestellt, jahrelang hatte ich von dir geträumt. Von Diskussionen, von Austausch, von dem Gefühl der Freiheit . Ich hatte mir vorgestellt, wie wir an der Universität wilde Debatten führen. Keynes! Marx! Weber! Liebe Uni, ich dachte Du wärst ein Ort zum Streiten [ ] Diese Leidenschaftslosigkeit war unerträglich " // Nun, es gab natürlich eine Menge leidenschaftlicher Antworten auf diesen vehementen Klagebrief, dem eigentlich nur noch die Faustische Beschwerde fehlte: "Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor". Viele stimmten der Autorin zu, viele widersprachen aber auch und berichteten von guten Erfahrungen mit ihrer Universität, ihrem Studium und ihren Professoren. // Ich hatte an dieser Stelle das Gefühl, wonach sehnt sich wohl diese Schreiberin? - hoffentlich nicht etwa nach den wilden Zeiten von 1970, als eine der merkwürdigen Seiten dieser Universität geschrieben wurde. Auf Vorschlag von Jürgen Habermas sollte der Adorno-Lehrstuhl neu besetzt werden, und man kam auf einen der wohl bedeutendsten Marxismus-Forscher der Zeit, auf Leszek Kolakowski. Aber Kolakowski war gerade von seiner kommunistischen Führung in Polen gemaßregelt worden. Nun passierte das Merkwürdige: An dieser schönen freien Universität gab es linke, linksextreme und marxistische Mehrheiten, die ihn wegen fehlender marxistischer Linientreue abwiesen. Der arme Mann musste dann in die akademische Wüste nach Oxford. Soviel zum Zeitgeist. // Die Universität und ihr Zustand, sie lassen die Gemüter nicht kalt. Und das ist gut so. Denn wenn es um die Bildung kommender Generationen geht, steht immer die Zukunft einer ganzen Gesellschaft auf dem Spiel. Deshalb sollen Universitäten blühen und gedeihen, und zwar zuallererst im Interesse der Studierenden. Hier in Frankfurt sind es 46.000, die durch bestmögliche universitäre Bildung entscheidende Chancen für einen gelingenden Lebensweg erhalten, die aber auch als gut gebildete und gut ausgebildete Absolventen Leistungen erbringen sollen, die dann für die ganze Gesellschaft wertvoll sind. Umgekehrt gilt übrigens das Gleiche: Wenn es um die Zukunft der Universität geht, steht immer auch die Frage zur Debatte, was eine Gesellschaft von ihren Hochschulen erwartet und was sie deshalb bereit ist, für ihre Hochschulen zu tun. Aber dazu kommen wir später. Nur Gutes! // Die Frankfurter Universität, zu deren 100. Geburtstag ich heute von ganzem Herzen gratuliere, sie scheint mir ein gutes Beispiel zu sein, um dieses Wechselspiel zwischen einer Gesellschaft und ihren Hochschulen ein wenig näher zu beleuchten. Diese Universität ist nämlich aus verschiedenen Gründen herausragend: einer davon ist, das wissen wir fast alle oder alle hier im Raum, ihre Entstehungsgeschichte, die sich von anderen Universitäten nun doch deutlich unterscheidet. Zur Gründung der älteren Universitäten in Deutschland führte meist der Wille eines Landesherrn, den Ruhm seines Fürstentums und manchmal auch seinen eigenen zu mehren und die Wirtschaftskraft des Territoriums zu stärken - letzteres durchaus ehrenwerte Motive. // Zur Gründung der Universität Frankfurt vor 100 Jahren aber führte nicht Fürsten-, sondern Bürgerwille. Frankfurts Bürger, zumindest hinreichend viele, waren der Überzeugung, dass höhere Bildung das Beste ist, was einem Menschen überhaupt passieren kann. Als"Bildungsbürger" ein rundum positiver Begriff war, "Bürger" im vollsten und eigentlichen Sinne nur der gebildete Bürger war, da begriff man in Frankfurt, dass die Gründung einer Universität so etwas wie eine selbstverständliche Bürgerpflicht war. Mit Recht sind deshalb die Frankfurter Universität und mit ihr die Stadt Frankfurt stolz darauf, dass diese Hochschule eine Bürgeruniversität ist. // Eine Bürgeruniversität lebt vom Engagement. Das war und ist hier in Frankfurt in reichem Maße zu finden, weil man