Im langen Atem der Geschichte. "Dem Orkan voraus fliegt die Sonne nach Westen, zweitausend Jahre sind um, und uns wird nichts bleiben", schreibt Ingeborg Bachmann im Gedicht "Große Landschaft bei Wien", in dem sie den langen Atem der Geschichte über die Stadt wehen lässt.
Hundert Jahre dauern, gemessen am langen Atem der Geschichte, gerade lang genug, um die Fähigkeit auszubilden, sich zu erinnern, um in Gedanken Zeit- und Ortsschwellen zu überschreiten. Staatsjubiläen fordern uns geradezu heraus, innezuhalten und im Blick zurück in die Zukunft zu schauen. Es ist ein befreiender, festlicher, aber auch peinigender Moment, in dem sich beispielhafte Errungenschaften, Erfolge, aber auch politische Verirrungen offenbaren.
Wie aber wird kollektive Geschichte sichtbar, anschaulich, wenn es schier unüberschaubare Geschichten von Menschen gibt?
Der lange Atem der Geschichte zieht vornehmlich und spürbar durch Familienerinnerungen. Hundert Jahre umfassen kaum drei Generationen, die sich erfahrungsgemäß körperlich nahekommen und eine gewisse Zeit ihres Lebens miteinander verbringen, die Geschichte von Hand zu Hand oder von Mund zu Mund weitergeben.
Mein Generationengedächtnis setzt mit dem Zerfall der kaiserlich-königlichen Monarchie und der Entstehung der Republik Österreich ein. Mein Großvater nahm als achtzehnjähriger junger Mann an der letzten Isonzo Offensive im Oktober 1917 teil und wurde als Soldat der kaiserlich-königlichen Armee am Piave verwundet. Als er genas und endlich nach Hause gehen konnte, wurde die Republik ausgerufen. Meine Großmutter behauptete drei Kriege überlebt zu haben, den Ersten Weltkrieg, den Kärntner Abwehrkampf und den Zweiten Weltkrieg. Ihre zarte Gestalt, in der die Erinnerungen an ihre wechselvolle Geschichte und an das Konzentrationslager Ravensbrück nachwirkten, bewegt sich für das Auge unsichtbar, aber doch anwesend, in meinen Gedanken und Empfindungen.
Sobald wir den Blick von unserem Herkommen abwenden und das Allgemeine in Betracht ziehen, erscheint uns die Historie flüchtig, ja geradezu ungreifbar. Eine Ansammlung von Spuren, Überresten, als Menetekel an der Wand, als opakes, kulturelles, materielles Gemenge, das wir mit unseren Gedanken kaum durchdringen können. In Glücksmomenten glauben wir in der Tiefe der historischen Zeit etwas durchschimmern zu sehen, Fragen zum Beispiel, die brennen und uns betreffen, als würden sie gerade erst zur Sprache gebracht.
Man hat mich eingeladen, bei diesem Staatsakt eine Rede zu halten. Eine erstaunliche, kühne Einladung, die mich ehrt, die mich aber auch in einen unerbittlichen Kreislauf aus Zweifeln geschleudert hat. Lange Zeit war ich damit beschäftigt zu überlegen, aus welcher Position ich überhaupt reden könnte. Weder kann ich im Namen einer Partei noch im Namen einer Institution oder Gruppe sprechen. Allenfalls als Individuum, mit eigener Lebensgeschichte, als Dichterin, Kärntner Slowenin, Österreicherin, die eine Beziehung zur Republik Österreich hat. Eine Beziehung zu haben, bedeutet nicht nur, durch staatliche Bildungsinstitutionen gegangen zu sein oder Steuern zu zahlen, es besagt auch, sich einzumischen, zu engagieren und an politischen Orientierungsprozessen teilzunehmen. In dieser Beziehung geht es nicht um Vorteile oder Sicherheiten, es geht in Wahrheit um Fragen der Identität, um das, was wir sind und sein wollen.