weiß, was eine Universität, eine sehr gute und sehr gut ausgestattete Universität einer Stadt und einer Gesellschaft geben kann, in geistiger wie auch in materieller Hinsicht. Zum einen hilft Bildung, die Welt zu verstehen und zu deuten, und damit auch, in der Gemeinschaft freier Bürger miteinander zu leben. Zum anderen aber bietet sie auch schlicht handfeste Vorteile. // Machen wir uns nichts vor: Wissenschaftliche Bildung wurde schon vor 100 Jahren auch als ein Wirtschaftsfaktor verstanden. Und das war auch richtig so, das müssen wir nicht bekritteln. Darüber hinaus war aber auch die Vorstellung lebendig, dass Bildung durch Wissenschaft der Schlüssel zur Entfaltung der Persönlichkeit sei, zum selbständigen Denken, zum Gebrauch des eigenen Verstandes und damit zur Emanzipation, zur Befreiung von alten Autoritäten und von den Zwängen der Natur. // Bildung und Emanzipation, oder anders ausgedrückt, vielleicht umfassender: Bildung und Freiheit gehörten und gehören zusammen. Deshalb finde ich es schön, dass wir heute dieses Gründungsjubiläum hier an dieser Stätte, hier in der Paulskirche feiern, einem der vornehmsten Orte der deutschen Demokratie- und Freiheitsbewegung. // Die Geschichte der Universitäten, die Geschichte auch der Frankfurter Universität, ist ein Teil der europäischen Freiheitsgeschichte und ein Teil der europäischen Wahrheitsgeschichte. // Wahrheit und Freiheit sind Geschwister. So wie Forschung und Lehre Freiheit brauchen, um sich zu entfalten und ungehindert nach Wahrheit zu suchen und zu streben, so ist die politische Freiheit darauf angewiesen, dass die Wahrheit zugelassen, dass um sie gerungen und dass sie unzensiert öffentlich gemacht werden kann. Dass die Wahrheit frei macht, das gilt auch für die Bildung, die uns - gemäß dem berühmten Wort von Immanuel Kant - dazu frei macht, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen, ohne die Anleitung eines anderen. // So sind, seit ihrer Erfindung im Mittelalter, Universitäten urbane Orte der Emanzipation. Einer der ersten, die man als Professor fast im modernen Sinne ansprechen kann, ist der Theologe und Philosoph Petrus Abälard. Er entwickelte am Anfang des 12. Jahrhunderts an der jungen Pariser Universität eine wissenschaftliche Methode, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat. // "Sic et non" heißt seine bedeutendste Schrift. Darin wird die Methode der kritischen, wissenschaftlichen Befragung aller Autoritäten erstmals systematisch begründet und durchgeführt. Abälard listet in 158 Abschnitten Widersprüche in den Texten der Kirchenväter auf, die zuvor einfach unhinterfragte und unhinterfragbare Autoritäten waren. Und er zeigt, dass alleine die vernunftgeleitete Interpretation zur Wahrheit führt. Zitat: "Indem wir nämlich zweifeln, gelangen wir zur Untersuchung und durch diese erfassen wir die Wahrheit." // Freiheit von Vorurteilen, kritische Befragung aller Autoritäten, genaue Analyse und Interpretation der Quellen, Vernunft als oberste Instanz: Das ist sozusagen die erste "kritische Theorie" des Abendlandes, und sie bleibt wesensbestimmend für jegliche wissenschaftliche Arbeit, überall bis heute. Dass sie keineswegs leicht durchzusetzen war, zeigt nicht nur, aber auch die Geschichte Abälards, die von Kämpfen, Verurteilungen, Verbannungen geprägt ist. So wird es immer sein: Emanzipation und die Befreiung von Autoritäten, sie werden nie als Geschenk verteilt. Sie müssen immer erkämpft werden. // Die Kontinuität akademischen Denkens, wie es unsere Hochschulen geprägt hat, ist vor allem eine Kontinuität des kritischen Bewusstseins. Was in Paris mit "Sic et non" beginnt, das führt über die großen "Kritiken" des Königsbergers bis zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. // Wir wissen allerdings auch und wir dürfen das auch heute an einem solchen Festtag nicht