Identität, wie ich sie sehe, ist ein Prozess, kein abgeschlossener Zustand, keine feste, unabänderliche Größe. Sie beginnt und endet nicht im Jetzt, sondern ist aus Herkommen, aus Sprache, aus Vererbtem, Gelerntem, Gelebtem und Erfahrenem, aus Arbeit, Leid, Glaube, Liebe, Hoffnung, aus Vergessen und Erinnern, aus Ängsten und Sehnsüchten zusammengestellt, aus dem, was wir waren, was wir sind und was wir werden wollen. Sobald sich Identität verhärtet, eingrenzt oder von außen diktiert wird, verwandelt sie sich in ein Schlagwort, zum Vorwurf oder zur Maske. Identität orientiert sich an Bindungen und Bindungen können lebensbejahend oder zerstörerisch sein. Auch staatliche Gebilde sind den Prozessen der Identitätsfindung und der Veränderung unterworfen. In diesen Zusammenhängen bewegt sich das Verhältnis der Einzelnen zum Staat.
Das entscheidende Kriterium steht am Beginn dieser ungewöhnlichen Beziehung. Es ist das Kriterium der Demokratie. Demokratie ist eine Organisation des Rechts, der Teilhabe an gesellschaftlichen und politischen Prozessen. Sie lebt vom Ausgleich, vom Disput, dem Argument, der Korrektur, der Freiheit des Einzelnen. Der autoritäre Staat dagegen schikaniert den Schwächeren, den Anderen, unterbindet die Möglichkeit des Widerspruchs, des freien Willens, der politischen Teilhabe, der Machtkontrolle, der Veränderung. Demokratie ist, um in familiären Bezügen zu bleiben, das Antimodell zur autoritären Familie, an deren Spitze meist ein Patriarch waltet, der über Gedeih und Verderb der Familienmitglieder entscheidet.
Im politischen Feld zwischen Krieg und Frieden, zwischen Repression und sozialem, kulturellem Aufbruch, zwischen Rezession und einem langen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Fortschritt bewegt sich die Geschichte der Republik Österreich.
Die Erste Republik Österreich erstand als demokratischer Entwurf nach dem Zusammenbruch einer alten monarchischen Ordnung. Die aufstrebenden politischen Kräfte wollten das Trauma des Zusammenbruchs und des Krieges in einen Traum von Fortschritt verwandeln. Aber der Verlust des Althergebrachten, gepaart mit einer dramatischen wirtschaftlichen Krise, wog zu schwer. Die junge parlamentarische Demokratie musste sich gegen ein Schattenreich aus Ängsten und autoritären Traditionen behaupten. In der Erinnerung der Generationen ist die Erste Republik als Epoche des Zwists nach dem Verlust des mächtigen Vaters abgespeichert. Schon im 19. Jahrhundert, im Zuge der Industrialisierung und der verstärkten Mobilität sahen sich die Menschen aus ihren angestammten Lebenszusammenhängen gerissen. Nach dem zerstörerischen Krieg dürfte das Gefühl der Verlassenheit überwogen haben. Was aus dieser Zeit, wie ich glaube, bis heute nachklingt oder nachwirkt, ist neben der Gegenwart mannigfacher kulturhistorischer Denkmäler und Monumente ein melancholischer Grundton des Heimatverlusts. Diese Verlustempfindung hat die österreichische Volkskultur geprägt. Das Verlorene wird, nicht nur in den ländlichen Regionen Österreichs, in vielleicht so nie gesehener Schönheit idealisiert. Es ist das Bild der vergangenen Idylle, das beharrlich hochgehalten wird, wenngleich darunter alle Verletzungen und Demütigungen verborgen bleiben.
Den Untergang der alten Welt konnten das allgemeine Wahlrecht, das auch die Frauen zum ersten Mal einschloss, der Kampf um eine gerechte Entlohnung, die Einführung des Achtstundentages, die sozialdemokratische Bewegung kaum aufwiegen. Das Alte wirkte nach, im Anwachsen des Antisemitismus, in der Sehnsucht nach dem starken Mann und im Aufbrechen der nationalen Frage. Zuerst versuchte die Erste Republik, alle vielsprachigen kulturellen Bezüge zu den ehemaligen Kronländern zu unterbinden. Die Forderung, ihre Sprache und Kultur aufzugeben, bekamen vor allem die Kärntner Slowenen zu spüren. Rückblickend könnte man sagen, dass die meisten Österreicher in der Ersten Republik nichts lieber wollten, als Deutsche zu werden. Doch der Preis für diese Bestrebungen war hoch. Rasch taumelte die österreichische Demokratie in einen autoritären Staat, in den Bürgerkrieg und letztlich in die Nazidiktatur. Die Restbestände einer vielsprachigen, multireligiösen, demokratischen Wirklichkeit wurden spätestens nach dem Anschluss an Hitlerdeutschland mit Terror, Gewalt und Krieg nahezu zur Gänze zerstört. Man sagt, dass Österreich für Jahre von der Landkarte verschwunden sei, aber die Österreicher sind auf allen Seiten der Kriegsfront dabei gewesen, auch beim apokalyptischen Morden im besetzten Osten Europas.