verschweigen, dass die Universität nicht automatisch und nicht immer die aufgeklärte Stimme der Vernunft gewesen ist. Nicht immer hat der Geist die wichtigste Rolle gespielt und nicht immer die interesselose Suche nach der Wahrheit. Auch der Ungeist, ja, die bewusste Lüge, Rassismus, Antisemitismus sind in Universitäten in Deutschland zu Hause gewesen. Intellektualität, wir wissen es leider, ist noch kein wirksamer Schutz gegen Barbarei. Das ist eine der bitteren Lehren aus den Erfahrungen des Dritten Reiches. Auch die Frankfurter Universität hat sich in diesen finsteren Jahren sehr schnell und sehr gründlich von ihren jüdischen Lehrenden und Lernenden getrennt. "Säuberung" nannte man das damals. Dabei verdankte sie doch ihre Gründung zu einem guten Teil dem jüdischen Bürgertum dieser Stadt. Und ein großer Teil des akademischen Glanzes speiste sich aus den Leistungen der Juden, die hier lehrten. // Aus allen deutschen Städten übrigens verschwanden mit den Juden doch Säulen der Gesellschaft: Philanthropie, kultureller Glanz, wissenschaftliche Exzellenz, auch ein aufgeklärter Patriotismus, Verluste ohne Gleichen. Und dazu die Gejagten und all die getöteten Menschen. Im Bewusstsein dieser Verluste und des verzögernden Erkennens und des Benennens der Schuld, die zu diesen Verlusten führte, hatte nun die Gesellschaft eine große Aufgabe nach dem Krieg. Und hier in Frankfurt hat die Frankfurter Universität nach dem Dritten Reich und nach dem Krieg versucht, an ihre glanzvollen Zeiten anzuknüpfen. Ich stelle mir das äußerst schwierig vor, in diesen Zeiten, in denen äußere und innere Zerstörung das Land prägte. Aber es gelang. Einige Gelehrte sind sogar aus dem Exil zurückgekehrt, um beim geistigen Aufbau eines besseren Deutschlands von Frankfurt aus mitzuhelfen. Jeder kennt noch die Namen von Adorno und Horkheimer, die die Kritische Theorie der Frankfurter Schule entwickelten, die fast zur Überschrift für eine geistige Grundhaltung, ja, für eine wichtige Phase in der Geschichte der jungen Bundesrepublik wurde. All das war eng mit Frankfurt verbunden. // Die Geschichte der Frankfurter Bürgeruniversität ist eine Erfolgsgeschichte. Aber auf Erfolgen kann man sich nicht ausruhen. Jede Zeit stellt die Universitäten vor neue Herausforderungen, aber auch vor neue Chancen. // Die ungeheure Steigerung der Studierendenzahlen seit den 1960er Jahren, damit auch die steigende Zahl von Dozenten und Professoren, all das hat einen anderen Typ von Universität geschaffen, als man sie noch bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts kannte. // Das ist ein beispielloser bildungspolitischer Sprung: Wo früher eine akademische Laufbahn nur einer schmalen Elite eines Jahrgangs vergönnt war, sind es heute mehr als ein Drittel. Der Anteil der jungen Menschen eines Jahrgangs, die ein Studium aufnehmen, stieg seit Anfang der 1950er Jahre von etwa fünf auf etwa fünfzig Prozent. Ich weiß um die damit verbundenen Probleme, die gelegentlich auch zu besprechen sind. Das will ich aber an dieser Stelle nicht tun. Diese Steigerung hat den Charakter der Hochschulen grundlegend verändert, und sie musste natürlich auch gestaltet und sie musste finanziert werden. Um die Frage der Hochschulfinanzierung wird bis heute gerungen. Viele Dozenten und Professoren klagen, dass sie sich angesichts der Fülle der Aufgaben vom Kern ihrer Profession, von Forschung und Lehre, entfernen, ja, manchmal entfernen müssen. Es galt und gilt also, eine neue Balance zu finden zwischen Forschung und Lehre, zwischen Spitze und Breite. // Eine Herausforderung, die die Gründer der Frankfurter Universität vor 100 Jahren ebenfalls noch nicht in dieser Deutlichkeit vor Augen hatten, war der Beitrag, den Bildung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und zum sozialen Aufstieg jeder und jedes Einzelnen leisten