Die Frage, wie konnte es dazu kommen, erfüllt uns noch heute mit Grauen. Wenn wir uns vor Augen führen, wer in der Nazizeit für Österreich gekämpft hat, stellen wir fest, dass es Einzelne gewesen sind. Der Widerstand, der die Wiedererrichtung eines freien Österreichs erst ermöglichte, handelte zwar organisiert und in Gruppen, war aber in den meisten Fällen individuell. Diese Tatsache wirft ein besonderes Licht auf die Tragweite und Bedeutung des ethisch handelnden Individuums. Der österreichische Widerstand wurde von Menschen getragen, die in der Zeit der durchorganisierten Gewalt, der totalen Propaganda ihre humanen Haltungen nicht über Bord geworfen hatten. Er ist ein Konglomerat aus nahezu alltäglichen, helfenden, mutigen Gesten, die sich dem Vernichtungswillen und der organisierten Böswilligkeit gegen Menschen widersetzten. Die Demokratie, wie wir sie kennen, ist uns nicht nur dank dieser Zivilcourage und aufgrund der vielen Opfer, die das Naziregime gefordert hatte, geschenkt worden. Wir haben sie auch politischen Glücksfällen und dem Verhandlungsgeschick Einzelner zu verdanken.
Ich möchte an dieser Stelle an einen Verlust erinnern, der bei offiziellen Anlässen oft übergangen wird, an den Verlust einer Generation von österreichischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen, Künstlern und Künstlerinnen, die in der Nazizeit vertrieben, um ihre Existenz gebracht, in den Selbstmord getrieben oder umgebracht wurden. Ihre Arbeiten werfen noch heute etwas von ihrem Glanz auf das Land, das sie nicht haben wollte. In ihrer Literatur verdichtet sich Geschichte, werden Bilder und Sehnsüchte aus der Welt von gestern bewahrt, die der heutigen so nahe und doch so fern ist.
Ich glaube, wir müssen der tiefen Erschütterung aller Überlebenden nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs vertrauen, die im Satz Nie wieder zusammengefasst wurde. Wenn wir das nicht tun, sind wir verurteilt, politische Fehler zu wiederholen. Aus dieser inneren Gewissheit der Überlebenden wurde die Charta der Menschenrechte formuliert und die Idee eines gemeinsamen Europas geboren. Diese Errungenschaften stehen wegweisend für die Zukunft vor uns, als Versprechen und als Auftrag.
Den Erfolg der Zweiten Republik Österreich begründeten der Staatsvertrag, die Neutralität, der wirtschaftliche Aufschwung und die zurzeit vielgeschmähte Sozialpartnerschaft. Die Österreicherinnen und Österreicher entwickelten die Identität, von der wir heute ausgehen, wenn wir Österreich meinen. In unsere Zeit fallen entscheidende bildungspolitische, rechtliche, strukturelle und institutionelle Modernisierungen, die das ganze Land erfassten und bei allen Bürgerinnen und Bürgern ankamen. Wir hatten das Glück, eine sozialstaatlich organisierte Marktwirtschaft, einen gezähmten Kapitalismus erlebt zu haben, der der Bevölkerung die Teilhabe an seinen Erfolgen ermöglichte. Die rechtliche Gleichstellung und Emanzipation der Frauen brach das Jahrtausende währende Machtvorrecht der Männer auf. Nur die Umsetzung der Gleichberechtigung im täglichen Leben kam und kommt stockend voran. Auch mit der Umsetzung der im Staatsvertrag verankerten Rechte der österreichischen Volksgruppen hatte die Republik ihre Probleme. Das hatte nicht zuletzt mit dem Fortwirken deutschnationalistischer Traditionen zu tun, mit denen sie sich nicht konfrontieren wollte.
Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Künstlerinnen und Künstler haben nach dem Verlust ihrer Vorgänger dem Bild des Landes, das sich unablässig in die Idylle, in das Vergessen flüchten wollte, mit Hartnäckigkeit und sanfter Gewalt, wie Peter Handke einmal formulierte, widersprochen. Sie haben mit ihrer Arbeit, die oft auf Unverständnis gestoßen war, mitgeholfen, das selbstkritische Gleichgewicht Österreichs zu wahren.
Mit dem Beitritt zur Europäischen Union haben wir nahezu traumwandlerisch eine wegweisende Entscheidung getroffen und fürchten uns immer noch vor unserem Mut. Die Globalisierung der Märkte, verbunden mit der fortschreitenden Digitalisierung, der Kampf gegen die Zerstörung und Vermüllung unseres Planeten verlangen nach internationaler politischer Zusammenarbeit. Im Zuge der Eingliederung in ein mehrsprachiges Europa fand auch Österreich zu seinen vielsprachigen Wurzeln und erkannte sie als Teil des eigenen Wesens.
Allerdings kommt seit unserem Beitritt zur Europäischen Union der politische Boden, auf dem wir stehen, nicht zur Ruhe. Wir spüren, dass wir in einen Prozess des Wandels eingetreten sind, der einem langsam anschwellenden Orkan gleicht. Noch hatten wir wenig Zeit, um uns an die erweiterten politischen Entscheidungsmöglichkeiten in Europa zu gewöhnen, wenn wir auch mit Genugtuung feststellen, dass das politische Europa an Gestalt gewinnt.
Gerade haben wir uns an den Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates aufgerichtet, schon wird uns erklärt, dass wir endlich erwachsen werden und für uns selbst sorgen sollen. Wer grollt im Hintergrund des Staates, der alte, übermächtige Vater oder eine andere Macht, mit unsichtbaren, ordnenden Händen und einem unsichtbaren Gesicht? Was verbirgt sich hinter dem Bestreben, den Staat als Unternehmen zu führen? Etwa die Idee, dass Staaten von ihrer Funktion als Gemeinschaftsorganisationen abgetrennt und auf den freien Markt geworfen werden? Dass Staaten in Konkurrenz zueinander treten, sich auf dem Staatenmarkt behaupten müssten wie im Supermarkt, in dem man mit Schnäppchen, Schönheit, Gesundheit, Frische und billigem, willigem Humankapital um globale Investoren wirbt? Das setzt ein transformiertes Verständnis von Politik voraus, die sich nach den Kriterien des Wettbewerbs organisiert und nach Regeln der allseitigen Auslese handelt. Die Sieger und Unterlegene produziert und das gesellschaftliche Handeln dem Kampfmodus der globalen Ökonomie unterwirft. Eine Politik, die aus den Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern optimierte Menschen für den Wettkampf machen möchte und alles, was wir tun, benotet, wiegt und bewertet. Mit Algorithmen natürlich, denn unsichtbare Algorithmen wiegen schwerer als Argumente, schwerer als ein konkreter Mensch mit einer konkreten Geschichte.
Ein beträchtlicher Teil der um sich greifenden Verunsicherung wurzelt in der Befürchtung, dass man als fehleranfälliger, kranker, alter, für die Ökonomie unproduktiver Mensch aus der öffentlichen Wahrnehmung und Obsorge entfernt werden könnte. Auch wenn europaweit nationalistische Parteien meinen, den verunsicherten Bürgerinnen und Bürgern als Ersatz für den zerrütteten Gemeinsinn die nationale Zugehörigkeit als Domizil anbieten zu können, die Krise reicht tiefer. Sie ist weniger fassbar, aber doch fundamentaler als der Umbruch am Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie zerstört das Gefühl von Zugehörigkeit und Verantwortung, sie verändert das aufgeklärte Menschenbild, sie greift in das genetische Potenzial des Menschen als Beziehungswesen ein, damit er endlich zum ökonomischen Menschen werde, der nach den Kriterien des eigenen Vorteils handelt. Nicht zuletzt könnte die neue Ökonomie nahezu ohne Menschen und ohne Staaten auskommen.