kann und soll. Jetzt fällt mein Blick auf unsere Gesellschaft, wie sie sich heute darstellt. Wir leben heute in einer Einwanderungsgesellschaft. Mehr als ein Drittel der in Deutschland lebenden unter Fünfjährigen verfügt über einen Migrationshintergrund. Das gesamte Bildungssystem muss - sollte ich sagen: müsste - sich dieser Aufgabe stellen. Es gibt inzwischen viele Initiativen, die diese Herausforderung angenommen haben. Gleich zu Beginn meiner Amtszeit stand ich hier an derselben Stelle, um die Teilnehmer der Start-Stipendien-Initiative zu begrüßen und zu beglückwünschen. Eine große deutsche Stiftung hat der Tatsache Rechnung getragen, dass wir eine besondere Förderung dieser Gruppe von Auszubildenden brauchen, die - mit einem Migrationshintergrund ausgestattet - nicht dieselben Startmöglichkeiten haben wie Kinder aus dem deutschen Bildungsbürgertum. Wir müssen verstehen, dieser Realität von Einwanderung gerecht zu werden, sie als praktische Aufgabe zu sehen. Und ich bin dankbar für die Initiativen und die Personen, die sich hier auf diesem Feld engagieren, Hilfe in der Sprachförderung oder durch kulturelle Beiträge. Im Sport haben wir inzwischen gelernt, dass jedes Talent Förderung verdient und dass diese Förderung alle bereichert. Die gleiche Einsicht wünsche ich mir auch in der Bildung und in der Wissenschaft: von der Kita über die Schule bis zur Universität. An jeder dieser Stationen können wir noch viel mehr tun, um allen jungen Menschen in diesem Land ein gelingendes Leben zu ermöglichen. // Nach meinem Verständnis kann und muss die Universität eine aktive Rolle bei der Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft spielen, vielleicht sogar eine aktivere Rolle als gegenwärtig schon üblich. Ausländische Studierende und junge Menschen mit Migrationsgeschichte brauchen Hilfe. In manchen Fällen ist finanzielle Unterstützung notwendig, etwa durch spezielle Stipendienprogramme. Am wichtigsten aber sind Vorbilder und Ermutigung, und zwar schon lange vor der Immatrikulation. Es darf nicht sein, dass die Herkunft eines Menschen - sei es die soziale oder die ethnisch-kulturelle - darüber entscheidet, welche Zukunft dieser Mensch hat! Der Schlüssel, um solche Herkunftsbarrieren zu überwinden, der heißt Bildung. Die Geschichte von Bildung als Emanzipation, sie geht also weiter. Und sie muss weitergehen. // Ist die alte "Bürgeruniversität" auch diesen neuen Herausforderungen gewachsen? Hier in Frankfurt haben Sie eine klare Antwort auf diese Frage gefunden. Sie haben das Prinzip der Bürgeruniversität neu für sich entdeckt, Sie haben sich ganz bewusst zu Ihren Wurzeln bekannt. Denn seit 2008 ist die Goethe-Universität wieder Stiftungsuniversität. Das Modell soll dazu dienen, Hochschulen und Bürgergesellschaft stärker zu verbinden. Es eröffnet großherzigen und weitblickenden Stiftern und Förderern die Möglichkeit, Verantwortung für die Universität zu übernehmen. Der Umbau zur Stiftungshochschule stärkt die Eigenverantwortung der Institution. Die Stiftungshochschule kann zugleich ein Wir-Gefühl und eine Identität entwickeln, die Lehrende und Lernende verbindet und eine starke Verbindung zum gesellschaftlichen Umfeld herstellt. // Es zeigt sich immer wieder: Bildung und wissenschaftliche Spitzenleistung brauchen so eine förderliche Umgebung. In Frankfurt gibt es dieses bildungsfreundliche Umfeld. Kooperation und Austausch sind damit wesentliche Erfolgsfaktoren dieser Universität, die sich nie als Elfenbeinturm, sondern immer als bürgerschaftliches Forum begriffen hat. Auch dazu kann man heute wahrlich gratulieren. // Eines will ich aber an dieser Stelle auch deutlich sagen: Das Lob der Förderer und der Stifter und der Ruf nach weiterem bürgerschaftlichen Engagement für gute Bildung darf keineswegs dazu führen, dass der Staat sich aus seiner Verantwortung im