Der lange Atem der Geschichte ist dünn und kaum vernehmbar geworden. Wir hören nicht hin, weil wir der Sprache misstrauen. Vor allem der politischen Sprache, die sich für die Medien herausputzt wie eine Bonboniere. Die Botschaften, die an uns verteilt werden, sind in glänzendes Papier verpackt, aber die Füllung unter der Schokoladeschicht könnte bitter schmecken. Wir wissen es nicht und haben keine Zeit, dorthin zu schauen, wo Sprache und Politik hinzielen, zu den Betroffenen, die gemeint sind und die getroffen werden. Wir haben genug damit zu tun, andere schön verpackte Glückskekse zu öffnen, die sich letztlich als billige Attrappen entpuppen. Wir bemühen uns, der Überredungskunst der Motivationssprache Stand zu halten, die nahezu aus allen Kanälen auf uns niedergeht wie Konfetti. Dafür lassen wir in den sozialen Medien Dampf ab und zeigen, dass wir die Zeichen der Zeit verstanden haben. Wir beherrschen die hohe Kunst der Beleidigung, der Demütigung, der Herablassung, der Täuschung, wir haben die Regeln des Kampfes verinnerlicht und werden persönlich, wenn man uns kritisiert. Es geht uns gut, aber die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm.
Unsere Staaten werden durch digitale Konzerne vor neue, gewaltige Herausforderungen gestellt. Die digitalen Riesen haben uns mit ihren Technologien bereichert, aber auch eine bislang kaum vorstellbare Machtebene in unser Leben eingezogen, die wir nicht kontrollieren und kaum gestalten können. Wir hängen mit unseren Suchbewegungen in den Schlingen, die sie uns ins Netz gelegt haben, und sind dabei, die Kontrolle über unsere Handlungen zu verlieren. Wenn wir unter Zeitdruck zulassen, dass unser Leben und unsere Körper bis zur letzten Faser ökonomisiert werden, wenn wir uns einverstanden erklären, aus unseren Sehnsüchten, Gefühlen und Phantasien einen messbaren Wert, eine Handelsware zu machen, haben wir die Vorstellung von uns als ethisch handelnde, soziale Individuen endgültig aufgegeben.
Das ethisch handelnde Individuum aber ist der Kern, der Angelpunkt jeder Demokratie.
Demokratie ist nicht zuletzt auch die einzige Herrschaftsform, die den Anderen und die Minderheiten mit einbezieht, und wäre als einzige Ordnung imstande, Menschen, die aus anderen Ländern und Traditionen, aus unterschiedlichen Motiven zu uns kommen, einzubinden und zwar als Mitverantwortliche für das Gemeinwesen und die Werte der Demokratie. Nur eine Bindung an das Land und seine demokratischen Werte könnte die vielfältigen Parallelgesellschaften aufbrechen und allen Beteiligten helfen, Konflikte auszutragen und auszuhalten.
Im Hinblick auf flüchtende Menschen, für die das Mittelmeer zur Todeszone geworden ist, im Hinblick auf die Zerstörung unserer Umwelt, angesichts totalitärer Machtphantasien, die durch die technische Entwicklung an Durchsetzungskraft gewinnen, werden die Fragen der Zukunft humaner und ökologischer Natur sein. Wir werden die Menschenrechte und den Frieden gegen das zerstörerische Potenzial der allseitigen Mobilisierung verteidigen müssen. Wir werden uns aus der Enge des Augenblicks, den wir mithilfe der Technik zu einer Ewigkeit aufblasen möchten, lösen, und in die reale Zeit treten. Mit dem scharfen Gehör für den Fall, nach Ingeborg Bachmanns Gedicht, werden wir entzaubert durch Analysen und Zahlen zu unserer wahren, verletzbaren Gestalt kommen.
Der österreichische Maler Oskar Kokoschka hat die Notwendigkeit einer Demokratie mit dem Satz umschrieben: Demokratie muss so sicher führen wie Instinkt. Diesen Instinkt für Demokratie im geeinten Europa wünsche ich uns und der immer noch jungen Republik Österreich zum Geburtstag. (Staatsakt "100 Jahre Republik Österreich" am 12. 11. 2018 in der Wiener Staatsoper).