Bildungswesen zurückzieht. Stifter sind keine Ausfallbürgen in Zeiten knapper Kassen - sie schaffen einen Mehrwert. // Es ist darüber hinaus richtig und wichtig, an neue Mittel und Wege zu denken, um Kräfte zu bündeln. So überlegen richtigerweise Bund und Länder seit der vergangenen Legislaturperiode, wie sie den Bildungsföderalismus fortentwickeln können, um den gestiegenen Anforderungen Rechnung zu tragen. Das wird am Ende allen nutzen: den Studierenden, die attraktive Studienbedingungen vorfinden, den Hochschulen, die ihre Stärken weiter ausbauen können, und unserem Land als Wissenschaftsnation. // Die Konzentration der Kräfte ist auch deshalb wichtig, weil gute Hochschulen heute in einem weltweiten Wettbewerb stehen. In diesem Wettbewerb wird der Frankfurter Universität ihre Besonderheit als Bürgeruniversität, aber auch die öffentliche Unterstützung, zugute kommen. // Europa, so hat neulich der indische Autor Pankaj Mishra geschrieben, habe seine Leuchtkraft verloren. Es habe früher mit seiner kulturellen und intellektuellen Kraft Vertrauen in die Allgemeingültigkeit seiner Erfahrungen und Lösungen erzeugt. Und dieses Vertrauen sei nun heute verlorengegangen. // Ich teile bei weitem nicht alles, was dieser Autor ausführt. Eines aber, was er sagt, halte ich doch für so wichtig, um es hier vorzutragen: Europa, so schreibt er, müsse die eigene kritische und kosmopolitische Tradition wiederbeleben, es brauche Offenheit, Widerspruch und kein homogenes Weltbild. // Wozu uns ein indischer Autor hiermit aufruft, ist doch nichts weiter als die alte und ewig junge Beschreibung von Aufgabe und Wesen der europäischen Universität, die in ihren guten Zeiten immer weltoffen war und die immer bereit war, auch fremde Erfahrungen aufzunehmen. Gehen wir also ans Werk. Gehen wir daran, diese, unsere europäische Universität wieder so lebendig werden zu lassen, dass es intellektuell gleichermaßen Herausforderung und Freude ist, an ihr zu lehren und zu lernen. // Enden wir, wie wir begonnen haben, mit Goethe: Als er im Alter von 16 Jahren daran ging, ein Studium aufzunehmen, gab es diese Frankfurter Universität noch nicht. So ging er nach Leipzig. Von dort schrieb er am 13. Oktober 1765 an seinen Vater: // "Sie können nicht glauben, was es eine schöne Sache um einen Professor ist. Ich bin ganz entzückt gewesen, da ich einige von diesen Leuten in ihrer Herrlichkeit sah!" Das waren noch Zeiten: Professoren in ihrer Herrlichkeit! Das ist irgendwie endgültig passé. Aber könnte es nicht möglich sein, die Universität als Ganzes, als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, von Stiftern, Förderern und Bildungspolitikern zu einer neuen Herrlichkeit zu führen? Ich wüsste nicht, was ich dieser Goethe-Universität zu Frankfurt am heutigen Tage besseres wünschen könnte.
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Hans-Dietrich Genscher
Die Arbeit muß Spaß machen. Dann wächst man in fast jede Aufgabe hinein.
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Jeremias Gotthelf
Eine rechte Mutter sein, das ist ein schwer Ding, es ist wohl die höchste Aufgabe im Menschenleben.
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Franz Grillparzer
Auch müßte jederzeit der Unterschied zwischen philosophischer und poetischer Idee im Auge behalten werden, von denen die erste auf einer Wahrheit beruht, die zweite auf einer Überzeugung. Denn es ist die Aufgabe der Philosophie, die Natur zur Einheit des Geistes zu bringen. das Streben der Kunst, in ihr eine Einheit für das Gemüt herzustellen.
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Franz Grillparzer
Die aktiven Faktoren der Menschennatur sind die Neigungen und Leidenschaften; ihr Übermaß zu hemmen, ist die Aufgabe des Sittlichen. Letzteres ist daher negativ und kann als solches nicht der Zweck des Menschen sein.